Seit Jahrzehnten grübeln Pynchonologen darüber, warum Thomas Pynchon die Kurzgeschichte »Mortality and Mercy in Vienna«, die er er 22-jähriger Student im Frühjahr 1959 im Studentenmagazin Epoch der Cornell University veröffentlichte, niemals für eine Republikation in Betracht zog. Für den im Jahre 1984 herausgegebenen Band Slow Learner (dt. Spätzünder, 1985), der Pynchons frühe Erzählungen enthielt, kam er nicht in Betracht. In der Einleitung zu der Sammlung schrieb Pynchon: »As nearly as I can remember, these stories were written between 1958 and 1964.« Während in der englischsprachigen Ausgabe der Autor vom Passivum Gebrauch macht, behauptet der Autor in der deutschen Ausgabe: »Soweit ich mich irgend erinnern kann, schrieb ich diese Erzählungen zwischen 1958 und ’64.«
Die Erzählung kombiniert Elemente, die Pynchon in die Romane seines Frühwerks integriert: Partyszenen, Reminiszenzen an seine Collegezeit, ethnische Stereotypen und Anlehnungen an das Genre des Spionageromans. Der Diplomat Siegel kehrt nach einem Aufenthalt im Ausland nach Washington zurück und gerät als früher Gast auf eine Party, in deren Verlauf ihm der Gastgeber Lupescu seine Rolle aufnötigt, nachdem er einen Schweinefötus an den Türrahmen genagelt hat. Die Party endet im Blutbad, als der Ojibwa Irving Loon mit einem Maschinengewehr die Partygäste niedermetzelt. Im Titel spielte der Nabokov-Student Pynchon auf Shakespeares Stück Maß für Maß (Measure for Measure) an, wobei in neueren Übersetzungen »Mortality and Mercy« mit »Todesstrafe und Begnadigung« übertragen werden. Möglicherweise war die effekthascherische, mit rassistischen Untertönen behaftete und auch amateurhafte Erzählung aus den Katakomben postmoderner Schreibversuche im Rahmen der »Creative Writing«-Seminare dafür verantwortlich, dass Pynchon diese frühe Erzählung nicht in den späteren Pynchon-Kanon aufnehmen wollte und sie lieber der Vergessenheit überantwortete.
Wie Molly Hite in ihrem Essay »When Pynchon was a Boys’ Club« schrieb, war der studentische Autor von »Mortality and Mercy in Vienna« ein manchmal unfertiger. hie und da prätensiöser, zuweilen engagierter junger Mann mit »frat boy«-Allüren. Die Party-Gesellschaft in seiner frühen Erzählung nahm die »Whole Sick Crew« als Vorboten einer postmodernen, apolitischen Gegenkultur (wie sie Pynchon 1963 in seinem Erstlingsroman V. beschrieb) vorweg. In einer Kritik für die New York Review of Books bescheinigte Richard Poirier dem jungen Autor eine schriftstellerische Reife, mit der er die »beharrliche Groteske« der gesellschaftlichen Realität von urbanen Bohemiens darstelle. Zugleich aber verharrte Pynchon in den »Gender«-Grenzen einer männlich-weiß dominierten Gegenkultur, in der Ethnizität und Homosexualität Mysterien einer anderen Realität blieben.
© Jörg Auberg 2022 (2022–12-10)