Nachlese zur Frankfurter Buchmesse
von Jörg Auberg
Schon zu ihren Anfängen war die Frankfurter Buchmesse offenbar ein etwas seltsamer Ort. »Da quollen die angemieteten Lagergewölbe rund 120 größerer Verleger des In- und Auslandes über von Novitäten, die in aller Hast noch rechtzeitig fertiggeworden waren, aber auch von gängiger älterer Ware«, schreibt Reinhard Wittmann in seiner Geschichte des deutschen Buchhandels. »Die Buchhändler, Drucker und auch der eine oder andere Buchbinder suchten einander in ihren Gewölben auf, musterten die Neuigkeiten, gaben die im vergangenen Halbjahr abgelaufenen Bestellungen weiter und oft genug auch sonstige Post und Besorgungen von Gelehrten, die jahrhundertelang untereinander gerne so preiswert und zuverlässig wie langsam ›durch Buchhändlergelehrtheit‹ korrespondierten, sie boten ihre eigenen Produkte an und rechneten vor allem ab.«1
Ehe ich in die Gewölbe des Jahres 2015 eintauchen kann, muss ich zunächst Taschenkontrolle über mich ergehen lassen und danach die technologische Schranke am Eingang überwinden. Während ich mich auf der sicheren Seite wähne und meine Pressekarte in digitaler Form im »PassWallet« meines Smartphones vorweisen möchte, scheitere ich damit bei der schwarzgekleideten Türhüterin. Ihr Scanner scheitert beim Einlesen des Barcodes, doch die Schuld wird bei mir abgeladen. Das Display des Smartphones sei zu dunkel, erklärt die Türhüterin mit strafendem Blick. »Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet …«2 Im letzten Augenblick zücke ich mein Old-School-Ticket in Papierform, das mir den Zugang zum Bücheruniversum verschafft.
Zunächst suchte ich die internationalen Aussteller in der sechsten Halle auf. In den kleinen Zellen herrscht ein reges Treiben der Agenten, die ihr Geschäft mit Lizenzen und Rechten betreiben und stets so tun, als gehörten sie zu der großen internationalen Gemeinschaft der Bücherfreunde, während sie ihre Gegenüber über den Tisch ziehen wollen und immer nur auf gewinnträchtige Abschlüsse aus sind. Mit solchen Peanuts gibt sich Andrew Wylie (in der Branche als »Der Schakal« bekannt) nicht ab. The Wylie Agency operiert nicht in kleinen Dilbert-Zellen, sondern agiert auf einem repräsentativen Ausstellungsgelände, wo sie die Angestellten der Buchindustrie empfängt und vermarktet.
Längst haben Konglomerate wie HarperCollins, Hachette oder Penguin Random (leider konnten sich die Konzerne Bertelsmann und Pearson bei ihrem Zusammenschluss ihrer Buchfabriken 2013 nicht zu dem Namen »Random Penguin« durchringen) die Territorien unter sich aufgeteilt (was auch in den Ausmaßen der besetzten Ausstellungsfläche deutlich wird). Es ist die plakative Zurschaustellung dessen, was André Schiffrin vor Jahren als »Verlage ohne Verleger« beschrieb. Für kleinere Unternehmen wie die internationalen Universitätsverlage, Verso Books, Pluto Press oder The New Press bleiben lediglich die Brosamen. Im Falle der New Internationalist Press ist es noch schlimmer: Der einzige Mensch am Stand muss sich mit den eigenen Produkten beschäftigen, da sich sonst niemand für sie zu interessieren scheint.
Anders als in früheren Jahren ist das E‑Book-Thema weit weniger präsent. Die unzähligen Workshops, in denen Hersteller sogenannter E‑Book-Reader ihr Publikum suchten oder chinesische Produzenten das Lesen von Büchern auf kleinen Handy-Displays dem staunenden wie skeptischen Publikum vorführten, haben das Zeitliche gesegnet. Mittlerweile ist der Markt gesättigt. Innovationen finden kaum noch statt. Während sich Kindle und Tolino als »Marktführer« etabliert haben, zogen sich Sony und kleinere Hersteller resigniert aus dem Geschäft zurück. Auch beim Publikum hat sich der »Hype« um die »elektronische Bibliothek« gelegt, denn dem Besucher der Buchmesse geht es wie den Bibliophilen (oder Bibliomanen) von einst um das Blättern und Befühlen des Papiers, die Begutachtung des Schrifttyps und des Einbandes, um die sinnliche Erfahrung, die beim »Wischen« oder Drücken von Schaltflächen nicht vorhanden ist, zumal das Buch als bloße Datei in der »unendlichen« digitalen Bibliothek in einem Wust aus Nullen und Einsen unterzugehen droht wie jede nichtige Release-Notes-Datei.
Ohnehin haben längst Migranten aus Nerdistan, die zumeist mit Bärten und Wollmützen aus dem Serienhandel auftreten, ihre Nischen in den Katakomben des Buchhandels für sich entdeckt und liefern über Bildschirme ausgestrahlte Live-Aufzeichnungen Redebeiträge ab, als wären sie aus einem Roman Dave Eggers’ abgeschrieben: Es geht nicht mehr um Bücher, sondern einzig um »Content«, der selbstverständlich »social« sein muss. Immer schon steht die »smarte Technologie« im Vordergrund, mit der die »Benutzer« die gesuchten Stellen im »Content« auffinden können. Zwar wähnen sich schlauer als die Eichhörnchen im Wald, doch ob sie tatsächlich Bücher (haben sie jemals welche gelesen?) im digitalen Dickicht aufstöbern können, bleibt abzuwarten.
Auf dem Weg zu den Ausstellungshallen der deutschsprachigen Verlagen stoße ich immer wieder auf Messebesucher, die große blaue Plastiktaschen einer noch größeren öffentlich-rechtlichen Medienanstalt mit dem Konterfei des hauptamtlichen Literaturrichters mit sich herumtragen. »Denis the Menace« verströmt eine moralisch-rosa Aura des »Book-Man« im Buchbetrieb von Babel. In seiner schrankenlosen Umtriebigkeit scheut er nicht einmal davor zurück, bei der Eröffnung einer im spießig-kleinbürgerlichen Design ausstaffierten Buchhandlung in der niederrheinischen Provinz als Literatur-Conférencier aufzutreten. »Denis the Book-Man« gefällt sich in seinem aufgeblasenen Ego und seiner zur Schau gestellten Feistigkeit, die nichts mehr gemein hat mit der öffentlich-rechtlichen Bescheidenheit, wie sie vor Jahrzehnten Vorgänger wie Jürgen Tomm im »Autor-Scooter« oder Dieter Zilligen im »Bücherjournal« demonstrierten. In der egomanischen Selbstdarstellung werden Literatur, Buch und Autor zur Nebensache. Des Effekts wegen trifft sich »Denis the Book-Man« mit Salman Rushdie zum Tischtennis-Duell, während die kritische Argumentation, die Elaboration im Schreiben selbst (die beispielsweise ein Kritiker aus der medialen Vorzeit wie Alfred Kazin als Essenz der Kritikerexistenz beschrieb) zur Bagatelle degradiert wird. »Denis the Book-Man« ist der bramarbasierende Wiedergänger Fatty Arbuckles, der gern einen lüstern-vorsichtigen Blick ins dekadente Ambiente des kulturindustriellen Betriebes wirft, aber sich nicht allzu weit vorwagt. Stattdessen betreibt er das Geschäft des öffentlich-rechtlichen Maurermeisters, der – mit einem Wort Theodor W. Adornos – »Steine zu der Mauer« hinzufügt, »welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt«.3
Dagegen erscheint Ulrich Wickert, der am Vorwärts-Stand seinen siebten Kriminalroman vorstellt, fast schon demütig. Wenig ist von der Großspurigkeit des ehemaligen Kompilators übriggeblieben, der sich beim Zusammenstückeln des »Buches der Tugenden« in die Rolle des Moralisten der Republik manövrierte, auch wenn sein intellektueller Beitrag zum Thema kaum von Originalität gekennzeichnet war. Nun, da die Jahre ins Land gezogen sind und auch Spuren beim einstigen Sonnyboy der öffentlich-rechtlichen Verlautbarung hinterlassen haben, ist der selbsternannte Montaigne von Eppendorf kleinlauter geworden. Auf dem Podium sitzt er in blauen Jeans, einem leguangrünen Jackett, einem hellblauen Pullunder und einem lachsfarbenen Hemd und sinniert über die französische Politik und Gesellschaft, während er über seinen Kriminalroman nicht allzu viel sagen möchte, um den Plot nicht zu verraten, was den Verkaufserfolg seiner Ware gefährden könnte.
Überall trieft die Geschäftsgier aus den Katakomben. Aus diversen Ecken lauern schwarz berockte oder beanzugte Wegelagerer, die Abonnements für Zeitungen, Zeitschriften oder Magazine aufdrängen wollen. An einem Stand wird für Webpräsentationen für Autoren mit Online-Shops für bis zu fünf Bücher geworben. Als ich mir das gelbe Werbeplakat anschaue, stürzt sich sofort ein Weißkopfadler auf mich. Die Frage »Sind Sie Autor?« verneine ich.
Aus den Tiefen der Zeit begegnet mir mehrmals beim Streifen durch die Gänge ein älterer Schauspieler und Autor, der einer bekannten Künstlerdynastie entstammt und in den bleiernen Jahren in terroristische Unternehmungen abtauchte, ehe er sich in seiner Haft dem Schreiben zuwandte. Am Stand des Verlages zu Klampen trifft er auf einen seiner Verleger und möchte wissen, was der Buchproduzent so treibe. Irgendwo lugt der Geist Célines hinter den Regalen vor und vergällt mit seinem Raunen über die Klassenverhältnisse die sektseligen Buchmessenpartys. »Alles in allem sieht man, wenn man es genau nimmt, eine ganze Menge Schriftsteller in der Gosse enden, andererseits findet man nur selten einen Verleger unter einer Brücke … ist das nicht zum Piepen?« 4
Ohnehin gehört dieser spätberufene Autor, der im Motto für sein ersten Buch im Sinne Walter Benjamins das Labyrinth als die »Heimat des Zögernden«5 beschwor, wohl eher zu der Gattung, die Ermanno Cavazzoni als die »nutzlosen Schriftsteller« in Zeiten der »Skripturalhypertrophie« beschrieb. »In manchen Epochen der Geschichten der Gesellschaft werden die Schriftsteller immer mehr, bis sie schließlich die Gesamtheit der Bevölkerung ausmachen; die zivilisierte Gesellschaft stirbt oder sucht erbittert Zuflucht jenseits des Ozeans oder verkommt zu armseligen menschlichen Resten, die nicht wissen, woran sie sich halten sollen.«6 Nicht nur sind obskure und dubiose Dienstleistungsagenturen auf der Jagd nach willfährigen Skripturalhypertrophikern, die nach Wegen der Veröffentlichung suchen. Auch kulturindustrielle Produkttypen wie die geschäftstüchtige Blondine oder der langnasige Provinzkomiker agieren auf den Podien sogenannter Publikumsverlage oder öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten als angebliche Schreibsüchtige, während sie doch nur als zynische, reprojizierte Parodien ihrer Kundschaft agieren und ihre Schreibagenten im Verborgenen darben.
»Beim Besuch einer Buchmesse ergriff mich eine besondere Beklemmung«, notierte Theodor W. Adorno Ende der 1950er Jahre. »Als ich suchte zu verstehen, was sie mir anmelden wollte, ward ich dessen inne, daß die Bücher nicht mehr aussehen wie Bücher. Die Anpassung an das, was man zu Recht oder Unrecht für die Bedürfnisse der Konsumenten hält, hat ihre Erscheinung verändert.«7 Um von kapitalistischen Zurichtung der Ware Buch abzulenken, gibt es auf der Buchmesse jedes Jahr eine Ausstellung der handwerklichen schönsten Bücher, wobei von der Tatsache, dass jedes Buch – in Anlehnung an Walter Benjamin – »niemals ein Dokument der Kultur« ist, »ohne ein solches der Barbarei zu sein«.8 Jedes Buch trägt die Schuld an der ökologischen Zerstörung in sich.
Auch die Buchhandlungen sehen längst nicht mehr wie Buchhandlungen aus. »Kleine Aufmerksamkeiten für eine große Wirkung – im klassischen Buchgeschäft ist das sogenannte Nonbook-Angebot nicht mehr wegzudenken«, heißt es im PR-Text der Messe für den »Non-Book-Bereich«in Halle 3.1, wo Lust auf ein »Ambiente zum Buch« gemacht werden soll. Mit allerlei Krimskrams oder überflüssigen Dingen der kapitalistischen Produktionsmaschinerie werden Buchhandlungen bestückt – mit Tassen, Stofftieren und Handtüchern, während Bücher aus Kleinverlagen kaum noch an augenfälliger Stelle positioniert werden. Die vorgebliche »Kundenorientierung« erweist sich als Strategie für den Massenabsatz. Wer »seine Buchhandlung, ähnlich einem Kaffeegeschäft, nun zur beliebigen Alles-Handlung ausbaut – von der Unterwäsche bis zu Reisen – hat im Grunde selbst schon aufgegeben«, schreibt Gerald Grüneklee, der Betreiber des inzwischen aufgelösten Anares-Buchvertriebes, in seinem lesenswerten Ziegelbrenner-Blog9.
»Abschließend scheint es, als sei die geistige Tätigkeit des Lesens in hohem Maße ungesund und führe zu einer rascheren Verwesung der Körper« 10, schreibt Cavazzoni und beschwört den »Abschied vom Buch«, das aber dennoch unter dem Kopf bleibt und »einem Gesellschaft leistet«. Also heißt es vermutlich auch im nächsten Jahr: Auf zur Buchmesse. Il faut continuer.
© Jörg Auberg — 2015 (Text und Fotos)
- Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (München: C. H. Beck, 2011), S. 63–64 ↑
- Franz Kafka, »Vor dem Gesetz«, in: Kafka, Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. Roger Hermes (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1996), S. 162 ↑
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 173 ↑
- Louis-Ferdinand Céline, Gespräche mit Professor Y (Frankfurt/Main: Luchterhand, 1989), S. 9 ↑
- Christof Wackernagel, Nadja: Erzählungen und Fragmente (Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1984), S. 7 ↑
- Ermanno Cavazzoni, Die nutzlosen Schriftsteller, übers. Marianne Schneider (Berlin: Wagenbach, 2003), S. 174 ↑
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 345 ↑
- Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 696 ↑
- Gerald Grüneklee, »Zwölfter Einwurf des Ziegelbrenners«, http://www.ziegelbrenner.com/60541–2/#more-6054 ↑
- Cavazzoni, Die nutzlosen Schriftsteller, S. 183 ↑