Zwei Publikationen erinnern an den Intellektuellen Walter Boehlich
von Jörg Auberg
Als Kritiker, Übersetzer, Herausgeber und Verlagslektor übte Walter Boehlich (1921–2006) einen prägenden Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der alten Bundesrepublik aus. In Breslau geboren und während der nationalsozialistischen Herrschaft aufgrund seiner jüdischen Herkunft diskriminiert, wurde er nach einem Studium der Germanistik und Romanistik zunächst Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius, entschied sich aber schließlich gegen eine akademische Karriere. Durch eine kritische Rezension der Neuübersetzung des Werkes von Marcel Proust wurde Peter Suhrkamp auf ihn aufmerksam und holte ihn 1957 als Lektor in den Verlag. 1968 versuchten Boehlich und einige Kollegen ein Mitspracherecht der Lektoren im Verlag durchzusetzen, scheiterten jedoch mit diesem Unterfangen. Danach gehörte Boehlich zu den Mitbegründern des Verlags der Autoren, arbeitete als freier Autor für verschiedene Presse- und Rundfunkorgane (unter anderem war er von 1979 bis 2001 als monatlicher Kolumnist für das Satiremagazin Titanic tätig), übersetzte Werke aus mehreren Sprachen und gab die Reihe Rowohlt Jahrhundert heraus. Von einer Ausnahme – dem 1973 erschienenen Theaterstück 1848 — abgesehen, blieb Boehlich, obgleich er von 1948 bis 2001 kontinuierlich publizierte, ein »buchloser« Autor und sträubte sich dagegen, seine Texte in Buchform zu veröffentlichen, da sie ausschließlich für den Tag geschrieben seien. Über dieses »Verbot« setzten sich Helmut Peitsch und Helen Thein hinweg und brachten zum 90. Geburtstag Boehlichs mit dem Buch Die Antwort ist das Unglück der Frage eine thematisch-chronologisch geordnete, mit ausführlichen editorischen Anmerkungen versehene Auswahl von Kritiken, Einführungen, Essays, Polemiken, Kolumnen und Glossen heraus, die »Boehlichs Wirken in einer möglichst großen Bandbreite« (wie die Herausgeber in ihrem Nachwort schreiben) abbilden möchte.
Vor allem die im Abschnitt »Positionsbestimmungen des Literaturkritikers« versammelten Texte aus den Jahren zwischen 1950 und 1996 sind von ungebrochener Aktualität. Für Boehlich war Kritik keine Stand-by-Aktivität und erforderte professionelles Engagement: »Das Geschäft des Kritikers ist hart und undankbar«, schrieb er 1953, »aber es muß getan werden.« Zum Ethos eines Kritikers, der diesen Namen verdiente, gehörten in den Augen Boehlichs Schärfe und Rücksichtslosigkeit, wenn nötig auch Grobheit, Leidenschaft und Gewissenhaftigkeit, Sachverstand und Präzision der Sprache, während er persönliche Eitelkeiten und Skrupel, Konformität und Korruption für Todsünden hielt. Der ideale Kritiker verband (wie er in einer Rezension eines Buches seines bewunderten Lehrers Curtius schrieb) »die Leidenschaft des Liebhabers der Literatur«, »das feine Unterscheidungsvermögen des Literaturkritikers« und »die Askese des Gelehrten«. Besonders in der Kritik übersetzter Bücher legte er eine hohe Elle als Maßstab an: Der Kritiker solle keine Bücher rezensieren, deren Original er nicht kenne, postulierte er 1994, müsse über den Werkkontext eines Autors als auch über den Gesamtzusammenhang der jeweiligen Literatur Bescheid wissen. Niemand werde zum Rezensieren gezwungen, aber wer es tun wolle, müsse hohen Ansprüchen genügen.
An der Literaturkritik in Deutschland bemängelte er die Provinzialität und mangelnde Professionalität. In den literarischen Zeitschriften führe sie ein »Aschenbrödeldasein«, schrieb er 1956, und einige Jahre später attestierte er der deutschen Literaturkritik, nichts zu haben, »was sich der französischen und amerikanischen Literaturkritik an die Seite stelle ließe«, um 1968 schließlich in der legendären Kursbuch-Ausgabe den Tod der bürgerlichen Kritik zu erklären, womit der »unbequeme Cheflektor« (wie ihn das Nachrichtenmagazin Der Spiegel bezeichnete) für den »linken« Suhrkamp-Verlag untragbar wurde.
Ein Manko des Bandes liegt darin, dass die Entwicklung der Positionen Boehlichs – von einer am New Criticism orientierten werkimmanenten zu einer gesellschaftlich ausgerichteten Kritik – für den Leser stellenweise nicht nachvollziehbar ist, da die Auswahl der Texte sehr beschränkt ist. In einer Kritik der 1955 von Theodor W. Adorno herausgegebenen Schriften Walter Benjamins diskriminiert Boehlich zwischen der »undoktrinären« und »doktrinären« Phase Benjamins, um zu schlussfolgern: »Weder der dialektische Materialismus noch der Sprachgebrauch der halbmarxistischen Soziologenschule, der Benjamin sich angeschlossen hat, haben seinem Stil zu Klarheit oder Einzigkeit verholfen; sie haben ihn verdorben.« In den editorischen Anmerkungen weisen die Herausgeber daraufhin, dass sich Boehlichs Position in den späteren Artikeln zu Benjamin verändert habe. Da diese Artikel jedoch nicht aufgenommenen wurden, lässt sich diese Veränderung anhand des vorliegenden Bandes nicht überprüfen.
Zum anderen kommt die politische Dimension des öffentlichen Intellektuellen Boehlich in der alten Bundesrepublik etwas kurz. Nicht nur in der kritischen Diskussion der Germanistik und der Literaturkritik thematisierte Boehlich die fehlenden Brüche in der deutschen Geschichte (so hatten in seinen Augen die deutschen Universitäten nicht nur 1933 bei der nationalsozialistischen Machtübernahme versagt, sondern auch nach 1945, als viele faschistische Karrieristen und Mitläufer ihre Karrieren in den bundesrepublikanischen Universitäten bruchlos fortsetzen konnten). Dieser Aspekt der Geschichte tritt auch in Boehlichs Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der 1970er Jahre hervor, als Boehlich auf die fatale Kontinuität in der Bundesrepublik hinwies, die von jenen geprägt sei, »die nicht gegen Hitler gekämpft haben«. Die herrschende Majorität wolle, so schlussfolgerte Boehlich, das Nachdenken über den Terrorismus ausschließen, »damit die Kontinuität nicht zum Vorschein komme«. Diese Kontinuität sah Boehlich auch 1989 am Wirken, als die Bundesrepublik die DDR in einer »feindlichen Übernahme« liquidierte und eine »Säuberungsmentalität« im westdeutschen Feuilleton Einzug hielt. Während die Majorität der bundesrepublikanischen Intellektuellen und Feuilletonisten sich im Siegesrausch als johlende Staatsdiener aufführten, beharrte Boehlich auf seiner antinationalistischen Minoritätenposition und warnte vor einer »Entschuldung der Deutschen«. Die politischen Texte nehmen jedoch nur einen kleinen Teil des Bandes aus, der viele Beiträge für »Titanic«, »Konkret«, »Deutsche Volkszeitung« und andere Presseorgane ausspart. Auch wenn viele dieser Texte einen tagespolitischen Hintergrund haben, könnten sie doch zu einer kritischen Historiografie der alten Bundesrepublik beitragen.
Mittlerweile ist Boehlich zum Gegenstand akademischer Forschung geworden. Nach seinem Tod fand seine etwa 14.800 Bücher umfassende Bibliothek eine Heimstatt im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, wo im Dezember 2009 auch eine Walter-Boehlich-Konferenz abgehalten wurde, deren Beiträge nun in dem von Helmut Peitsch und Helen Thein herausgegebenen Band »Walter Boehlich – Kritiker« veröffentlicht wurden. Ziel dieser Zusammenkunft von Vertretern verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen war es, schreiben die Herausgeber im Vorwort, »das öffentliche Handeln Boehlichs in wechselnden institutionellen Zusammenhängen« zu untersuchen, doch ist das Resultat enttäuschend, da die einzelnen Beiträge über Judentum und Antisemitismus, Literaturwissenschaft und Kritik der Germanistik, Literaturkritik, Verlagslektorat und Autorschaft (wie die einzelnen Abschnitte überschrieben sind) der verengten Perspektive der jeweiligen Fachrichtung verhaftet bleiben. Anstatt den öffentlichen Intellektuellen im Kontext einer zunehmend eingeengten, konformistischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik zu situieren, wird Boehlich in Einzelteile zerlegt, unter dem akademischen Vergrößerungsglas seziert, historisiert und depolitisiert. Aus dem Mittelmaß der Fußnotengenerierung ragen einzig Christoph Kapps biografische Skizze über Boehlichs frühe Jahre und Helen Theins umfangreiche Bibliografie zu den publizistischen Arbeiten Boehlichs heraus. Die übrigen Texte sind leidenschaftslose, von akademischer Trägheit gezeichnete Fleißarbeiten – oder mit Boehlich gesprochen: »Es gibt zu viel Professorenprosa – unverdaulich. Es gibt zu viel Kritikerpein.«
Bibliografische Angaben:
Walter Boehlich.
Die Antwort ist das Unglück der Frage:
Ausgewählte Schriften.
Herausgegeben von Helmut Peitsch und Helen Thein.
Frankfurt/Main : S. Fischer Verlag, 2011.
704 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN: 978–3‑10046–325‑8.
Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.).
Walter Boehlich – Kritiker.
Berlin: Akademie Verlag, 2011.
400 Seiten, 69,80 EUR.
ISBN-13: 978–3‑05005–085‑0.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Die Antwort ist das Unglück der Frage | © S. Fischer Verlag |
Cover Walter Boehlich – Kritiker | © Akademie Verlag |
Zuerst erschienen in: literaturkritik.de (Februar 2012)
© Jörg Auberg