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Thomas Pynchon: Sterblichkeit und Erbarmen in Wien

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Seit Jahr­zehn­ten grü­beln Pyn­cho­no­lo­gen dar­über, war­um Tho­mas Pyn­chon die Kurz­ge­schich­te »Mor­ta­li­ty and Mer­cy in Vien­na«, die er er 22-jäh­ri­ger Stu­dent im Früh­jahr 1959 im Stu­den­ten­ma­ga­zin Epoch der Cor­nell Uni­ver­si­ty ver­öf­fent­lich­te, nie­mals für eine Repu­bli­ka­ti­on in Betracht zog. Für den im Jah­re 1984 her­aus­ge­ge­be­nen Band Slow Lear­ner (dt. Spät­zün­der, 1985), der Pyn­chons frü­he Erzäh­lun­gen ent­hielt, kam er nicht in Betracht. In der Ein­lei­tung zu der Samm­lung schrieb Pyn­chon: »As near­ly as I can remem­ber, the­se sto­ries were writ­ten bet­ween 1958 and 1964.« Wäh­rend in der eng­lisch­spra­chi­gen Aus­ga­be der Autor vom Pas­si­vum Gebrauch macht, behaup­tet der Autor in der deut­schen Aus­ga­be: »Soweit ich mich irgend erin­nern kann, schrieb ich die­se Erzäh­lun­gen zwi­schen 1958 und ’64.«

Thomas Pynchon: V. (Rowohlt, 1976)
Tho­mas Pyn­chon: V. (Rowohlt, 1976)

Die Erzäh­lung kom­bi­niert Ele­men­te, die Pyn­chon in die Roma­ne sei­nes Früh­werks inte­griert: Par­ty­sze­nen, Remi­nis­zen­zen an sei­ne Col­lege­zeit, eth­ni­sche Ste­reo­ty­pen und Anleh­nun­gen an das Gen­re des Spio­na­ge­ro­mans. Der Diplo­mat Sie­gel kehrt nach einem Auf­ent­halt im Aus­land nach Washing­ton zurück und gerät als frü­her Gast auf eine Par­ty, in deren Ver­lauf ihm der Gast­ge­ber Lupes­cu sei­ne Rol­le auf­nö­tigt, nach­dem er einen Schwei­ne­fö­tus an den Tür­rah­men gena­gelt hat. Die Par­ty endet im Blut­bad, als der Ojib­wa Irving Loon mit einem Maschi­nen­ge­wehr die Par­ty­gäs­te nie­der­met­zelt. Im Titel spiel­te der Nabo­kov-Stu­dent Pyn­chon auf Shake­speares Stück Maß für Maß (Mea­su­re for Mea­su­re) an, wobei in neue­ren Über­set­zun­gen »Mor­ta­li­ty and Mer­cy« mit »Todes­stra­fe und Begna­di­gung« über­tra­gen wer­den. Mög­li­cher­wei­se war die effekt­ha­sche­ri­sche, mit ras­sis­ti­schen Unter­tö­nen behaf­te­te und auch ama­teur­haf­te Erzäh­lung aus den Kata­kom­ben post­mo­der­ner Schreib­ver­su­che im Rah­men der »Crea­ti­ve Writing«-Seminare dafür ver­ant­wort­lich, dass Pyn­chon die­se frü­he Erzäh­lung nicht in den spä­te­ren Pyn­chon-Kanon auf­neh­men woll­te und sie lie­ber der Ver­ges­sen­heit überantwortete.

Thomas Pynchon, Sex, and Gender (University of Georgia Press, 2018)
Tho­mas Pyn­chon, Sex, and Gen­der (Uni­ver­si­ty of Geor­gia Press, 2018)

Wie Mol­ly Hite in ihrem Essay »When Pyn­chon was a Boys’ Club« schrieb, war der stu­den­ti­sche Autor von »Mor­ta­li­ty and Mer­cy in Vien­na« ein manch­mal unfer­ti­ger. hie und da prä­ten­siö­ser, zuwei­len enga­gier­ter jun­ger Mann mit »frat boy«-Allüren. Die Par­ty-Gesell­schaft in sei­ner frü­hen Erzäh­lung nahm die »Who­le Sick Crew« als Vor­bo­ten einer post­mo­der­nen, apo­li­ti­schen Gegen­kul­tur (wie sie Pyn­chon 1963 in sei­nem Erst­lings­ro­man V. beschrieb) vor­weg. In einer Kri­tik für die New York Review of Books beschei­nig­te Richard Poi­rier dem jun­gen Autor eine schrift­stel­le­ri­sche Rei­fe, mit der er die »beharr­li­che Gro­tes­ke« der gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät von urba­nen Bohe­mi­ens dar­stel­le. Zugleich aber ver­harr­te Pyn­chon in den »Gender«-Grenzen einer männ­lich-weiß domi­nier­ten Gegen­kul­tur, in der Eth­ni­zi­tät und Homo­se­xua­li­tät Mys­te­ri­en einer ande­ren Rea­li­tät blieben.

 
 
 
 

© Jörg Auberg 2022 (2022–12-10)

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

Thomas Pynchon: Sterblichkeit und Erbarmen in Wien (Jung und Jung, 2022)
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Ver­öf­fent­licht: 2022-09-22
     

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