Leben im Kreisverkehr
Christof Wackernagel legt unveröffentlichte Texte zur Kulturindustrie und der RAF vor.
Von Jörg Auberg
I. In den einschlägigen Historiografien des bundesrepublikanischen Terrorismus der 1970er Jahre zählt Christof Wackernagel zu den minor characters einer überhitzten Geschichte, die von der Revolte gegen einen autoritären Staat in die Abgründe eines »Neo-Autoritarismus« führte. Obwohl er einer prominenten Künstlerfamilie entstammte und früh als Schauspieler in Filmen von Johannes Schaaf und Michael Verhoeven reüssierte, verließ er den vorgezeichneten Karriereweg und schloss sich in den frühen 1970er Jahren der radikalen Linken an.
Als »freier Mitarbeiter« in der Kanzlei des Rechtsanwalts Klaus Croissant kümmerte er sich neben anderen um das info, einen Kommunikationskanal von »authentischen« Zeugnissen aus den Gefängnissen, in denen Angehörige der Roten Armee Fraktion (RAF) einsaßen.1 In diesem Kontext ging es nicht allein darum, eine »Gegenöffentlichkeit« zur herrschenden bürgerlichen Öffentlichkeit herzustellen, sondern auch die linke »Öffentlichkeit« (sofern sie nach dem Zerfall in konkurrierende Organisationen überhaupt noch bestand) nach den Erfordernissen des RAF-Rackets zu konformieren. So versuchte der Croissant-Zirkel, die Publizierung des von Peter Brückner herausgegebenen Bandes Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse (1976) wegen »Abweichung« von der herrschenden RAF-Linie zu unterbinden.2 Offenbar spielte Wackernagel in dieser Geschichte eine unrühmliche Rolle, in der »Croissant und Co« – wie es in einer gemeinsamen Erklärung linker Buchläden hieß – »eindeutig stalinistische Methoden« anwandten3, um die Öffentlichkeit im Sinne eines militärisch agierenden leninistischen Rackets zu manipulieren. In einem Brief aus dem Jahre 1986 erinnerte Wolfgang Pohrt den prominenten RAF-Häftling aus dem Kulturmilieu an diese Episode: »Deine Zensor-Rolle, als das Erscheinen von Meinhof-Texten verhindert werden sollte, ist bei Beteiligten unvergessen.«4
II. Als Wackernagel schließlich 1977 in den Untergrund der RAF abtauchte, folgte er dem autoritären Muster der selbsternannten »Stadtguerilla« und ließ sich zum willfährigen »Befehlsempfänger« einer höheren Gewalt funktionalisieren. Auf Weisung Brigitte Mohnhaupts wurden er und sein Freund Gert Schneider im November 1977 zur »Hauptwohnung« der RAF in den Niederlanden geschickt, die längst von der Polizei überwacht wurde. Im Feuergefecht verletzten sie drei niederländische Polizisten, und der Ausflug über die niederländische Grenze kostete ihm mehrere Jahre Haft.5 Im Jahre 1980 wurde Wackernagel zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber bereits 1987 frei, nachdem er sich 1983 von der RAF offiziell gelöst hatte und Claus Peymann und andere Prominente für seine Haftentlassung eingesetzt hatten.6
In der Zeit der Haft entdeckte Wackernagel seine schriftstellerische Berufung. In einem Text aus dem Jahre 1984 schrieb er: »Dialektik der Isolation: je mehr ich abgeschlossen war, desto klarer wurde mir, dass ich denken kann, was ich will, also schreiben, was ich will – im Geiste bin ich der freieste Mensch der Welt.«7 Im gleichen Jahr veröffentlichte er im ehemals linken Verlag Stroemfeld/Roter Stern den Erzählband Nadja. Hämisch erkor ihn Wolfgang Pohrt neben Peter-Paul Zahl und Peter-Jürgen Boock zum »dritte[n] Mann in der Runde schriftstellernder RAF-Veteranen«8. Der literarische Erfolg wollte sich nicht so recht einstellen, sodass Wackernagel nach seiner Haftentlassung wieder ins Schauspielfach wechselte. Dennoch gab er das Schreiben nicht auf, auch wenn die Resultate in den Augen der Kritik eher mittelmäßig waren. Seiner Novelle Gadhafi läßt bitten (2002) konnte Heinz Ludwig Arnold, der Begründer der Zeitschrift Text + Kritik, wenig abgewinnen. »Diese unsägliche Schmonzette ist weder eine Novelle noch eine Erzählung«, echauffierte er sich, »und der Schriftsteller ist ganz offensichtlich eine Rolle, die nicht jedem Schauspieler liegt.«9
III. In seinem Buch Verlogen, dumm und unverschämt, das größtenteils unveröffentlichte Texte aus den Jahren von 1980 bis 2015 versammelt, beschreibt Wackernagel ironisch die eigene persönliche Biografie. Kurz bevor sich die RAF mit der Befreiung Andreas Baaders im Sommer erschuf, agierte Wackernagel in einer Episode der Krimi-Serie Der Kommissar, die von Herbert Reinecker konzipiert worden war, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, das sowohl für die HJ-Zeitung Junge Welt als auch die SS-Zeitschrift Das schwarze Korps geschrieben hatte.10 Jahrzehnte später agierte er wieder in »Schmonzetten« der Kulturindustrie. Das Leben verlief im Kreisverkehr: Nach »RAF-Mitgliedschaft, Gefängnis, dm gescheiterten Versuch, den bewaffneten Kampf in der BRD mit Marxens ›Kapital‹, Band I zu erklären« war er schließlich »wieder als TV-Serienkomödiant« tätig.11
Eine selbstkritische Reflexion zu den unterschiedlichen Rollen in den verschiedenen Varianten der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte findet sich in diesen Texten allerdings nicht. Eine Verlagsmitteilung insinuiert stattdessen eine mediale Verschwörung zur Unterdrückung der Wahrheit: »Die meisten Texte sind unveröffentlicht, wenn sie auch diversen Medien angeboten wurden – die Absagen gingen oft über die üblichen Routineformulierungen hinaus und waren gelinde gesagt gefühlig. Es ist also überfällig, diese unterdrückten Texte verfügbar zu machen.«12
IV. Im Vorwort formuliert Wackernagel eine grundsätzliche Kritik der »Kulturindustrie«, ohne dass er den Terminus kritisch oder historisch reflektiert. Stattdessen ergeht er sich in abstrakten verschwörungstheoretischen Behauptungen. »Kulturindustrie ist Funktion der menschenverachtenden Diktatur der Profitmaximierung«, deklamiert er im Stil eines missionarischen Kaders aus den seligen 1970er Jahren, an dem die Diskussionen der vergangenen vier Jahrzehnte spurlos vorüber gegangen sind. »Sie konditioniert die Menschen, eine Politik zu akzeptieren, die über Leichen geht. Sie spiegelt ein Leben vor, das alles Lebendige abtötet.« 13 Belege für seine Theorie präsentiert Wackernagel nicht; stattdessen changiert er in Predigten zwischen Hölle und Paradies, Verdammnis und Glückseligkeit. Eine konkrete Analyse der Herrschaftsverhältnisse – weder in den letzten beiden Jahrzehnten der »alten« Bundesrepublik noch in der Gegenwart – findet nicht statt. Stattdessen wird über die »Kulturindustrie« schwadroniert, die Wackernagel als Werbeabteilung der Politik« und als »Teil des Krieges« bezeichnet.14 Stets sind »die Menschen« Opfer einer anonymen Maschinerie, die unter dem Namen »Kulturindustrie« firmiert. Welche Akteure oder Kräfte sie am Laufen hält, bleibt jedoch im Dunkel.
Ohnehin ist der Titel des Buches irreführend. Realiter geht es um das Thema Gewalt, das für Wackernagel aufgrund der eigenen Biografie traumatische Dimensionen besitzt, die aus seiner Vergangenheit als RAF-Famulus, als Expatriate in Mali und als Akteur der deutschen Kulturindustrie resultiert, die – so lautet Wackernagels These – vor allem mit zunehmend brutaleren Krimis ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Habitualisierung der Gewalt leiste. Sendereihen wie Tatort hätten eine »gnadenlose Brutalisierung des deutschen Fernsehens in den letzten beiden Jahrzehnten« betrieben. »Permanente Gewaltdarstellung erzeugt Abstumpfung«, schlussfolgert er, und in seinen Augen ist der Mensch »ein nachäffendes Wesen«, das mit einer »atemberaubende[n] Eskalation der Gewaltdarstellung« von Quentin Tarantino bis zu Filmen der Tatort-Reihe zu immer neuen Gewaltexzessen stimuliert werde.15
V. Hinter dieser eindimensionalen Diskussion der Gewalt lugt ständig die Vergangenheit des Autors, der sich zu Beginn der 1970er Jahre nicht dem Strudel scheinbar revolutionärer »Gegengewalt« im Kampf gegen die »falsche Herrschaft« entziehen konnte und in einer kopflosen Desperado-Aktion beinahe zum Mörder geworden wäre. Nicht erst mit Filmen Quentin Tarantinos begann im Kino eine Ästhetik der exzessiven Gewalt. Gerade in den späten 1960er Jahren hatten Filme wie Bonnie and Clyde, The Wild Bunch, Die Schlacht von Algier, If … oder Il Mercenario Konjunktur, die im Sinne des damaligen Zeitgeistes Rebellion und Widerstand gegen die herrschenden Autoritäten mit Gewalt und Militanz gleichsetzten. Emblematisch für die gewaltgeschwängerte Stimmung jener Jahre war Stew Alberts Lobpreisung der Sam-Peckinpah-Produktion The Wild Bunch, er sei ein »revolutionärer Film«, weil er zeige, dass man sich »eine Kanone schnappen« müsse. Die übrigen ideologischen Konnotationen spielten offenbar keine Rolle.16
Eine kritische Auseinandersetzung mit der »kulturrevolutionären Bewegung« der 1960er und 1970er Jahre, als deren militanter Arm die RAF zu agieren schien, findet bei Wackernagel nicht statt. In seinen Texten verkörpert die »originale« RAF eine gerechte Rebellion gegen die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft und die bisher fundamentalste Opposition, wobei in der Kulmination des »Deutschen Herbst« im Jahre 1977 Hanns Martin Schleyer als »Symbol der nicht überwundenen Nazizeit« entführt wurde, ehe die »Stadtguerilla« die eigenen Intentionen pervertierte und sich in einem Strom der Regression und Bewusstlosigkeit verlor.17 Dass die RAF seit ihrer Gründung als autoritäres Racket agierte, verschweigt Wackernagel in seiner falschen Heroisierung der »originalen« RAF. »Das Racket kennt kein Erbarmen mit dem Leben außer ihm, einzig das Gesetz der Selbsterhaltung«18 Der Apostat verteidigt trotz aller inhaltlichen Differenzen immer wieder das Racket. Dem Film Stammheim (1986) attestiert er die »Ästhetik eines Pornos«, eines Genres, das »Ersatzbefriedigung für Verklemmte« darstelle. Auf der anderen Seite kritisiert er Christian Geisslers RAF-Roman kamalatta (1988) für dessen »Innerlichkeitsgebrodel«, in dem sich das »Pathos des Absoluten« mit der selbstgerechten deutschen Tiefe paarte (wie Theodor W. Adorno in seinem Vortrag »Auf die Frage: Was ist deutsch« diese perennierende Mesalliance in den deutschen Landschaften beschrieb19). Für Wackernagel war Geissler der »Durchhaltepropagandist aus dem sicheren Hinterland«.20 Mit dieser Kritik, die Geissler-Fans als »Vorarbeiten« einer »antilinken« Kampagne galt, wurde Wackernagel als »ein früherer Gefangener aus der RAF« von selbsternannten Mundstücken einer »radikalen Linken« exkommuniziert.21 In jenen Jahren wurde die RAF noch als Vollstrecker einer »Gegenmacht« verherrlicht, ehe ihr später – nach ihrem organisatorischen Ableben – in einem prototypischen Fall des gängigen Opportunismus im Milieu des Journalismus Antisemitismus und Nationalismus nachgewiesen wurde.22 Eine kritische Analyse des bundesrepublikanischen Terrorismus, die auch eine Selbstreflexion der Schreibenden einschließen müsste, sucht man vergeblich.
Das Problem dieses Bandes ist die fehlende konzeptionelle und intellektuelle Struktur. Weder wird er einer Kritik der Kulturindustrie noch einer »Aufarbeitung der Vergangenheit« im Sinne Adornos gerecht, um den Bann des Vergangenen zu brechen.23 Wackernagels Buch ist nicht mehr als eine Sammlung weitgehend unveröffentlichter Texte aus den letzten 35 Jahren, die in Rohform präsentiert werden. Die points of intersection der Geschichte muss sich der Leser selbst erschließen. Die eigene Verantwortung in den verschiedenen zeitgeschichtlichen Prozessen – sowohl als Mitglied in linken »Strukturen« der 1970er Jahre als auch als Angestellter der Kulturindustrie – thematisiert Wackernagel zu keinem Zeitpunkt. Diese Unfähigkeit zur kritischen Introspektion ruiniert schließlich auch die intellektuelle Aufrichtigkeit dieses Buches.
Bibliographische Angaben:
Christof Wackernagel.
Verlogen, dumm und unverschämt:
Kulturindustrie von 1977 bis heute.
Münster: Oktober Verlag 2015.
218 Seiten, 17,90 EUR.
© Text: Jörg Auberg 2016
© Fotos: Archiv des Autors
Nachweise
- Cf. Pieter Bakker Schut, das info: Briefe der Gefangenen aus der RAF, 1973–1977 (Kiel: Neuer Malik Verlag, 1987) ↩
- cf. Buchstäblich Wagenbach, 50 Jahre: Der unabhängige Verlag für wilde Leser (Berlin: Wagenbach, 2014), S. 65; Uwe Sonnenberg, Von Marx zum Maulwurf: Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren (Göttingen: Wallstein Verlag, 2016), S. 422–428 ↩
- Zitiert in: Sonnenberg, Von Marx zum Maulwurf, S. 425 ↩
- Wolfgang Pohrt, Gewalt und Politik: Ausgewählte Reden & Schriften, 1979–1993, hg. Klaus Bittermann (Berlin: Edition Tiamat, 2010), S. 278 ↩
- Butz Peters, Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF (Frankfurt/Main: Fischer, 2007), S. 478–479 ↩
- Ulf G. Stuberger, Die Akte RAF: Taten und Motive, Täter und Opfer (München: Herbig, 2008), S. 292–293 ↩
- Kassiber: Verbotenes Schreiben (Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 2012), S. 194 ↩
- Pohrt, Gewalt und Politik, S. 281. Dabei brachte Pohrt einiges durcheinander: Zahl gehörte, auch wenn die Anklage anderes behauptete, niemals zur RAF. ↩
- Heinz Ludwig Arnold, »Besuch beim großen Intendanten«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Mai 2002, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-besuch-beim-grossen-intendanten-162947.html ↩
- Die Folge Doktor Meinhardts trauriges Ende wurde 1969 gedreht und am 13. März 1970 ausgestrahlt. Quelle: http://www.kommissar-keller.de/) ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt: Kulturindustrie von 1977 bis heute (Münster: Oktober Verlag, 2015), S. 193 ↩
- Verlagsmitteilung, 2. November 2015 ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt, S. 9 ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt, S. 11 ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt, S. 176, 195–196 ↩
- Todd Gitlin, The Whole World is Watching: Mass Media in the Making and the Unmaking of the New Left (Berkeley: University of California Press, 1980), S. 201; Stew Albert (1939–2006) gehörte zu den Gründern der Yippies und war Mitherausgeber der Anthologie The Sixties Papers (1984) ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt, S. 47, 103, 106 ↩
- Max Horkheimer, »Die Rackets und der Geist«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 290 ↩
- Theodor W. Adorno, Stichworte: Kritische Modelle 2 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969), S. 106, 112 ↩
- Christof Wackernagel, Verlogen, dumm und unverschämt, S. 64; Wackernagel argumentiert in seinem Text ähnlich wie Klaus Jünschke: cf. »›Begreifen, daß Krieg ist, und sich entscheiden‹: Klaus Jünschke über Christian Geisslers Roman ›kamalatta‹«, Der Spiegel, Nr. 12 (1989), S. 234–242 ↩
- Oliver Tolmein, »Ästhetik des Kampfes«, Konkret, Nr. 12 (1988), S. 14 ↩
- William Wright, »Was hat der Deutsche Herbst mit dem 11.9. zu tun? Wider die Einebnung des Oben-Unten-Gegensatzes in Gesellschaftsanalysen«, Graswurzelrevolution, Nr. 273 (November 2002), http://www.graswurzel.net/273/herbst.shtml ↩
- Theodor W. Adorno, Eingriffe: Neun kritische Modelle (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1963), S. 146 ↩