Paul Austers Vermächtnis
Ein nahezu klassischer Essay über Waffengewalt
von Jörg Auberg
Im Juli 1945, als der Zweite Weltkrieg noch im vollen Gange war, konstatierte der italienische Emigrant Niccoló Tucci in der New Yorker pazifistischen Zeitschrift Politics: »Das Problem ist nicht, wie man den Feind loswird, sondern eher, wie man den letzten Sieger loswird. Denn was ist der Sieger etwas anderes als einer, der gelernt hat, dass Gewalt funktioniert? Wer wird ihm eine Lektion erteilen?«1 In seinem schmalen Essayband Bloodbath Nation, das nach seinem Tod sein politisches Vermächtnis darstellt, hat Paul Auster die historische »Gewaltproblematik« der USA mit ihrem Waffenfetisch thematisiert, die sich spektakulär in Amokläufen und Massenmorden in kürzeren Intervallen immer wieder manifestiert und deren menschenleeren Orte der Fotograf Spencer Ostrander in kargen Schwarzweißbildern festhielt.
Auster hatte nicht den Anspruch, in seinem knappen Essay Richard Slotkins voluminöse Trilogie über die Gewalt und Waffenkultur der US-amerikanischen »frontier« vom 16. Jahrhundert bis in die Reagan-Ära des 20. Jahrhunderts in geraffter Form zu erzählen.2 Er wählte einen persönlichen Ansatz, indem er von seiner Kindheit berichtet, in der die Idealisierung des waffentragenden Cowboys, der mit Waffengewalt die ihn umgebenden Verhältnisse regelte, in die Vorstellungswelt eines Jungen einwanderte – und zwar in erster Linie mittels der Populärkultur in den 1950er Jahren über die Nachmittagsprogramme des Fernsehens, in denen Darsteller wie Al »Fuzzy« St. John oder Al »Lash« LaRue die »infantile Traumwelt der Fernsehcowboys«3 ins Wohnzimmer und in die kindliche Imagination trugen.
Neben dieser allgemeinen kulturellen Prägung kam bei Auster noch die eigene Familiengeschichte ins Spiel: Seine Großmutter Anna Auster erschoss 1919 ihren Mann Harry Auster wegen Geldstreitigkeiten, nachdem ihre Beziehung in die Brüche gegangen war. Aus Rache versuchte ihr Schwager, sie zu erschießen, was jedoch misslang.4 Wegen zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit wurde die Großmutter im Gerichtsverfahren freigesprochen. Das familiäre Trauma zerstörte auch das Leben von Paul Austers Vater, der »vereinsamt und gebrochen« durch sein Leben schlich. In den Augen seines Sohnes war es »die Waffe, die das Leben meines Vater runiert hat«.5 Wie Christine Bold im Times Literary Supplement unterstreicht, erzählte Auster mehrfach in seinen autobiografischen Texten – von The Invention of Solitude (1982) bis zu Winter Journal (2012). In Bloodbath Nation ist es nicht lediglich eine familiäre Episode, sondern eine tiefergehende Erfahrung mit einer durch Waffengewalt geprägte und traumatisierte Familiengeschichte.6
Darüber hinaus richtete Auster seinen Blick von der individuellen Erfahrung auf das gesellschaftliche Ganze: »Warum ist Amerika so anders«, fragte er sich, »– und was macht es zum gewalttätigsten Land der westlichen Welt?«7 In nahezu klassischer Manier verfuhr der immer wieder postmoderner Trickser bezeichnete Autor in seinem Essay im kontemplativen Verweben von individueller und historischer Erfahrung. »Die Beziehung auf Erfahrung – und ihr verleiht der Essay soviel Substanz wie die herkömmliche Theorie den bloßen Kategorien – ist die auf die ganze Geschichte«, konstatierte Theodor W. Adorno; »die bloß individuelle Erfahrung, mit welcher das Bewußtsein als mit dem ihr nächsten anhebt, ist selber vermittelt durch dieübergreifende der historischen Menschheit; daß stattdessen diese mittelbar und das je Eigene das Unmittelbare sei, bloße Selbsttäuschung der individualistischen Gesellschaft und Ideologie.«8
Nach Austers Angaben sind 393 Millionen Schusswaffen im Besitz von US-Bürger*innen, und in einer Kultur der Gewalt, die mittels Ausrottung der ansässigen und nomadenhaften indigenen Völker, Sklaverei und Rassismus, Kapitalismus und Imperialismus die Territorien und die Rohstoffe (inklusive der menschlichen Individuen und Massen) sich einverleibte. Tatsächlich ging es im alten Westen, wie Auster betonte, »wesentlich zivilisierter und friedlicher und sicherer« zu als im aktuellen Amerika, da in den Frontier-Territorien nicht schießwütige Revolverhelden ihr Unwesen trieben, sondern in den Gemeinden aus Selbstschutz klare Waffenkontrollen durchgeführt wurden.9 Gegenwärtig ist Waffenbesitz nicht ein Recht, sondern nahezu eine Bürgerpflicht.10 die Waffengewalt der staatlichen Autoritäten im Kampf gegen Minderheiten rief eine Gegengewalt hervor, mit der Aktivist*innen von Gruppierungen wie Red Power, den Young Lords oder den Black Panthers in den 1970er Jahren in mediengerechter Symbolik mit Waffen in der Öffentlichkeit auftraten, ohne dass dadurch die Gewalt- und Todesspirale durchbrochen wurde. »Die Vereinigten Staaten sind durch Gewalt zustande gekommen«, schloss Auster seinen Essay, »haben aber durch eine Vorgeschichte, hundertachtzig Jahre in ununterbrochenem Krieg mit den Ureinwohnern des Landes, das wir ihnen weggenommen haben, sowie kontinuierliche Unterdrückung unserer versklavten Minderheit – die zwei Sünden, die wir in die Revolutionszeit mitgebracht und für die wir bis heute nicht gebüßt haben.« 11
Schlussendlich hatte Auster kein Programm zur Lösung des grundlegenden Problems: Weder eine restriktive Waffenkontrolle (die vermutlich einen illegalen Waffenhandel befördern würde) noch ein unbeschränkter Zugang zu Schusswaffen würde dem Verhängnis ein Ende bereiten, da die Ursachen in der Geschichte und in der kollektiven Psyche Amerikas vergraben sind. Er lasse die Leser*innen nach der Lektüre des Essays ratlos zurück, lautete der wiederholte Vorwurf der Kritik. »Auster, einer der besten Geschichtenerzähler der englischen Sprache, erweist sich als sachkundiger und aufgeklärter Führer, während er durch die Thematik mäandert«, konzedierte Gary Younge in einer Rezension im Guardian. »Aber sein Versäumnis, ein Ziel zu anzuzeigen, geschweige denn eines zu erreichen, lässt den Leser wie zu Beginn verloren und in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit zurück.«12
Dabei verkennt der Rezensent jedoch das Wesen des Essays: Er »fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will«, insistierte Adorno; »er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria.«13 In seinen Romanen agierte Auster, wie Chris Ward schrieb, als »Autor-Gott«, der Mann, der in seinem literarischen Universum die Fäden zog und im Kosmos des Zufalls die Figuren mit magischen Kunststücken durch die Kulissen schob.14 Trotz allem sind die literarischen Werke keineswegs postmoderne Spielereien, sondern – wie Adriano A. Tedde – in einer kritischen amerikanischen Tradition von Henry David Thoreau und Walt Whitman verwurzelt und halten die utopische Flamme eines »anderen Amerikas« als Gegenbewegung zum historischen Niedergang von »Ronald zu Donald« seit den 1980er Jahren aufrecht.15 Als Essayist musste er sich an die Erkenntnisse des alten Meisters halten: »All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever Failed. No matter.Try again. Fail again. Fail better.«16
© Jörg Auberg 2024
Bibliografische Angaben:
Paul Auster.
Bloodbath Nation.
Mit Fotos von Spencer Ostrander.
Übersetzt von Werner Schmitz.
Hamburg: Rowohlt Verlag, 2024.
192 Seiten, 26 Euro.
ISBN: 978–3‑498–00323‑4.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Bloodbath Nation |
© Rowohlt Verlag |
Filmplakat Law of the Lash |
© Producers Releasing Corporation |
Foto Massengrab in Wounded Knee |
© Northwestern Photo Co., Public domain, via Wikimedia Commons |
Foto Black Panther Demonstration |
© CIR Online, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons |
Foto Paul Auster |
© Siri Hustvedt/Grove Atlantic |
Nachweise
- Niccoló Tucci, »Commonnonsense«, Politics 2, Nr. 7 (Juli 1945):196 ↩
- Cf. Richard Slotkin, Regeneration Through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600–1860 (1973; rpt. Norman: University of Oklahoma Press, 2000); The Fatal Environment: The Myth of the Frontier in the Age of Industrialization, 1800–1890 (1985; rpt. Norman: University of Oklahoma Press, 2000); Gunfighter Nation: The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America (1992; rpt. Norman: University of Oklahoma Press, 1998) ↩
- Paul Auster, Bloodbath Nation, übers. Werner Schmitz (Hamburg: Rowohlt, 2024), S. 10 ↩
- Paul Auster, The Invention of Solitude (London: Faber & Faber, 1992), S. 35–44 ↩
- Auster, Bloodbath Nation, S. 21 ↩
- Christine Bold, »The Gunk, Gore and Horror: Paul Auster Confronts the Hard Facts of US Gun Law«, Times Literary Supplement, 24. März 2023, https://www.the-tls.co.uk/articles/bloodbath-nation-paul-auster-spencer-ostrander-book-review-christine-bold/ ↩
- Auster, Bloodbath Nation, S. 21 ↩
- Theodor W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 18 ↩
- Auster, Bloodbath Nation, S. 83 ↩
- Auster, Bloodbath Nation, S. 70 ↩
- Auster, Bloodbath Nation, S. 159 ↩
- Gary Younge, »US Gun Violence Under the Microscope«, Guardian, 11. Januar 2023, https://www.theguardian.com/books/2023/jan/11/bloodbath-nation-by-paul-auster-review-a-response-to-the-us-gun-crisis ↩
- Adorno, »Der Essay als Form«, S. 10 ↩
- Chris Ward, Reading Paul Auster (o. O.: Wisdom Twin Books, 2023), S. 33 ↩
- Adriano A. Tedde, Marginalisation and Utopia in Paul Auster, Jim Jarmusch and Tom Waits: The Other America (London: Routledge, 2022) ↩
- Samuel Beckett, Nohow On (London: John Calder, 1992), S. 101 ↩