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Aus den Archiven: Das Leben und nichts anderes

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AchiveDas Leben und nichts anderes

Tho­mas Waugh blickt zurück auf die Geschich­te des Dokumentarfilms

von Jörg Auberg

 

 

Als der Fil­me­ma­cher Dzi­ga Ver­tov zu Beginn der 1920er Jah­re mit dem Kino­zug durch Russ­land fuhr, um die Bevöl­ke­rung im Sin­ne der neu­en Macht­ha­ber »auf­zu­klä­ren«, woll­te – so will es die Legen­de – das Publi­kum in den Land­stri­chen der ent­ste­hen­den Sowjet­uni­on nicht län­ger mit »Kino-Wod­ka« (thea­tra­li­schen Fil­men aus der Illu­si­ons­fa­brik) belie­fert wer­den, son­dern im Kino die »unge­schmink­te Rea­li­tät« sehen. In einem Dorf sag­te ein kol­lek­ti­ves Ich zu den Film­leu­ten: »Wir ken­nen das Leben nicht. Wir haben das Leben nicht gese­hen. Wir ken­nen unser Bau­ern­dorf und die zehn Werst umher. Zeigt uns das Leben.« Für Tho­mas Waugh, der als Pro­fes­sor für Film­wis­sen­schaft und inter­dis­zi­pli­nä­re Sexu­al­wis­sen­schaft an der Con­cor­dia Uni­ver­si­ty in Mont­re­al lehrt, ist dies die Ursze­ne des »sozi­al enga­gier­ten« Doku­men­tar­films des 20. Jahr­hun­derts: Die fil­mi­sche Durch­drin­gung der mate­ri­el­len Rea­li­tät trägt zu einer Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se und Struk­tu­ren bei. 

Kino Eye
Ein­stel­lung aus Dzi­ga Ver­tovs Film Der Mann mit der Kame­ra (1929)

In sei­nem Buch The Right to Play Ones­elf, in der zehn Essays aus der Zeit zwi­schen 1975 und 2008 ver­sam­melt sind, wirft Waugh einen zwei­ten Blick auf die Geschich­te des Doku­men­tar­films, wobei es ihm – anknüp­fend an die Arbei­ten Wal­ter Ben­ja­mins und Jor­is Ivens’ in den 1930er Jah­ren – um die Inter­ak­ti­on von Dar­stel­lung und Mise-en-scè­ne in der fil­mi­schen Pra­xis geht. »Jeder heu­ti­ge Mensch kann einen Anspruch vor­brin­gen, gefilmt zu wer­den«, schrieb Ben­ja­min 1936 vol­ler Opti­mis­mus und sah im sowje­ti­schen Film die Men­schen als »Dar­stel­ler« im Arbeits­pro­zess, wäh­rend in West­eu­ro­pa »dem legi­ti­men Anspruch, den der heu­ti­ge Mensch auf sein Repro­du­ziert­wer­den hat«, die Berück­sich­ti­gung ver­wehrt wer­de. Der klas­si­sche Doku­men­tar­film, begin­nend mit Robert Fla­her­tys Nanook of the North (1922), gab vor, ledig­lich beob­ach­tend das Gesche­hen zu doku­men­tie­ren, und um den Schein der Authen­ti­zi­tät zu wah­ren, hiel­ten Regis­seu­re ihre Akteu­re stets dazu an, nicht in die Kame­ra zu bli­cken. Wäh­rend tra­di­tio­nel­le Schu­len des Doku­men­tar­films wie die von John Grier­son gepräg­te bri­ti­sche Doku­men­tar­film­be­we­gung in den 1930er Jah­ren oder die Ciné­ma Vérité/Direct Cine­ma-Rich­tung in den 1960er Jah­ren die Anwe­sen­heit der Kame­ra und ihren Ein­fluss auf das Gesche­hen ver­schlei­er­ten oder abstrit­ten, nutz­te der nie­der­län­di­sche Fil­me­ma­cher Jor­is Ivens die »Per­so­na­li­sie­rung« als Stra­te­gie, um mit Hil­fe von indi­vi­du­el­len »Dar­stel­lern« einen geschicht­li­chen Pro­zess für die Zuschau­er erfahr­bar zu machen. Die­se Hin­wen­dung zu Dra­ma­ti­sie­rung und Insze­nie­rung war jedoch nicht unpro­ble­ma­tisch, wie spä­te­re Ent­wick­lun­gen im Doku­men­tar­film zeigten.

Emile de Antonio - A Reader
Emi­le de Anto­nio: A Rea­der (Uni­ver­si­ty of Min­ne­so­ta Press, 2000)

Herz- und Glanz­stück des Buches ist der lan­ge, drei­tei­li­ge Essay über den ame­ri­ka­ni­schen Fil­me­ma­cher Emi­le de Anto­nio, in dem Waugh die Geschich­te des Doku­men­tar­films anhand der poli­ti­schen Pra­xis de Anto­ni­os kri­tisch reflek­tiert. Wäh­rend die Adep­ten des Direct Cine­ma wie Richard Lea­cock oder Donn Alan Pen­ne­bak­er in den 1960er Jah­ren den klein­bür­ger­li­chen All­tag in den USA oder die Spek­ta­kel der Pop­kul­tur abfilm­ten, arbei­te­te de Anto­nio an der poli­ti­schen Geschich­te des Kal­ten Krie­ges, ana­ly­sier­te in Point of Order (1963) und Mill­house: A White Come­dy (1971) die Mecha­nis­men von Medi­en und Herr­schaft, zeich­ne­te in In the Year of the Pig (1969) die Gene­se des Viet­nam­krie­ges nach oder begab sich in Under­ground (1976) auf die Spu­ren der damals noch klan­des­tin agie­ren­den »Wea­ther Under­ground Orga­niza­ti­on«. Zuletzt arbei­te­te er in dem auto­bio­gra­fi­schen Film Mr. Hoo­ver and I (1989) die eige­ne Geschich­te (die jahr­zehn­te­lan­ge Über­wa­chung durch das FBI) auf, wobei die an Micha­el Moo­res effekt­ha­sche­ri­sche Selbst­in­sze­nie­rung erin­nern­de Dar­stel­lung nicht über­zeu­gend gelang. Die Ent­ste­hung die­ses Essays (in sei­ner jet­zi­gen Form) zog sich über Jah­re hin (die ers­ten bei­den Abschnit­te wur­den bereits 1976/77 in der Zeit­schrift Jump Cut ver­öf­fent­licht, wäh­rend der Schluss­teil zwi­schen 2006 und 2008 ent­stand), und Waugh stellt ihm einen län­ge­ren Kom­men­tar vor­an, in dem er Kri­tik an eini­gen Posi­tio­nen übt, die er vor drei­ßig Jah­ren ver­trat, ohne sich von dem Text zu distan­zie­ren oder ihn gar zu widerrufen.

Neben die­sen drei Grö­ßen aus dem Pan­the­on des Doku­men­tar­films dis­ku­tiert Waugh auch Fil­me jen­seits des Kanons, wie etwa indi­sche Doku­men­tar­fil­me, in denen nicht ein­zel­ne Per­so­nen als Akteu­re im sozia­len Gesche­hen reden, son­dern Grup­pen, die vor der Kame­ra ein »kol­lek­ti­ves Inter­view« füh­ren. In der Dis­kus­si­on von les­bi­schen und schwu­len Doku­men­tar­fil­men wei­tet Waugh den Begriff des Doku­men­ta­ri­schen aus und schließt bei­spiels­wei­se Fil­me wie Frank Ripp­lohs Taxi zum Klo (1980) ein, der zwar auf rea­len Erfah­run­gen des Regis­seurs basiert, aber doch ein gänz­lich fik­tio­na­ler Film ist. In Waughs Augen stel­len die ver­schie­de­nen Stra­te­gien zur Reprä­sen­ta­ti­on der Rea­li­tät wie Doku-Fik­ti­on oder »Per­for­mance« eine Auf­fä­che­rung des Spek­trums des Doku­men­tar­films dar, der sich auf die­se Wei­se vie­le Mög­lich­kei­ten schaf­fe, um in die Rea­li­tät ver­än­dernd ein­zu­grei­fen, doch ver­wei­gert Waugh den Blick über den Rand des Doku­men­tar­films hin­aus: Die Auf­wei­chung der Gren­zen zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, die von Adep­ten des Gen­res mit auf­klä­re­ri­schem Impe­tus vor­an­ge­trie­ben wur­de, die Beto­nung der Sub­jek­ti­vi­tät von Akteu­ren im sozia­len Raum, die Inter­ak­ti­on zwi­schen Autor und Akteur führ­ten auch zu den bizar­ren Spek­ta­keln des Rea­li­ty-TV, das wie eine hohn­la­chen­de Par­odie auf Ver­tovs Traum eines revo­lu­tio­nä­ren Fern­se­hens erscheint.

 

Thomas Waugh - The Right to Play Oneself (University of Minnesota Press, 2011)
Tho­mas Waugh — The Right to Play Ones­elf (Uni­ver­si­ty of Min­ne­so­ta Press, 2011)

Lei­der reflek­tiert Waugh den Begriff des »sozi­al enga­gier­ten« Doku­men­tar­films nicht kri­tisch, son­dern begreift ihn in ers­ter Linie als Motor gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­rung. In Bezug auf Ver­tov und Ivens ist er von einer sen­ti­men­tal-nost­al­gisch gepräg­ten Empa­thie gegen­über den »heroi­schen Zei­ten« über­wäl­tigt und blockt eine Dis­kus­si­on der poli­ti­schen Frag­wür­dig­kei­ten die­ser Autoren ab. Ivens’ Film über den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg – Spa­nish Earth (1937) – bewegt sich im ideo­lo­gi­schen Orbit der kom­mu­nis­tisch domi­nier­ten Volks­front, ohne dies dem unbe­darf­ten Zuschau­er zu erken­nen zu geben. Die Rea­li­tät des Films reflek­tier­te nicht die Rea­li­tät des Spa­ni­schen Bür­ger­krie­ges (in dem auch eine anar­chis­ti­sche Revo­lu­ti­on statt­ge­fun­den hat­te, die im Film jedoch aus­ge­blen­det blieb), son­dern ver­hüll­te sie zu einem Groß­teil hin­ter einem ideo­lo­gi­schen Schlei­er. Zum ande­ren fei­ert Waugh Ver­tovs Film Drei Lie­der über Lenin (1934), ohne ein kri­ti­sches Wort über die Ido­li­sie­rung eines auto­ri­tä­ren Füh­rers zu ver­lie­ren, der für die Eta­blie­rung eines umfas­sen­den Unter­drü­ckungs­ap­pa­rats und die Aus­mer­zung der sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Oppo­si­ti­on ver­ant­wort­lich war. Trotz die­ser Unzu­läng­lich­kei­ten ist die­ses Buch ein gelun­ge­nes und viel­schich­ti­ges Resü­mee der Geschich­te des Dokumentarfilms. 

 

Biblio­gra­fi­sche Angaben:

Tho­mas Waugh: The Right to Play Ones­elf. Loo­king Back on Docu­men­ta­ry Film. Min­nea­po­lis: Uni­ver­si­ty of Min­ne­so­ta Press, 2011. 314 Sei­ten, 27,50 US-Dol­lar (Paper­back), 82,50 US-Dol­lar (gebun­den).

 

Zuerst erschie­nen in:  satt.org  (Janu­ar 2012) 

© Jörg Auberg

 

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