Mythos der Dekonstruktion
von Jörg Auberg
Im Zentrum von Mordecai Richlers Roman Cocksure agiert Mortimer Lucas Griffin, ein WASP aus der kanadischen Provinz, der im angesehenen Londoner Verlag Oriole Press als Lektor Karriere gemacht hat und sich in seiner bürgerlichen Existenz eingerichtet hat, als die äußeren Ereignisse der „Swinging Sixties“ über ihn hereinstürzen und seine vordergründigen Gewissheiten erschüttern. Im Milieu des linksliberalen Intellektuellen und Angestellten der Kulturindustrie wird die vorgebliche sexuelle Befreiung als Stress produzierender Aktionismus umgesetzt, in dessen Verlauf die Emanzipation in einen neuen Konformismus mündet. Die Entmythologisierung der überkommenen Herrschaft läuft auf eine totale „Entzauberung“ des Alltags hinaus. Griffins Sohn Douglas kann nach einem Albtraum nicht im Bett seiner Mutter Joyce unterschlüpfen, ohne von ihr vorgehalten zu bekommen, er habe Fantasien vom Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter und solle zu seinen heimlichen Absichten stehen. Richler treibt die Absurditäten der Befreiung aus der sexuellen Verklemmtheit in neue Formen der sexuellen Herrschaft auf die Spitze: In der Schule wird als Weihnachtsstück Marquis de Sades Philosophie im Boudoir aufgeführt, und eine Lehrerin will den Leistungswillen ihrer Schüler damit befördern, dass sie den Klassenbesten „einen bläst“. Die vorgebliche Befreiung endet schließlich in der Zerstörung der Kindheit, in der ein Kind nicht mehr Kind sein darf. Die sexuelle Emanzipation führt in ihrer pervertierten Form zur Herrschaft einer omnipräsenten Sexualität in jedem Bereich.
Gehabe als Gruppenritual
Je mehr Sexualität instrumentalisiert wird, desto mehr gerät die Welt Mortimers – nicht zuletzt aufgrund eines aus seinem zu kurz geratenen männlichen Gliedes rührenden Minderwertigkeitskomplexes – zunehmend aus den Fugen. Während seine von einer Hygieneneurose und politischer Korrektheit heimgesuchte Frau ihre Befreiung in einer Beziehung mit Mortimers Freund Ziggy Spicehandler, einem als Nonkonformist auftrumpfenden Avantgarde-Filmemacher, sucht, verliert Mortimer privat und beruflich den Boden unter den Füßen. Ein amerikanischer Medien-Tycoon namens Star Maker übernimmt in einem Cross-Media-Venture den Verlag, lässt ihn ausgerechnet durch ein Frankfurter „Effizienzteam“ auf Vordermann bringen und führt ein ökonomisches und soziales Streamlining ein: „Der Star Maker kann Kranke unter seinen Leuten nicht dulden“, lässt er seinen Statthalter vor Ort verkünden. Der Star Maker agiert nicht allein als Doktor Frankenstein der Kulturindustrie, der Stars wie virtuelle Monster aus dem „Second Life“ industriell erstellen lässt, sondern versorgt sich als omnivorer Globalkapitalist aus dem Human-Resources-Park seiner Mitarbeiter, bis er die Selbstbefruchtung als wahnhafte Weiterentwicklung seines bizarren Systems entdeckt.
Zweifelsohne kamen Richler beim Schreiben dieser aberwitzigen Satire seine Erfahrungen als Autor für diverse Film- und Fernsehproduktionen in der Londoner Medienindustrie zugute, mit denen er den Lebensunterhalt für sich und seine sechsköpfige Familie in den späten 1960er-Jahren bestritt. Warf ihm die Autorin Marian Engel in der „New York Times“ 1968 vor, „Mordie“ sei zu sehr ins Londoner „Showbiz“ verstrickt, um mehr als an der Oberfläche zu kratzen und Stoff für die Satirebeilage am Wochenende zu liefern, hat aus heutiger Sicht die Satire Richlers auf den kulturindustriellen Betrieb noch immer Bestand. Beispielsweise führt Richler die Frühform des Vulgär-Fernsehens plastisch vor Augen, wenn Digby Jones, der „Gastgeber“ der TV-Sendung „Insult“, seine „Gäste“ als Opfer vorführt, während diese sich gleichzeitig in einem Akt der Selbstentblößung vor dem johlenden Publikum zur Schau stellen. Während die Satire auf den „Radical Chic“ der 1960er-Jahre heute etwas antiquiert anmutet (da der Freak von damals längst zum Inventarstück der Kulturgeschichte mutierte), ist Richlers inhärente Kritik der global agierenden Kulturindustrie, die er oft mittels filmischer Techniken (wie Montage, „hard cuts“ oder Überblendungen) demaskiert, nach wie vor aktuell und erhellend.
Lächerlichkeit und Unschuld
Andererseits merkt man dem Roman an, dass er seinen Ursprung in der Kurzgeschichte Griffin, Shalinsky, and How They Settled the Jewish Question hatte, die 1958 in der Zeitschrift „Tamarack Review“ erschien. Nebenbei hält Griffin Vorträge über Literatur und gerät zunehmend in den Verdacht, trotz seines protestantischen Hintergrunds ein „jüdischer Antisemit“ zu sein, wie der Herausgeber der Zeitschrift „Jewish Thought“, Jacob Shalinsky, mutmaßt. Allmählich wird Mortimer zum Paria, zum „Adolf Eichmann der Verlagsbranche“, wie er selbstironisch bemerkt. Daraus rührt der inkonsistente Charakter der Hauptfigur her: Einerseits dient sie dazu, die Absonderlichkeiten der Londoner „Swinging Sixties“ vorzuführen, und sie wird wie ein lächerlicher Mann vorgeführt; andererseits ist Mortimer ein unschuldiges Medium, um die Machenschaften eines global agierenden Unternehmens zu entlarven, das vor Verbrechen nicht zurückschreckt, um den Generalstab in Person des Star Makers zu befriedigen.
Die intellektuelle Vielschichtigkeit, die Richler später in seinem Meisterwerk Wie Barney es sieht (1997) erreichte, hat Cocksure noch nicht. Trotz allem ist der Roman – über seine momentane Aktualität der Feiern zum „Vierzigjährigen“ der „Achtundsechziger“ hinaus – ein wichtiger Beitrag zum Verständnis dieser Epoche und weit mehr als „besserwisserisches Zeug“, wie die Rezensentin der „New York Times“ zu entdecken glaubte. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Bücher von Mordecai Richler – nach seiner späten Entdeckung hierzulande – die einstigen Importschranken überwinden.
Bibliografische Angaben:
Mordecai Richler.
Cocksure.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
München: Liebeskind, 2008.
256 Seiten, 19,80 Euro.
Zuerst erschienen in: Titel-Magazin (02.06.2008)
© Jörg Auberg