
Die Insel als Gegenraum
Maike Albath untersucht die Literatur Siziliens
Von Jörg Auberg
»Von den Inseln kann man sich nicht entfernen, höchstens fliehen, oder man möchte sie nie mehr verlassen.«1
Simone Perotti, Atlas der Mittelmeerinseln
Auf seiner italienischen Reise insistierte Goethe in Palermo im April 1787, dass Italien ohne Sizilien kein Bild in der Seele mache: »hier ist erst der Schlüssel zu Allem«.2 Auf ihrer vor neun Jahren begonnenen »italienischen Reise« hat die Literaturkritikerin Maike Albath nun auch Sizilien erreicht. Nachdem sie in ihren vorangegangen Büchern Der Geist von Turin (2010) und Rom, Träume (2013) die literarischen Territorien im Norden und in der Mitte Italiens erkundete, widmet sie sich in Trauer und Licht der sizilianischen Literatur von der staatlichen Einigung Italiens um 1860 bis zur Gegenwart. Obgleich die Insel an der Peripherie des europäischen Kontinents am Übergang zwischen Okzident und Orient liegt, bildet sie für Albath doch »das vitale Zentrum«.3

Einen großen Raum ihrer sizilianischen Literaturgeschichte nehmen die Entstehungsgeschichte des Romans Il Gattopardo und die Biografie seines Autors Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957) ein. Der Roman entstand aus der Erinnerung Tomasi di Lampedusas, in dem die Vergangenheit der sizilianischen Aristokratie beschworen und zugleich ihr Niedergang im neuen bürgerlichen Zeitalter nach der staatlichen Einigung Italiens präsent ist. Tomasi di Lampedusa war als Sproß einer aristokratischen Familie jahrzehntelang ein Müßiggänger, der sich nie mit den »Misshelligkeiten eines Brotberufes«4 hatte plagen müssen (wie Hanjo Kesting es ausdrückte). Ohne große Ambitionen, lethargisch und depressiv, von der Mutter Beatrice beherrscht, fand er erst spät zum Schreiben. Die Veröffentlichung seines Romans erlebte Tomasi di Lampedusa nicht mehr, da er 1957 an Lungenkrebs starb. Von dem Lektor Elio Vittorini, der selbst mit dem neorealistischen Roman Gespräch in Sizilien (1939) für Furore sorgte und für die Verlage Mondadori und Einaudi arbeitete, wurde Tomasis von Verfall, Fäulnis und Dekadenz geprägte Erstlingswerk als nicht zeitgemäß abgelehnt. Wahrscheinlich erschien ihm – mutmaßt Kesting – »das Buch veraltet, das nicht die Botschaft einer moralischen und politischen Erneuerung aus dem Geist des Antifaschismus und der Resistenza verkündete.«5 Trotz dieser Rückschläge war Tomasi di Lampedusa davon überzeugt, dass – wie Albath schreibt – »sein farbenprächtiger Realismus doch zeitloser war als Vittorinis karger Neorealismus – Vittorinis Romane muten heute sehr viel zeitverhafteter an als der Leopard.«6

Nach seinem Tod sorgte Tomasis Frau Licy dafür, dass der Roman 1958 im Verlag Feltrinelli erschien. Das Buch wurde schnell zu einem Welterfolg und fünf Jahre später von Luchino Visconti kongenial verfilmt. Während Tomasi di Lampedusas Sympathien dem Konservatismus und dem sizilianischen Regionalismus galten, bot der Roman dem Sozialisten Visconti die Möglichkeit, die »Aufgabe und Aufhebung« der herrschenden aristokratischen Klasse Siziliens (wie Wolfram Schütte schrieb) »innerhalb der geschichtlichen Entwicklung unmißverständlich zu reflektieren«.7 Der Niedergang der aristokratischen Klasse geht einher mit dem Aufstieg der bürgerlichen Klasse, versinnbildlicht in der abschließenden Ballszene im Visconti-Film, in der — mit den Worten Hanjo Kestings – »die degenerierten Leoparden der Aristokratie mit den Schakalen des bürgerlichen und mafiosen Geldadels« tanzen.8 Das Risorgimento brachte nicht den Liberalismus in Italien zur Blüte, wie ihn Benedetto Croce in seinem Mythos des »liberalen Staates« verklärte. Die Vorzüge der neuen Staatsform konnten nur die Angehörigen der privilegierten Klassen genießen, während jene, welche die ökonomische und politische Macht in Frage stellten, die herrschende Gewalt zu spüren bekamen. In solchen Fällen enthüllte der dominante Liberalismus seinen autoritären Charakter.9

Das konservative Programm der sizilianischen Aristokratie manifestiert sich in dem vielfach wiederholten Satz der opportunistischen Anpassung an die jeweils herrschenden Verhältnisse: »Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß sich alles verändert.«10 Im insularen Raum Siziliens haben sich die Inselbewohner in ihrer Isolation, Randständigkeit und Abgeschnittenheit eingerichtet und entziehen sich der Anforderungen der modernen Ordnungs- und Effizienzökonomie, wie sie sich allmählich auf dem Festland durchsetzte. Sizilien wird nicht nur ein »Gegenraum« für die Skepsis gegenüber dem vom kapitalistischen Profitinteresse geprägten Fortschritt, sondern auch ein Herrschaftsterritorium der primitiven Rackets, die ihre Partikularinteressen erbarmungslos und brutal gegen das Gemeinwohl durchsetzen.11

In den Augen Albaths konnte nur aus diesem »Gegenraum« heraus eine Erneuerung der italienischen Literatur durch Vertreter des »Verismus« wie Giovanni Verga, Luigi Capuana und Federico De Roberto stattfinden. »Der Realismus der Sizilianer barg«, insistiert sie, »eine subversive Kraft: Sie schilderten die Verhältnisse, wie sie tatsächlich waren.«12 Doch im Gegensatz zu den französischen Naturalisten verfolgten sie mit ihrer Literatur trotz ihres unverstellten Blickes auf die Realität keine politischen Interessen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Ihnen hatten sie sich resignativ ergeben. Nie kamen sie über das Stadium des Regionalismus hinaus, zogen die Einordnung in die autoritären Familienstrukturen Siziliens der Emanzipation vor. Selbst großen Autoren wie De Roberto misslang die Abnabelung von dem erdrückenden Regime der Familie, das von der Mutter beherrscht wurde: Da in ihren Augen die Gesellschaft keine Sicherheit bot, zogen sie die »Flucht in den Schoß der Familie«13 vor. Damit kompensierten sie vor allem die Furcht vor den Erfahrungen der kapitalistischen Moderne, und diese Haltung macht viele sizilianische Schriftsteller wie Tomasi di Lampedusa oder Luigi Pirandello empfänglich für den Faschismus, der ihnen »einen Ausweg aus den zerstörerischen Modernitätserfahrungen zu versprechen und eine Renaturalisierung der Gesellschaft zu ermöglichen« schien.14

Die Stärke von Albaths Buch liegt in der Analyse des »regressiven Effekts« Siziliens, der sich einerseits im »Widerstand« gegen die herrschenden Verhältnisse des italienischen Festlandes äußerte, zum anderen in der Konformität der matriarchalen Familienstrukturen zum Ausdruck kam. Die Schwächen des Buches werden an den Stellen offensichtlich, an denen sich Albath über die Grenzen der Literatur hinaus bewegt und ihre Limitationen offen legt. Dies wird vor allem in ihrer Diskussion der Mafia deutlich: Ein historisches Verständnis der Rackets hat sie nicht, doch kanzelt sie einen Historiker wie Eric J. Hobsbawm en passant ab: Er habe, behauptet Albath, in der Mafia »auch einen Widerstand gegen die verwaltungstechnische Macht des modernen, alles kontrollierenden Staates gesehen«. Dabei verkürzt Albath Hobsbawms komplexe Argumentation, welche die Organisation der Mafia in den historischen Kontext von Herrschaft und Kapitalismus setzt, auf die simple Reduktion einer primitiven Revolte. »So eine Deutung«, ist sich Albath gewiss, »kann sich nur erlauben, wer von außerhalb kommt.«15 In ihrem Furor gegenüber linken Kritikern wie Hobsbawm oder Leonardo Sciascia, der die einzelkämpferische Attitüde von Anti-Mafia-Kämpfern wie Giovanni Falcone oder Paolo Borsellino kritisierte und die Fragwürdigkeit isolierter Aktionen von »Rittern der Justiz« anprangerte, verliert sie sich selbst in einem »moralischen Rigorismus«, den sie Sciascia und anderen ankreidet.16

»Wer nur etwas von Literatur versteht, versteht auch davon nichts«17, schrieb Lothar Baier als Kritiker der Literaturkritiker. Er nannte es »literarisches Fachidiotentum«. Bei Albath äußert sich die déformation professionelle vor allem in einer reportagehaften Herangehensweise, die auf den Ursprung des Buches zurückgeht. In ihrem Rundfunk-Feature »Sizilien: Literaturbetrieb in flirrender Hitze«18 hatte Albath die Themen ihres Buches prägnant umrissen. In ihrem Buch gerät ihr vieles jedoch zu weitschweifend. Während sie Tomasi di Lampedusa mehr als 150 Seiten zugesteht und Zitate über mehr als eine halbe oder dreiviertel Seite ausbreitet, wird Stefano D’Arrigos monumentaler Roman Horcynus Orca auf zwei Seiten abgehandelt.

Zudem fühlt sich Albath ständig bemüßigt, sich permanent vor dem Auge des Lesers ins rechte Licht zu stellen. Stets wandelt sie durch die Kulissen, die schon – wie Jean-Paul Sartre konstatierte – »durch Faschismus und Niederlage ruiniert«19 sind. Sie sitzt dort, wo schon einmal Visconti gesessen hat, oder der Sohn des Grafen Domenico führt sie durch die »Gemächer seiner Vorfahren«. Ein anderes Mal möchte sie unbedingt die Piazza von oben ansehen, erlebt bei einem Drehtermin »den vermutlich berühmtesten Sizialianer von ganz Italien« oder fühlt sich durch eine »laut polternde amerikanische Professorin« gestört.20 So endet der Blick auf die Insel in einer trostlosen Tristesse eines vom Missverhältnis der Proportionen entstellten Narzissmus, in dem die Kritikerin – ungeachtet aller Nivellierung des insularen Raums im Zeitalter der Globalisierung – als unverwechselbarer Charakter in einer gleichförmigen Landschaft überlebt.
Bibliografische Angaben:
Maike Albath.
Trauer und Licht.
Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens.
Berlin: Berenberg Verlag, 2019.
352 Seiten, 25,00 €.
ISBN: 978–3‑946334–50‑7.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Il Gattopardo | © Feltrinelli |
Foto von Licy und Giuseppe Tomasi | Wikimedia |
Szenenfoto Der Leopard | © Pathé Renn Production |
Porträt Giovanni Verga | Wikimedia |
Foto Leonard Sciascia | Wikimedia |
Cover Horcynus Orca | © Rizzoli |
Cover Trauer und Licht | © Berenberg Verlag |
© Jörg Auberg 2019
Nachweise
- Simone Perotti, Atlas der Mittelmeerinseln, übers. Julika Brandestini (Berlin: Wagenbach, 2018), S. 10 ↩
- Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz (Berlin: Deutscher Klassiker Verlag, 2011), S. 271 ↩
- Maike Albath. Trauer und Licht: Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens (Berlin: Berenberg Verlag, 2019), S. 15 ↩
- Hanjo Kesting, Große Romane der Weltliteratur: 20. Jahrhundert (Göttingen: Wallstein, 2015), S. 287 ↩
- Kesting, Große Romane der Weltliteratur: 20. Jahrhundert, S. 307 ↩
- Albath. Trauer und Licht, S. 133–134 ↩
- Wolfram Schütte, »Kommentierte Filmografie«, in: Luchino Visconti, hg. Peter W. Jansen und Wolfram Schütte (München: Hanser, 1975), S. 94 ↩
- Kesting, Große Romane der Weltliteratur: 20. Jahrhundert, S. 307 ↩
- Nunzio Pernicone und Fraser M. Ottanelli, Assassins Against the Old Order: Italian Anarchist Violence in Fin de Siècle Europe (Champaign: University of Illinois Press, 2018), S. 44 ↩
- Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard, übers. Charlotte Birnbaum (München: Piper, 1984), S. 33 ↩
- Cf. Torsten König, »Die Entgrenzung Siziliens in der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts«, in: Inseln und Archipele: Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, hg. Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi und Helge Wendt (Bielefeld: Transcript, 2011), S. 135–152 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 176 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 200 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 222 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 265; cf. Eric Hobsbawm, Primitive Rebels: Studies in Archaic Forms of Social Movement in the Nineteenth and Twentieth Centuries (1959; erw. London: Abacus, 2017), S. 40–74 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 275 ↩
- Lothar Baier, Was wird Literatur? (München: Kunstmann, 2001), S. 25 ↩
- Maike Albath, »Sizilien: Literaturbetrieb in flirrender Hitze«, Deutschlandfunk Kultur, 30. Juli 2017, https://www.deutschlandfunkkultur.de/sizilien-literaturbetrieb-in-flirrender-hitze.974.de.html?dram:article_id=390683 ↩
- Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, hg. und übers. Traugott König (Reinbek: Rowohlt, 1986), S. 125 ↩
- Albath, Trauer und Licht, S. 138, 290, 287, 286, 86 ↩