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Kamel Daoud: Der Fall Mersault

K

Eine monströse Wunde

Kamel Daoud  lie­fert mit sei­nem Debüt­ro­man Der Fall Mer­sault eine Gegen­dar­stel­lung zu Albert Camus‘ Roman Der Frem­de

 

Von Jörg Auberg

»Der Frem­de von Camus fand schon unmit­tel­bar nach sei­nem Erschei­nen eine sehr güns­ti­ge Auf­nah­me«1, begann Jean-Paul Sart­re sei­ne Rezen­si­on von Albert Camus’ Erst­lings­ro­man L’Étran­ger im Jah­re 1943. Mit Kamel Daouds Debüt­ro­man Der Fall Mer­sault, der eine Gegen­dar­stel­lung zu Camus’ Werk dar­stellt, ver­hält es sich ähn­lich. Für einen Roman­erst­ling, der zunächst 2013 in Algier und ein Jahr spä­ter in Frank­reich erschien, erhielt er eine unge­wöhn­li­che Auf­merk­sam­keit von Sei­ten der Kri­tik. Nicht allein in den gro­ßen inter­na­tio­na­len Tages­zei­tun­gen und Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten wur­de er von nam­haf­ten Kri­ti­kern wohl­wol­lend bis begeis­tert rezen­siert, son­dern reüs­sier­te auch sonst im inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­be­trieb: Nur knapp ver­fehl­te Daoud den renom­mier­ten fran­zö­si­schen Lite­ra­tur­preis Prix Gon­court.

Das inter­na­tio­na­le Inter­es­se an einem Erst­lings­werk eines ara­bi­schen Jour­na­lis­ten, der rela­tiv spät den Weg zur Schrift­stel­le­rei fand, liegt in sei­ner Kri­tik einer euro­päi­schen Iko­ne begrün­det. Im nega­ti­ven Sin­ne spie­gelt sich dies in der nahe­zu hys­te­ri­schen Erre­gung der bei­den Kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger und Til­man Krau­se wider, die sich in einem Kri­ti­ker­ge­spräch des Deutsch­land­funks am 14. März 2016 über Daouds »Nai­vi­tät« und »Pole­mik« hef­tig erreg­ten und in einer gro­tes­ken Arro­ganz einer deutsch gepräg­ten euro­päi­schen Über­heb­lich­keit dem ara­bi­schen Autor die intel­lek­tu­el­le Fähig­keit und Red­lich­keit abspre­chen, den fran­zö­si­schen Nobel­preis­trä­ger Camus kri­ti­sie­ren zu dür­fen. In einer frap­pie­ren­den Selbst­ge­rech­tig­keit unter­stel­len sie dem Autor Daoud eine intel­lek­tu­el­le Unfä­hig­keit, die fran­zö­si­sche Tra­di­ti­on der »impas­si­bi­li­té« von Stendhal und Gide zu begrei­fen oder den his­to­ri­schen Stand­punkt des fran­zö­si­schen Exis­ten­zia­lis­mus zu ver­ste­hen. Im ande­ren Extrem ver­gli­chen Kri­ti­ker etwas über­hitzt Daoud mit Samu­el Beckett und Jor­ge Luis Bor­ges und erho­ben den Roman in den Rang eines »unmit­tel­ba­ren Klas­si­kers« (wie bei­spiels­wei­se Robin Yas­sin-Kas­sab im Guar­di­an) oder rubri­zier­ten ihn (wie Clai­re Mes­sud in der New York Review of Books) als »ulti­ma­ti­ves Camus-Mix­tape«.2

Kamel Daoud - Der Fall Mersault (Kiepenheuer und Witsch)
Kamel Daoud — Der Fall Mer­sault (Kie­pen­heu­er und Witsch)

In sei­ner erzäh­le­ri­schen Struk­tur rekur­riert Der Fall Mer­sault – Eine Gegen­dar­stel­lung auf Camus’ Spät­werk La Chu­te (1956; dt. Der Fall). In Form einer Lebens­beich­te erzählt ein alter Mann namens Haroun einem Frem­den in einer alge­ri­schen Bar von der Tötung sei­nes Bru­ders am Strand durch Mer­sault und von den Ereig­nis­sen, die die­ser Tat folg­ten. »Die­se Geschich­te müss­te neu geschrie­ben wer­den«, pos­tu­liert der Erzäh­ler, »in der glei­chen Spra­che, aber dies­mal, wie das Ara­bi­sche, von rechts nach links.«3 Nicht allein in der Ver­wen­dung der Spra­che und in der Per­spek­ti­ve des Erzähl­ten posi­tio­niert sich der Erzäh­ler gegen das Ori­gi­nal des »Mör­der-Schrift­stel­lers«4, son­dern auch in der nar­ra­ti­ven Stra­te­gie. Anders als »die­ses nüch­tern kla­re Werk«5 (wie Sart­re Camus’ Roman L’Étran­ger klas­si­fi­zier­te) will sich der zuwei­len in Weit­schwei­fig­keit und Dig­res­sio­nen abdrif­ten­de Erzäh­ler nicht der »Mathe­ma­ti­fi­zie­rung« der Wor­te unter­wer­fen. Camus benut­ze die »Kunst des Dich­tens, um den Schuss aus einer Waf­fe zu beschrei­ben«, ruft Haroun am Anfang aus. »Sei­ne Welt ist sau­ber, wie erfüllt von der Klar­heit des Mor­gens, prä­zi­se, ein­deu­tig, durch­drun­gen von Aro­men und durch­zo­gen von neu­en Hori­zon­ten.«6 In die­ser küh­len Alge­bra der Wor­te wird jedoch die »mons­trö­se Wun­de des Kolo­nia­lis­mus«7 (wie Daoud in einem Inter­view mit dem Camus-Exper­ten Robert Zarets­ky in der Los Ange­les Review of Books sag­te) verschwiegen.

»Der Frem­de, das ist der Mensch, wie er der Welt gegen­über­steht«8, schrieb Sart­re in sei­ner Rezen­si­on, doch unter­schlägt Camus in sei­nem Roman die Tren­nung von Fran­zo­sen und Ara­ber, Kolo­ni­al­her­ren und Kolo­nia­li­sier­ten, indem er das ara­bi­sche Opfer des Alge­ri­en-Fran­zo­sen Mer­sault in der Anony­mi­tät ver­har­ren lässt. In sei­nem Buch Cul­tu­re and Impe­ria­lism aus dem Jah­re 1993 hat­te bereits Edward Said Camus vor­ge­wor­fen, durch die Namen- und Geschichts­lo­sig­keit »des Ara­bers« bewe­ge er sich in der »poli­ti­schen Geo­gra­fie Alge­ri­ens«, wie sie von der impe­ria­lis­ti­schen Macht Frank­reichs im 19. Jahr­hun­dert geschaf­fen wur­de. Dem Text sei die impe­ria­le Ges­te ein­ge­schrie­ben, lau­te­te der Vor­wurf Saids.9 Ähn­lich argu­men­tiert auch Jef­frey C. Isaac in sei­nem Arti­kel »Camus on Tri­al« in der lin­ken Zeit­schrift Dis­sent: Wäh­rend Camus in den 1930er Jah­ren als Jour­na­list in Alge­ri­en für die Rech­te der Ara­ber ein­trat, schien er sie in sei­ner Lite­ra­tur nicht wahr­zu­neh­men.10

Daouds Roman ist jedoch kei­ne res­sen­ti­ment­ge­la­de­ne Replik auf einen gro­ßen euro­päi­schen, in Alge­ri­en spie­len­den Roman, der sich der »ame­ri­ka­ni­schen Tech­nik« von Roman­au­to­ren wie Ernest Heming­way bedien­te11 (wie Sart­re in sei­ner Rezen­si­on schrieb), son­dern eine Refle­xi­on über das unge­rech­te Schick­sal des Bru­ders, »in einem Buch zu ster­ben«12, als auch des Über­le­ben­den, der unter den Rache­ge­lüs­ten der Mut­ter zu lei­den hat. Der Tod des Bru­ders las­tet wie ein Alp auf den Gehir­nen der »Zurück­ge­blie­be­nen«. Rache­durs­tig drängt die schein­bar ewig leben­de Mut­ter ihren über­le­ben­den Sohn, den sie nur als Abbild ihres ermor­de­ten Soh­nes gel­ten lässt, in die will­kür­li­che Tötung eines Kolo­ni­al­fran­zo­sen nach dem Ende der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­herr­schaft im Juli 1962. Das Opfer bleibt in Daouds Gegen­dar­stel­lung nicht namen­los, son­dern wird als »Joseph Lar­quais« benannt. Ana­log zu Mer­saults Teil­nahms­lo­sig­keit wird Haroun sei­ne Pas­si­vi­tät im »Befrei­ungs­kampf« vor­ge­hal­ten: »Den Fran­zo­sen hät­test du mit uns umbrin­gen müs­sen«, wird ihm im Ver­hör vor­ge­hal­ten, »im Krieg, nicht erst die­se Woche!«13 So unter­schei­den sich Mör­der und Befreier.

Als Resul­tat der Befrei­ung vom kolo­nia­len Sys­tem der Euro­pä­er tri­um­phier­te in Alge­ri­en schließ­lich ein neu­es Sys­tem der auto­ri­tä­ren Herr­schaft. Nicht die Eman­zi­pa­ti­on des Indi­vi­du­ums wur­de rea­li­siert, son­dern ein auf Natio­na­lis­mus und Reli­gi­on gegrün­de­te Dik­ta­tur. Für sei­ne Kri­tik der Reli­gi­on im alge­ri­schen Staat wur­de Daoud von einem alge­ri­schen Sala­fis­ten mit einer Fat­wa belegt. So ende­te die vor­geb­li­che Eman­zi­pa­ti­on Alge­ri­ens in einer neu­en bru­ta­len Herr­schaft. Einen neu­en, bes­se­ren Men­schen hat sie nicht geschaffen.

 

Bibliografische Nachweise:

Kamel Daoud.
Der Fall Mer­sault – Eine Gegen­dar­stel­lung.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Claus Jos­ten.
Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch, 2016.
208 Sei­ten, 17,99 EUR.

 

Eine kür­ze­re Fas­sung erschien in literaturkritik.de, Nr. 6 (Juni 2016)

© Jörg Auberg 2016

Nachweise

  1. Jean-Paul Sart­re, Der Mensch und die Din­ge: Auf­sät­ze zur Lite­ra­tur, 1938–1946, übers. Lothar Bai­er et al., hg. Lothar Bai­er (Rein­bek: Rowohlt, 1986), S. 75
  2. Robin Yas­sin-Kas­sab, »The Meurs­ault Inves­ti­ga­ti­on by Kamel Daoud review – an instant clas­sic«, Guar­di­an, 24. Juni 2015, http://www.theguardian.com/books/2015/jun/24/meursault-investigation-kamel-daoud-review-instant-classic; Clai­re Mes­sud, »The Brot­her of ›The Stran­ger‹, New York Review of Books, 22. Okto­ber 2015, http://www.nybooks.com/articles/2015/10/22/brother-stranger/
  3. Kamel Daoud, Der Fall Mer­sault – Eine Gegen­dar­stel­lung, übers. Claus Jos­ten (Köln: Kie­pen­heu­er und Witsch, 2016), S. 17
  4. Daoud, Der Fall Mer­sault, S. 93
  5. Sart­re, Der Mensch und die Din­ge, S. 89
  6. Daoud, Der Fall Mer­sault, S. 11
  7. »Inso­lence, Exi­le, and the King­dom: Robert Zarets­ky inter­views Kamel Daoud«, Los Ange­les Review of Books, 9. Juni 2015, https://lareviewofbooks.org/article/insolence-exile-and-the-kingdom
  8. Sart­re, Der Mensch und die Din­ge, S. 77
  9. Edward Said, Cul­tu­re and Impe­ria­lism (Lon­don: Vin­ta­ge, 1994), S. 204–224, ins­bes. S. 210 und 213
  10. Jef­frey C. Isaac, »Camus on Tri­al«, Dis­sent, Win­ter 2016, https://www.dissentmagazine.org/article/camus-on-trial-kamel-daoud-meursault-investigation-review
  11. Sart­re, Der Mensch und die Din­ge, S. 86
  12. Daoud, Der Fall Mer­sault, S. 55
  13. Daoud, Der Fall Mer­sault, S. 156

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