Die Sehnsucht nach dem Reiter
In seinem vielschichtigen Roman „St. Urbain’s Horseman“ verknüpft Mordecai Richler Vergangenheit und Gegenwart eines kanadisch-jüdischen Filmregisseurs im Milieu der Londoner „Swinging Sixties“ zu einem komplexen Zeit-Porträt.
von Jörg Auberg
Am Ende seines Lebens galt Mordecai Richler nicht nur als einer der bedeutendsten kanadischen Erzähler, sondern auch als grimmiger alter Mann der kanadischen Literatur. Als sein Roman „Barney’s Version“ in den späten 1990er Jahren unvermutet zum Bestseller in Italien wurde, setzte sich der Begriff „Richleriano“ als Synonym für „politisch unkorrekt“ durch. Auch wenn er sich als bissiger Kommentator der politischen Zustände in Kanada oder des kulturellen Zeitgeistes eine berüchtigte Reputation erarbeitete, grub er sich mit seiner schriftstellerischen Arbeit in die Geschichte der zeitgenössischen Literatur ein.
In der St. Urbain Street im jüdischen ertel Montreals als Sohn eines Schrotthändlers aufgewachsen, versuchte Richler früh sowohl der orthodoxen Vergangenheit seiner Herkunft als auch dem verbohrten Provinzialismus Kanadas zu entfliehen, indem er als Neunzehnjähriger nach Europa aufbrach, um in der Tradition Hemingways und Morley Callaghans sich als expatriierten Existenzialisten zu entwerfen, wobei die eigene Existenz als Schriftsteller, der er in Paris und London nachging, zunächst nicht mehr als eine schäbige Kopie der Vorbilder blieb. Es dauerte einige Jahre und einige Bücher, bis er zu seinem eigenen Thema und seiner eigenen Stimme fand. „Gleichgültig, wie lange ich im Ausland lebe“, sagte er später einsichtig, „fühle ich mich für immer in der St. Urbain Street Montreals verwurzelt. Das war meine Zeit, mein Ort, und ich habe mich entschieden, es richtig zu machen.“ Während Richlers Debütroman „The Acrobats“ (1954) noch – wie Richler in einem Interview zugab – nicht mehr als eine Nachahmung von Malraux, Sartre und Hemingway war, gelang ihm mit seinem vierten Roman „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ (1959) der Durchbruch – auch in künstlerischer und intellektueller Hinsicht, da er nicht mehr die großen Vorbilder imitierte, sondern der eigenen Geschichte eine markante Stimme verlieh. Duddy Kravitz, der ehrgeizige Sohn eines Montrealer Taxifahrers, setzt alles daran, aus dem Milieu der jüdischen Immigranten aufzusteigen, und bezahlt für seinen skrupellosen Aufstieg einen hohen Preis. Oft mit Budd Schulbergs Aufsteigerroman „Was treibt Sammy an?“ (1941) verglichen, ging Richlers Roman über die Oberflächlichkeit von Schulbergs eindimensionalem Insider-Outsider-Chiaroscuro weit hinaus und zeichnete mit Duddy Kravitz eine komplexe, nicht auf den Charakter des ruchlosen Parvenüs reduzierte Figur, die trotz all ihrer negativen Eigenschaften auch Sympathie mobilisieren kann.
Bereits im Duddy-Kravitz-Roman tauchte Jacob Hersh als ambitiöse Nebenfigur auf, die ein Gegenbild zu Duddys materialistischer Einstellung darstellt. Jake wollte Schriftsteller werden. „Mit Schreiben macht man keine Karriere“, weist er Kravitz zurecht. „Das ist eine Berufung. Ich bin nicht auf Geld aus.“ Auch Richler machte sein Geld in den 1960ern nicht mit der Schriftstellerei, sondern reüssierte im London der Swinging Sixties als Drehbuchautor für Film- und Fernsehproduktionen, und mühte sich über Jahre mit einem Romanprojekt, das an „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ anknüpfen sollte und Richler als „Duddy Zwei“ bezeichnete. Während er die überdrehte Satire „Cocksure“ (1968) aus dem Londoner Kultur- und Medienmilieu innerhalb von neun Monaten schrieb, zog sich die neuerliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit das ganze Jahrzehnt hin und erschien 1971 unter dem Titel „St. Urbain’s Horseman“.
Zu Beginn der 1960er Jahre hat es Jake Hersh zum anerkannten, wenn auch nicht übermäßig künstlerisch ambitionierten Filmregisseur in London gebracht und verbringt mit Frau und Kindern ein mehr oder minder unbeschwertes Leben, ehe ein Skandal seine Existenz zu vernichten droht. Zusammen mit dem Hochstapler Harry Stein wird er beschuldigt, ein deutsches Au-pair-Mädchen sexuell genötigt und vergewaltigt zu haben. Tatsächlich beruhte dieser Vorfall auf einer realen Geschichte: Der kanadische Regisseur Silvio Narizzano und sein Bekannter Benjamin Franklin Levene – ein Marinedeserteur, der mit Bombenattrappen Erpressungsversuche begangen hatte – wurden der Vergewaltigung eines schwedischen Au-pair-Mädchens angeklagt, wobei der Regisseur mit einer Bewährungsstrafe davonkam, während Levene für sieben Jahre ins Gefängnis gehen musste.
Diese Episode bettet Richler in seinem Roman in die geschichtliche Zeit ein, in die Zeit des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, der Suche nach Josef Mengele und des Sechstagekrieges. Indem Richler aus dem schwedischen ein deutsches Au-pair-Mädchen namens Ingrid machte, thematisierte er die kollektive Geschichte des jüdischen Aufsteigers Jake Hersh und des jüdischen Opfers Harry Stein, der eine Kompensation für das eigene Zukurzgekommensein sucht und in Hersh jemanden findet, dessen schlechtes Gewissen ihn für die Rache und das Ressentiment des Underdogs prädestiniert. Zwar mimt Ingrid das unschuldige Mädchen, ist jedoch vom Antisemitismus durchdrungen und projiziert auf „den Juden“, der in ihrer Gedankenwelt nur als Stereotype existiert, ausschließlich negative Eigenschaften. „Sie sind so nett“, sagt sie, nachdem Jake sich als Jude zu erkennen gibt, „ich hätte es nie gedacht.“ Ihre vorgespielte Unschuld entlarvt sich im Dreck der Vergangenheit.
Auf einer anderen Ebene agiert Jakes Cousin Joey, der als Abenteurer, Baseball-Star, Country-and-Western-Sänger, Gangster, Spanienheld, zionistischer Kämpfer und Nazijäger durch die Fantasiegebilde Jakes stürmt und zum idealistischen, unsterblichen Mythos gerinnt, der selbst die eigene Todesnachricht überlebt. Für Jake bleibt die Sehnsucht nach der Rückkehr des glorreichen Helden, der der stromlinienförmigen Biografie des Angestellten der Medienindustrie, der über keine herausragenden Talente verfügt, einen Touch des Unbotmäßigen verleiht, auch wenn Jake stets nur mit seinem Cousin verwechselt wird, ohne in dessen Spuren treten zu können. Joey ist der Reiter. „Sobald ein Jude auf einem Pferd sitzt, hört er auf, Jude zu sein“, zitiert Richler Isaak Babel. Während Joey stets unterwegs oder auf der Flucht ist, kehrt Jake immer wieder zurück: in die St. Urbain Street, in der sein Vater stirbt und seine Verwandtschaft die alten Ressentiments ausleben oder in die Londoner Metropole, wo ihm Harry Stein auflauert und mit ins Verderben zieht. Auch wenn er am Ende den Hals aus der Schlinge ziehen kann, verharrt er in eine tristen Existenz im goldenen Käfig. Aus dem Chaos der Zeit ragt idealisiert Jakes Frau Nancy heraus, die den Skandal als auch die Heimsuchung der Schwiegermutter nahezu stoisch erträgt. Letztlich übersteht Jake an ihrer Seite den Alptraum und kann in einen tiefen Schlaf fallen.
Unter dem Titel „Der Traum des Jakob Hersch“ erschien der Roman erstmals 1980 im Kindler-Verlag und wurde nun von der Verlagsbuchhandlung Liebeskind, die schon „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ und „Cocksure“ in neuen Übersetzungen von Silvia Morawetz herausbrachte, neu aufgelegt. Allerdings sind nicht nur der Titel und die Eindeutschung des Namens des Protagonisten etwas fragwürdig. Auch Gisela Steges Übersetzung leidet unter der „Ästhetik des deutschen Schulaufsatzes“ (wie Walter Boehlich es einmal nannte). Die „verdrießliche Variationsfreundlichkeit“ transferiert das schlichte Verb „said“ in „polterte“, „klagte“, „erwiderte“ oder „erklärte“ und ebnet den nordamerikanischen lakonischen Stil (der auch Wiederholungen beinhaltet) in die deutsche Sprachlandschaft ein. Trotz allem aber ist Liebeskind zu danken, dass sich dieser Verlag des hierzulande lange vernachlässigten Autors Mordecai Richler angenommen hat und seine Bücher aufs Neue zugänglich macht.
Bibliografische Angaben:
Mordecai Richler: Der Traum des Jakob Hersch (St. Urbain’s Horseman, 1971). Übersetzt von Gisela Stege. München: Liebeskind, 2009), 587 Seiten, 24,80 Euro.
Zuerst erschienen in: satt.org (August 2009)
© Jörg Auberg