Im Kerker der Vergangenheit
In seinem Roman »Joshua damals und jetzt« verfängt sich Mordecai Richler im neokonservativen Zeitgeist der späten 1970er Jahre und wartet mit einem unterhaltenden, aber abgestandenen Aufguss früherer Romane auf.
von Jörg Auberg
Mordecai Richler wuchs im Territorium der kanadischen Dominions auf, der selbständig verwalteten Länder des britischen Commonwealth, die W. H. Auden einmal mit dem deutschen Begriff der »tiefsten Provinz« charakterisierte. Nach Meinung des englischen Dichters war es ein totes Land, in dem keine Kunst geschaffen wurde und Menschen beheimatet waren, mit denen er nichts gemein hatte.1 Im Januar 1931 in Montreal als Nachkomme jüdischer Emigranten aus Osteuropa geboren, wuchs Richler in einer Provinz in der Provinz auf, in einer abgeschotteten Welt der jüdischen Orthodoxie und Parochialität, aus der er sich nur mühsam befreite. Vom vorgezeichneten Weg, Rabbi zu werden, kam er rasch ab und begehrte gegen die Engstirnigkeit in seiner jüdischen Welt auf. Zwar entfernte er sich schon als jugendlicher Rebell vom jüdischen »Getto«, doch zugleich näherte er sich ihm, wie er in einem kanadischen Dokumentarfilm später sagte. Sein Heimatviertel um St. Urbain wurde zu seinem Territorium, das er in seinen Romanen, Erzählungen und Essays erkundete und in eine literarische Landschaft verwandelte, die ausschließlich in den Richler-Texten existierte .2
Als ein »junger zorniger Mann« kehrte Richler in den 1950er Jahren Kanada den Rücken und versuchte, sich in Europa als Schriftsteller zu etablieren. Seine ersten Romanversuche The Acrobats (1954; dt. Die Akrobaten) und A Choice of Enemies (1957; dt. Der Boden trägt nicht mehr) kamen über die epigonenhafte Instrumentierung von Zeitgeistautoren der »traditionellen Moderne« wie Ernest Hemingway, John Dos Passos und Albert Camus nicht hinaus. Aber bereits in den frühem Roman Son of a Smaller Hero (1955; dt. Sohn eines kleineren Helden), auch wenn er nicht mehr als eine Fingerübung ist, umriss Richler sein zukünftiges Thema: Sein Protagonist Noah Adler wächst im jüdischen Viertel von Montreal auf und rebelliert gegen die engen kulturellen und gesellschaftlichen Grenzen seines Milieus. Doch erst mit seinem Roman The Apprenticeship of Duddy Kravitz (1959; Die Lehrjahre des Duddy Kravitz) erschrieb sich Richler seine Stimme, die in ihrem Timbre zwischen Nostalgie und Satire virtuos variieren konnte. Mit Dudley Kravitz schuf Richler eine selbstironische, widersprüchliche Figur des Aufsteigers aus den Niederungen der Montrealer »Slums«, die sich nach oben kämpft, ohne dass Richler sie in grobkörnigen Schwarzweißbildern von Gut und Böse zeichnet: Weder denunziert er den Aufsteiger noch verherrlicht er ihn.
Mit dem Roman, der später auch in Film- und Musicalversionen Erfolge verbuchen konnte, etablierte Richler seine Reputation als Romancier, die er mit thematisch ähnlich gelagerten Werken wie St. Urbain’s Horseman (1971; dt. Der Traum des Jakob Hersch), Solomon Gursky Was Here (1989; dt. Solomon Gursky war hier) und Barney’s Version (1997; dt. Wie Barney es sieht) zu einer kanonischen Präsenz in der zeitgenössischen kanadischen Literatur ausbaute. Zugleich machte ihn der kommerzielle Erfolg des Duddy Kravitz zu einem Markenzeichen im kulturindustriellen Betrieb, der ihm zwar lukrative Beschäftigungen in der Film- und Fernsehindustrie verschaffte, zugleich aber auf formelhafte Literaturmodule festlegte. »Den Berühmten ist nicht wohl zumute«, notierte Theodor W. Adorno in Minima Moralia. »Sie machen sich zu Markenartikeln, sich selber fremd und unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbst wie Tote. In der prätentiösen Sorge um ihren Nimbus vergeuden sie die sachliche Energie, die einzig fortzubestehen vermöchte.«3 Schon zu Beginn seiner Karriere hatte Richler seine Stoffe in variierenden Bearbeitungen veröffentlicht (A Choice of Enemies ist beispielsweise größtenteils eine Überarbeitung von The Acrobats mit einem Abstand von drei Jahren). Als Richler in der 1970er Jahren zu einer fixen Größe in der kanadischen Kulturindustrie wurde, kam immer wieder der Vorwurf der Wiederholung auf. »Ich liebe sein Buch«, bemerkte der Filmproduzent William Marshall in einer bissigen Bemerkung. »Ich kaufe es immer, wenn er es schreibt.«4
Dieses Urteil trifft nicht auf Richlers Gesamtwerk zu, wohl aber auf den stark autobiografisch geprägten Roman Joshua Then and Now (1980; dt. Joshua damals und jetzt). Obgleich ihn das Time Magazine zu den fünf besten Romanen des Jahres 1980 rechnete, gehört er doch eher zu Richlers schwächeren Werken, da er den gängigen »Richler-Sound« lediglich neu aufbereitet, ohne dass er Neues zu präsentieren vermag. In kaleidoskopischen Rückblenden erzählt der Roman die Irrungen und Wirrungen des kanadischen Journalisten Joshua Shapiro, der im Arbeitermilieu Montreals aufwuchs und in der sozialen Hierarchie aufstieg – nicht zuletzt durch die Heirat mit einer Tochter aus einer wohlhabenden Mittelklasse-Familie. Trotz aller vordergründigen Erfolge ist Joshua kein glücklicher Mensch, denn er ist gefangen im Kerker seiner Vergangenheit und in den falschen Versprechungen seiner Gegenwart. Letztlich ist er der verwahrloste Zeuge der eigenen Schmach, seine Ideale (die sich auf die Obsession für den Spanischen Bürgerkrieg fokussieren) verraten und in der Welt, wie sie ist, sich eingehaust zu haben. Am Beginn seiner Karriere steht der Plagiarismus, und seine Heimat findet er trotz der anfänglichen Liaison mit den Angry Young Men der 1950er Jahre im opportunistischen Milieu der Kulturindustrie.
Die vielfach deklarierte »Obsession mit Spanien« (die sich in der deutschen Übersetzung in eine »Begeisterung« verwandelt) bleibt ebenso oberflächlich: Sie reduziert sich auf den »spanischen Mythos«, der sich in der Aneinanderreihung von Örtlichkeiten (»Madrid. Der Ebro. Teruél. Guernica.«) oder Namen literarischer Zelebritäten der Bürgerkriegsliteratur (George Orwell, André Malraux, Gustav Regler, Alvah Bessie und einige andere aus dem Baukasten für linke Anfänger). Zu Beginn des dritten Teils des Romans heißt es:
»Für viele aus Joshuas Generation war Spanien vor allem ein Land des Herzens. Ein Land der der Fantasie. Zu jung, um dort gekämpft zu haben, zwangsläufig jedoch überzeugt, sie wären hingegangen, hätten sich selbst und dem so wichtigen Mr. Hemingway bewiesen, dass es ihnen nicht an cojones, an Mut, fehlte, war es für sie der erste politische Kuss. Nicht so sehr eine politische Idee als ein moralisches Erbe.«5
Diese »Generationsbesessenheit« mit dem »mythischen« Ort Spanien war jedoch mehr ein »Gehabe als Gruppenritual«6, in dem sich der scheinbar kritische Intellektuelle dem konformistischen Konformismus unterordnet und als Außenseiter kostümiert, während er mit der integralen Gesellschaft längst einig ist. Zwar geben Joshua und seine Freunde vor, sie hätten sich den Internationalen Brigaden angeschlossen, wären sie alt genug gewesen, doch fehlt ihnen realiter der Impetus für ein politisches oder soziales Engagement. Mit der Betonung eines vagen »moralischen Erbes« entwinden sie sich der direkten politischen Aktion und bürden die Schuld für die eigene Lethargie stets anderen auf. Als der aufstrebende Schriftsteller Richler nach Spanien aufbrach, war er – wie sein Freund Ted Kotcheff in einem Nachwort zum Roman The Acrobats schrieb – ein »kämpfender junger politischer Ideologe« im Zustand eines »intellektuellen Aufruhrs und Zweifels«, der sich als Protagonist der Nachkriegsgeneration zwischen den Versprechen einer gescheiterten Revolution und den Trümmern einer sterbenden Kultur verlor. 7
Die nachwachsende Generation vermochte jedoch nicht, neue Ideen oder Impulse zu entwickeln, sondern richtete sich in der korporativen Nachkriegsgesellschaft ein. Bezeichnenderweise reüssiert Joshua als Agent der Kulturindustrie, obgleich er seine Obsession für »Spanien« und den »jüdischen Paria« nicht aufgibt. Die Sensibilität, die er der historischen jüdischen Erfahrung einräumt (vor allem in der Person seines Vaters Reuben, der als Boxer und kleiner Gangster durch die kanadische Gesellschaft streift), lässt er bei Schwarzen, Homosexuellen oder Feministinnen vermissen. Schwarze sind »Nigger« oder gehören einer »Afrikanerbande« an; Feministinnen sind Fanatikerinnen mit haarigen Achselhöhlen, und Linke im Londoner Milieu des New Statesman gerieren sich als »Revoluzzer«, die in einem Gerangel Schirm und Mantelknopf verlieren und sich später zum Tee im Ritz treffen. Dies waren, lautet Richlers Resümee, »die schreckenerregenden Barrikaden im London der Fünfzigerjahre«.8
Der kommerzielle Erfolg des Romans beruht nicht allein auf dem literarischen Entertainment, das Richler virtuos beherrschte, sondern auch auf der Drapierung der Revolte gegen die vorgebliche »politische Korrektheit« in den Kostümen des neokonservativen Zeitgeistes. Die Ziele des eilfertig feilgebotenen satirischen Spotts sind Linke, Liberale, Homosexuelle und Feministinnen, die in den 1970er Jahren die »ideologische Hegemonie« im Diskurs der westlichen Gesellschaft zu bestimmen suchten. In Zeitschriften wie The New Criterion, in der auch Richler publizierte, wurde der politische »Backlash« intellektuell begleitet. In Joshua damals und jetzt blieb Richler in seiner Vergangenheit gefangen und vermochte es nicht, über die bloße Denunziation der eigenen Geschichte hinaus zu kommen. Erst in späteren Werken wie Solomon Gursky was Here und Barney’s Version entwickelte er neue literarische Strategien, die über die eigene künstlerische wie politische Stagnation hinauswiesen.
Bibliografische Angaben:
Mordecai Richler, Joshua Then and Now (Toronto: McClelland & Stewart/Emblem Edition, 2001), 488 Seiten.
Mordecai Richler, Joshua damals und jetzt, übers. Gisela Stege (München: Liebeskind, 2014), 544 Seiten, € 24,80
- Reinhold Kramer, Mordecai Richler: Leaving St. Urbain (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2008), S. 9 ↑
- Mordecai Richler Was Here: Selected Writings, hg. Jonathan Webb (New York: Carroll & Graf, 2007), S. 23 ↑
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 127 ↑
- Kramer, Mordecai Richler: Leaving St. Urbain, S. 273 ↑
- Mordecai Richler, Joshua damals und jetzt, übers. Gisela Stege (München: Liebeskind, 2014), S. 297 ↑
- Adorno, Minima Moralia, S. 277 ↑
- Ted Kotcheff, »Afterword«, in: Mordecai Richler, The Acrobats (Toronto: McClelland & Stewart/New Canadian Library, 2002), S. 217 ↑
- Richler, Joshua damals und jetzt, S. 328 ↑