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Mordecai Richler: Cocksure

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Mythos der Dekonstruktion

 von Jörg Auberg

Im Zen­trum von Mor­de­cai Rich­lers Roman Cocks­u­re agiert Mor­ti­mer Lucas Grif­fin, ein WASP aus der kana­di­schen Pro­vinz, der im ange­se­he­nen Lon­do­ner Ver­lag Orio­le Press als Lek­tor Kar­rie­re gemacht hat und sich in sei­ner bür­ger­li­chen Exis­tenz ein­ge­rich­tet hat, als die äuße­ren Ereig­nis­se der „Swin­ging Six­ties“ über ihn her­ein­stür­zen und sei­ne vor­der­grün­di­gen Gewiss­hei­ten erschüt­tern. Im Milieu des links­li­be­ra­len Intel­lek­tu­el­len und Ange­stell­ten der Kul­tur­in­dus­trie wird die vor­geb­li­che sexu­el­le Befrei­ung als Stress pro­du­zie­ren­der Aktio­nis­mus umge­setzt, in des­sen Ver­lauf die Eman­zi­pa­ti­on in einen neu­en Kon­for­mis­mus mün­det. Die Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung der über­kom­me­nen Herr­schaft läuft auf eine tota­le „Ent­zau­be­rung“ des All­tags hin­aus. Grif­fins Sohn Dou­glas kann nach einem Alb­traum nicht im Bett sei­ner Mut­ter Joy­ce unter­schlüp­fen, ohne von ihr vor­ge­hal­ten zu bekom­men, er habe Fan­ta­sien vom Geschlechts­ver­kehr mit sei­ner Mut­ter und sol­le zu sei­nen heim­li­chen Absich­ten ste­hen. Rich­ler treibt die Absur­di­tä­ten der Befrei­ung aus der sexu­el­len Ver­klemmt­heit in neue For­men der sexu­el­len Herr­schaft auf die Spit­ze: In der Schu­le wird als Weih­nachts­stück Mar­quis de Sades Phi­lo­so­phie im Bou­doir auf­ge­führt, und eine Leh­re­rin will den Leis­tungs­wil­len ihrer Schü­ler damit beför­dern, dass sie den Klas­sen­bes­ten „einen bläst“. Die vor­geb­li­che Befrei­ung endet schließ­lich in der Zer­stö­rung der Kind­heit, in der ein Kind nicht mehr Kind sein darf. Die sexu­el­le Eman­zi­pa­ti­on führt in ihrer per­ver­tier­ten Form zur Herr­schaft einer omni­prä­sen­ten Sexua­li­tät in jedem Bereich.

Geha­be als Gruppenritual

Mordecai Richler: Cocksure (München: Liebeskind, 2008)
Mor­de­cai Rich­ler: Cocks­u­re (Mün­chen: Lie­bes­kind, 2008)

Je mehr Sexua­li­tät instru­men­ta­li­siert wird, des­to mehr gerät die Welt Mor­ti­mers – nicht zuletzt auf­grund eines aus sei­nem zu kurz gera­te­nen männ­li­chen Glie­des rüh­ren­den Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xes – zuneh­mend aus den Fugen. Wäh­rend sei­ne von einer Hygie­nen­eu­ro­se und poli­ti­scher Kor­rekt­heit heim­ge­such­te Frau ihre Befrei­ung in einer Bezie­hung mit Mor­ti­mers Freund Zig­gy Spi­ce­hand­ler, einem als Non­kon­for­mist auf­trump­fen­den Avant­gar­de-Fil­me­ma­cher, sucht, ver­liert Mor­ti­mer pri­vat und beruf­lich den Boden unter den Füßen. Ein ame­ri­ka­ni­scher Medi­en-Tycoon namens Star Maker über­nimmt in einem Cross-Media-Ven­ture den Ver­lag, lässt ihn aus­ge­rech­net durch ein Frank­fur­ter „Effi­zi­enz­team“ auf Vor­der­mann brin­gen und führt ein öko­no­mi­sches und sozia­les Stream­li­ning ein: „Der Star Maker kann Kran­ke unter sei­nen Leu­ten nicht dul­den“, lässt er sei­nen Statt­hal­ter vor Ort ver­kün­den. Der Star Maker agiert nicht allein als Dok­tor Fran­ken­stein der Kul­tur­in­dus­trie, der Stars wie vir­tu­el­le Mons­ter aus dem „Second Life“ indus­tri­ell erstel­len lässt, son­dern ver­sorgt sich als omni­vo­rer Glo­bal­ka­pi­ta­list aus dem Human-Resour­ces-Park sei­ner Mit­ar­bei­ter, bis er die Selbst­be­fruch­tung als wahn­haf­te Wei­ter­ent­wick­lung sei­nes bizar­ren Sys­tems entdeckt.





Zwei­fels­oh­ne kamen Rich­ler beim Schrei­ben die­ser aber­wit­zi­gen Sati­re sei­ne Erfah­run­gen als Autor für diver­se Film- und Fern­seh­pro­duk­tio­nen in der Lon­do­ner Medi­en­in­dus­trie zugu­te, mit denen er den Lebens­un­ter­halt für sich und sei­ne sechs­köp­fi­ge Fami­lie in den spä­ten 1960er-Jah­ren bestritt. Warf ihm die Autorin Mari­an Engel in der „New York Times“ 1968 vor, „Mor­die“ sei zu sehr ins Lon­do­ner „Show­biz“ ver­strickt, um mehr als an der Ober­flä­che zu krat­zen und Stoff für die Sati­re­bei­la­ge am Wochen­en­de zu lie­fern, hat aus heu­ti­ger Sicht die Sati­re Rich­lers auf den kul­tur­in­dus­tri­el­len Betrieb noch immer Bestand. Bei­spiels­wei­se führt Rich­ler die Früh­form des Vul­gär-Fern­se­hens plas­tisch vor Augen, wenn Dig­by Jones, der „Gast­ge­ber“ der TV-Sen­dung „Insult“, sei­ne „Gäs­te“ als Opfer vor­führt, wäh­rend die­se sich gleich­zei­tig in einem Akt der Selbst­ent­blö­ßung vor dem joh­len­den Publi­kum zur Schau stel­len. Wäh­rend die Sati­re auf den „Radi­cal Chic“ der 1960er-Jah­re heu­te etwas anti­quiert anmu­tet (da der Freak von damals längst zum Inven­tar­stück der Kul­tur­ge­schich­te mutier­te), ist Rich­lers inhä­ren­te Kri­tik der glo­bal agie­ren­den Kul­tur­in­dus­trie, die er oft mit­tels fil­mi­scher Tech­ni­ken (wie Mon­ta­ge, „hard cuts“ oder Über­blen­dun­gen) demas­kiert, nach wie vor aktu­ell und erhellend.

Lächer­lich­keit und Unschuld

Ande­rer­seits merkt man dem Roman an, dass er sei­nen Ursprung in der Kurz­ge­schich­te Grif­fin, Shalin­sky, and How They Sett­led the Jewish Ques­ti­on hat­te, die 1958 in der Zeit­schrift „Tama­rack Review“ erschien. Neben­bei hält Grif­fin Vor­trä­ge über Lite­ra­tur und gerät zuneh­mend in den Ver­dacht, trotz sei­nes pro­tes­tan­ti­schen Hin­ter­grunds ein „jüdi­scher Anti­se­mit“ zu sein, wie der Her­aus­ge­ber der Zeit­schrift „Jewish Thought“, Jacob Shalin­sky, mut­maßt. All­mäh­lich wird Mor­ti­mer zum Paria, zum „Adolf Eich­mann der Ver­lags­bran­che“, wie er selbst­iro­nisch bemerkt. Dar­aus rührt der inkon­sis­ten­te Cha­rak­ter der Haupt­fi­gur her: Einer­seits dient sie dazu, die Abson­der­lich­kei­ten der Lon­do­ner „Swin­ging Six­ties“ vor­zu­füh­ren, und sie wird wie ein lächer­li­cher Mann vor­ge­führt; ande­rer­seits ist Mor­ti­mer ein unschul­di­ges Medi­um, um die Machen­schaf­ten eines glo­bal agie­ren­den Unter­neh­mens zu ent­lar­ven, das vor Ver­bre­chen nicht zurück­schreckt, um den Gene­ral­stab in Per­son des Star Makers zu befriedigen.





Die intel­lek­tu­el­le Viel­schich­tig­keit, die Rich­ler spä­ter in sei­nem Meis­ter­werk Wie Bar­ney es sieht (1997) erreich­te, hat Cocks­u­re noch nicht. Trotz allem ist der Roman – über sei­ne momen­ta­ne Aktua­li­tät der Fei­ern zum „Vier­zig­jäh­ri­gen“ der „Acht­und­sech­zi­ger“ hin­aus – ein wich­ti­ger Bei­trag zum Ver­ständ­nis die­ser Epo­che und weit mehr als „bes­ser­wis­se­ri­sches Zeug“, wie die Rezen­sen­tin der „New York Times“ zu ent­de­cken glaub­te. Es bleibt zu hof­fen, dass wei­te­re Bücher von Mor­de­cai Rich­ler – nach sei­ner spä­ten Ent­de­ckung hier­zu­lan­de – die eins­ti­gen Import­schran­ken überwinden.


Bibliografische Angaben:

Mor­de­cai Richler.
Cocks­u­re.
Aus dem Eng­li­schen von Sil­via Morawetz
Mün­chen: Lie­bes­kind, 2008.
256 Sei­ten, 19,80 Euro.

Zuerst erschie­nen in:  Titel-Maga­zin (02.06.2008)

© Jörg Auberg

 

 
 
 

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Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher