In einer multiperspektivischen Geschichte beschreibt Jens-Christian Wagner die Realität des KZ Mittelbau-Dora im Südharz
Von Jörg Auberg
Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow (Penguin)
He knew about Nordhausen, and the Dora camp: he could see–the starved bodies, the eyes of the foreign prisoners being marched to work at four in the morning in the freezing cold and darkness, the shuffling thousands in their striped uniforms.1
Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow
In Thomas Pynchons grandiosem Roman Gravity’s Rainbow (1973; dt. Die Enden der Parabeln) wird das KZ Mittelbau-Dora im Südharz in erster Linie als Stätte eines Rüstungskomplexes gezeichnet. Im August als Außenlager des KZ Buchenwald gegründet, wurden hier die sogenannten »Vergeltungswaffen« V1 und V2 von Zwangsarbeitern konstruiert, mit der das nationalsozialistische Deutschland den europäischen Kontinent zu zerstören suchte. Diese Charakterisierung folgt der gängigen Geschichtsschreibung. Auch der Historiker Eberhard Jäckel bezeichnete das KZ Mittelbau-Dora als »Raketenschmiede des Nazireichs«, in der »sich ein höchster Stand der Technik mit dem niedrigsten Stand der Humanität« verband.2
Produktion des Todes
Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes (Wallstein)
In seiner umfangreichen Geschichte des KZ Mittelbau-Dora Produktion des Todes widerspricht Jens-Christian Wagner, der langjährige Leiter der Gedenkstätte in Nordhausen, dieser Auffassung. Der Rüstungskomplex im Südharz war, konstatiert er, »nichts anderes als eine Fiktion, ein tödliches Konstrukt, dem Zehntausende von Menschen zum Opfer fielen«. Seiner Ansicht nach war das KZ Mittelbau-Dora weniger ein »Rüstungs-KZ« denn ein »Bau-KZ«, in dem die Häftlinge zur Zwangsarbeit für Unternehmen wie Grün & Bilfinger AG, Hochtief AG oder Philipp Holzmann AG sowie zahlreichen Bauunternehmen im Umkreis von Nordhausen getrieben wurden. »Das Hauptprodukt der Mittelbau-Lager waren nicht die noch heute mystifizierten V‑Waffen«, resümiert Wagner, sondern vor allem eines: der Tod.«3 Während Wagner das »Mittelbau-Projekt« als rüstungsindustriellen Unternehmen gescheitert ansieht, konstatierte David Cesarini in seinem posthum veröffentlichten Werk Final Solution, dass es aus deutscher Sicht durchaus ein Erfolg war: Bis zu seiner Schließung im Frühjahr 1945 wurden 6000 V1-Flugbomben und bis zu 700 Raketen jeden Monat produziert.4
Mit seiner detailreichen und quellenkritischen Studie, die Sekundärliteratur und Archivmaterialien in großen Mengen verarbeitet und trotz ihres ausgeprägten wissenschaftlichen Charakters gut lesbar ist, legt Wagner eine vielschichtige Analyse des nationalsozialistischen Lagergeflechts im Südharz vor. Zum einen beschreibt Wagner eindrucksvoll die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, denen die Häftlinge in den unterirdischen Stollen ausgesetzt waren; zum anderen analysiert er – in Anlehnung an Wolfgang Sofskys Standardwerk Die Ordnung des Terrors5 – die internen Herrschaftsprinzipien des Konzentrationslagers, wobei gerade die fehlende Ausbildung fester und damit berechenbarer Strukturen die Grundlage für den allgegenwärtigen Terror war. Darüber hinaus war die Zurschaustellung brutaler Gewalt gegen wieder ergriffene Flüchtlinge nicht nur ein Exempel der Entwürdigung und Demütigung, sondern diente auch der Demonstration der Abschreckung und totalen Macht über Leben und Tod.
Die Schizophrenie des Lageralltags bestand in dem Spannungsverhältnis zwischen Vernichtungsdruck und Ausbeutung der Häftlingsarbeit: Einerseits sollten die Häftlinge vernichtet, gleichzeitig aber ihre Arbeitskraft im Sinne der deutschen Unternehmen ausgepresst werden. Diese Widersinnigkeit artikulierte sich in den ständigen Misshandlungen der Zwangsarbeiter, die nicht allein von SS-Angehörigen, sondern auch von Unternehmern wie Curt Heber in Osterode ausgeführt wurden. Sowohl für die jeweiligen SS-Führungsstäbe wie für die lokalen Unternehmer hatten die 60.000 Häftlinge, von denen ein Drittel starben, irgendeinen Wert. »Nicht ein wie auch immer geartetes Vernichtungsprogramm, sondern die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Häftlinge war in den Mittelbau-Lagern praktizierte Logik des Todes«6, konstatiert Wagner, um mit dem Resümee »Das Hauptprodukt des Mittelbau-Projekts war der Tod«7 zu schließen. In diesem Punkt ist Wagners Argumentation fragwürdig: Weder bedurfte es eines Programms, um 20.000 Menschen auszulöschen, noch waltete im Lagerkomplex Dora-Mittelbau eine abstrakte »Logik des Todes«, die sich der uniformierten und zivilen Schergen des Terrorsystems bediente. Mit dieser Todesmetaphysik leistet Wagner unwillentlich der Entlastung der Täter Vorschub.
Im Gegensatz zur Studie Zwangsarbeit im Raketentunnel des französischen Historikers André Sellier, der selbst Häftling im KZ Mittelbau-Dora war und in seinem Buch von den »Völkern von Dora«8 spricht, arbeitet Wagner klar die Opferhierarchien heraus, die im System der Nationalsozialisten produziert wurden. An der Spitze der Häftlingshierarchie standen die Westeuropäer aus Frankreich und Belgien, gefolgt von den Osteuropäern und Russen, während sich Homosexuelle und Juden am Ende der Hierarchie wiederfanden. Die »Funktionshäftlinge« herrschten zwar über die Mithäftlinge, blieben aber stets abhängig von den Befehlsstrukturen der SS. Realiter war die »Häftlingsgesellschaft« keineswegs homogen, da sich in ihr auch die Vorurteile gegen Homosexuelle und andere »Devianten« reproduzierten. »Im Lager herrscht das Gesetz des Dschungels«9, konstatierte ein französischer Häftling.
Todesmärsche im April 1945
Zwischen Harz und Heide (Wallstein)
Als Ergänzung zu Wagners Geschichte des KZ Mittelbau-Dora kann der Begleitband zur Ausstellung Zwischen Harz und Heide: Todesmärsche im April 1945 dienen. Als die US-Armee vom Westen her nach Deutschland vorrückte, verlud die SS die Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora in Viehwaggons oder trieb sie Richtung Norden. Viele Häftlinge mussten zu Fuß von Osterode durch den Harz marschieren, ehe sie das KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide erreichten. In eindrucksvollen Fotografien und Zeichnungen der Todesmärsche, in biografischen Skizzen der Opfer und Täter dokumentiert der Band die lang verschwiegenen »Kriegsendphasenverbrechen«, wie es im deutschen Juristenargot hieß. Darüber hinaus leuchten wissenschaftliche Essays den historischen und gesellschaftlichen Raum des terroristischen Systems und seiner Opfer aus, die durch die deutschen Landschaften von Harz und Heide getrieben wurden. Ähnlich wie Wagners Geschichte des KZ Mittelbau-Dora versucht auch dieser Band, die Ereignisse multiperspektivisch darzustellen. So gelingt es, »das breite Ausmaß der Mittäter- und Komplizenschaft in der deutschen Bevölkerung« zu dokumentieren.
Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten (DTV)
Bis heute existiert die Weigerung fort, »sich der Verantwortung für die vor Ort begangenen Verbrechen zu stellen«, schreiben Regine Heubaum und Jens-Christian Wagner in ihrer Einleitung.10 Unfähig zur Scham, zum »Bewusstsein von Schuld«11 (wie es Primo Levi ausdrückte), stilisierten sich die deutschen »Eingeborenen« als Opfer, halfen Flüchtlinge einzufangen und der Wehrmacht oder der Waffen-SS zu übergeben oder in Akten der Selbstjustiz eigenhändig zu ermorden. Die »Dunkelziffer von spontanen Feindseligkeiten und organisierten der Bevölkerung gegenüber KZ-Häftlingen während der Todesmärsche« sei kaum dokumentiert, stellt Martin Clemens Winter fest.12
Gespenster der Barbarei
Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit (Hessischer Rundfunk/DAV)
Gerade in Zeiten, da sich über die deutschen Landschaften erneut der Pesthauch eines ungehemmten völkischen Nationalismus stülpt und verwehte »Geisterwesen aus dem hintersten Nirgends«13 schamlos über die »Volksgemeinschaft« schwadronieren14, ist es bitter nötig, mit solchen herausragenden Büchern die Erinnerung an das Vergangene lebendig zu halten. In seinem Vortrag »Erziehung nach Auschwitz« aus dem Jahre 1966 hatte Theodor W. Adorno die »Entbarbarisierung des Landes«15 als eines der wichtigsten Erziehungsziele postuliert. Der Nationalismus sei, sagte Adorno, »deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke an sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muß, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell.«16 Das Schlimme ist, dass dieses Urteil auch nach einem halben Jahrhundert nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Umso dringlicher sind Bücher der Erinnerung, die das historische Gedächtnis als »Ort der Utopie«17 vor der Auslöschung bewahren. Ob es am Ende gelingt, »in der Flut der hereinbrechenden Barbarei Flaschenposten zu hinterlassen«18 und überlebende Addressaten dafür zu finden, wie Adorno in Zeiten des Krieges schrieb, wird sich weisen.
Bibliografische Angaben:
Jens-Christian Wagner. Produktion des Todes: Das KZ Mittelbau-Dora. Herausgegeben von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Göttingen: Wallstein Verlag, 2015. 662 Seiten, 20 Abbildungen, 39,90 Euro.
Zwischen Harz und Heide: Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945. Herausgegeben von Regine Heubaum und Jens-Christian Wagner im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Göttingen: Wallstein Verlag, 2015. 135 Seiten, 90 Abbildungen, 14,90 Euro.
Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow (New York: Penguin, 2006), S. 435 ↩
Eberhard Jäckel, »Vorwort«, zu: André Sellier, Zwangsarbeit im Raketentunnel: Geschichte des Lagers Dora, übers. Maria-Elisabeth Steiner (Lüneburg: zu Klampen, 2000), S. 10 ↩
Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes: Das KZ Mittelbau-Dora (Göttingen: Wallstein, 2015), S. 268 ↩
David Cesarani, Final Solution: The Fate of the Jews, 1933–49 (London: Macmillan, 2016), S. 723 ↩
Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager (Frankfurt/Main: Fischer, 1997) ↩
Regine Heubaum und Jens-Christian Wagner, »Vorwort«, zu: Zwischen Harz und Heide: Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945, hg. Regine Heubaum und Jens-Christian Wagner (Göttingen: Wallstein, 2015), S. 3–4 ↩
Primo Levi, Die Untergegangen und die Geretteten, übers. Moshe Kahn (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993), S. 73 ↩
Martin Clemens Winter, »Massenverbrechen inmitten der Gesellschaft: Todesmärsche in Norddeutschland«, in: Zwischen Harz und Heide, S. 112 ↩
Joseph Conrad, Herz der Finsternis, übers. Fritz Lorch (Zürich: Diogenes, 1977), S. 117 ↩
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