Im Westen nichts Neues
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]Elliot Neaman erzählt die Geschichte der Neuen Linken in der Bundesrepublik aufs Neue[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]
Von Jörg Auberg
Nichts wird wieder sein wie vordem.
Jean Améry (1974)1
In Jubiläumsansprachen zum Jahr 1968 und zur damals stattgefundenen Jugendrevolte wurde häufig der utopische Charakter der internationalen Rebellion betont. Zwanzig Jahre nach dem historischen Ereignis hob Thomas Schmid, damals noch Lektor im Verlag Klaus Wagenbach, in einer Art Denkschrift hervor, die Bewegung von 1968 sei libertär und antiautoritär gewesen und habe zu einer Modernisierung Westdeutschlands beigetragen, obgleich der »Grundstein für die spätere demokratische Normalität« bereits während der Gründung der Bundesrepublik mit ihrer Entscheidung für die Westbindung und die soziale Marktwirtschaft gelegt worden sei.2 Mittlerweile haben sich die deutschen Verhältnisse weiter nach rechts verschoben: Nicht allein Schmid, der in den 1970er Jahren zur Gruppe Revolutionärer Kampf in Frankfurt am Main gehörte und in der Redaktion der linksradikalen Zeitschrift Autonomie arbeitete, wechselte die Fronten und nahm unterschiedliche Führungspositionen im Springer-Verlag ein. Auch rechtsextreme Politiker möchten die Uhr in deutschnationale Zeiten zurückdrehen. So redete beispielsweise der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Meuthen, ein führender Funktionär der Rechtsaußenpartei AfD, vom »links-rot-grün versifften 68er-Deutschland«3, während die AfD-Vorsitzende Frauke Petry den Begriff »völkisch« rehabilitieren möchte4.
Mit seinem Buch Free Radicals verfolgt der an der Universität von San Francisco lehrende Historiker Elliot Neaman den Anspruch, einen neuen Blick auf die Jugendrevolte in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren zu werfen und die Geschichte der 68er Bewegung – unter Einbeziehung von Archivdokumenten unter anderem aus den Beständen der Staatssicherheit der DDR – einer Neubewertung zu unterziehen. Neamans Erzählung orientiert sich in erster Linie an der Geschichte des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) vom Ausschluss aus der SPD zu Beginn der 1960er Jahre bis zu dessen Auflösung im Jahre 1970, wobei die Ereignisse der Jahre 1967 und 1968 als Höhepunkte in den politischen und ideologischen Entwicklungen der Zeit in separaten Kapiteln abgehandelt werden. In Nebensträngen werden subkulturelle Gruppen wie die Situationisten, »Haschrebellen« oder Hippies (vor allem im Umfeld von Berlin und München) beleuchtet, ehe die 68er-Bewegung in den 1970er Jahren – in Neamans Perspektive – spektakulär im Terrorismus der RAF verendet.
In den Augen Neamans war das deutsche Projekt »68« im Gegensatz zu anderen Protestbewegungen in Frankreich, Italien, Lateinamerika oder den USA durch den explizit deutschen Charakter beschädigt. Trotz des stets behaupteten internationalen Charakters der Revolte waren in der deutschen Protestbewegung deutliche Spuren von Antisemitismus, Antiamerikanismus und Nationalismus vorhanden, die sich schließlich in den 1970er Jahren in einer irrealen Politik der terroristischen Gewalt verlor. Nach Neamans Ansicht war die politische Bedeutung eher marginal, da sie es versäumten, organisatorische Strukturen aufzubauen, mit denen sie ihre Vision einer anderen, gerechteren Gesellschaft hätten umsetzen können. Erst mit der Etablierung der Grünen im Parteiensystem der Bundesrepublik gelang für Neaman ein linkes Projekt der politischen Nachhaltigkeit. Doch in Paraphrase Russell Jacobys ließe sich sagen: Huldigung des Erfolgs ist Huldigung der Selbstaufgabe.5
Entgegen dem Anspruch, eine neue Sichtweise der außerparlamentarischen Opposition (APO) in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre zu präsentieren, erschöpft sich Neamans Buch jedoch in der Wiederaufbereitung einer Mainstream-Historiografie, die von ex-linken Konvertiten wie Wolfgang Kraushaar, Götz Aly, Gerd Koenen und anderen bestimmt wird, ohne dass Neaman sich zu einer Form der Quellenkritik aufraffen könnte. Ähnlich verhält es sich bei der mutmaßlichen Einflussnahme der DDR-Staatssicherheit auf handelnde Personen, Medien und Organisationen der Neuen Linken: Stets schon herrscht ein antikommunistischer Tenor vor, der sich über die »Unterwanderung« ereifert, während Neaman kontinuierlich die Konzentration ökonomischer Macht in den Händen des Springer-Konzerns und dessen maßgebliche Beeinflussung der politischen Prozesse in der Bundesrepublik verharmlost.
Zudem verengt Neaman die »Jugendrevolte« in der Bundesrepublik auf wenige »Medienzelebritäten« wie Rudi Dutschke, Dieter Kunzelmann oder Ulrike Meinhof, während er zentrale Gestalten der Bewegung der »68er« wie etwa Hans-Jürgen Krahl6 en passant abfertigt. Eine kritische Auseinandersetzung zur gegenseitigen Einflussnahme von Medien und politischer Opposition (wie sie für den US-amerikanischen SDS Todd Gitlin vornahm) findet sich bei Neaman ebenso wenig wie eine Analyse der »Kulturrevolution«, die über die »maoistische« Konnotation hinaus ginge.7 Auch die Auflösung der Neuen Linken in diverse marxistisch-leninistische, trotzkistische oder anarchistische Mikro-Rackets zu Beginn der 1970er Jahre oder die Zerfaserung der öffentlichen politischen Arbeit in kleinteilige Fabrikagitation durch linksradikale Betriebsgruppen8 finden bei Neaman ebenso wenig Berücksichtigung wie jegliche Beschäftigung mit der »Gegenkultur« und »Gegenöffentlichkeit« der Zeit.9 Stattdessen verharrt Neamans Erzählung in einem äußerst eng gefassten Begriff des Politischen.
Zudem problematisiert Neaman niemals den Begriff der »antiautoritären Revolte«, unter dem das »Projekt 68« in der konventionellen Historiografie firmiert. Zwar reklamierten die Mitglieder der APO für sich, gegen die Autoritäten des »postfaschistischen« Staates aufzubegehren und für eine »Redemokratisierung dieses Landes«10 zu kämpfen, doch war das Verhältnis der Aktivisten zur »Autorität« stets schon ambivalent. Vor allem nach 1967, als sich für die APO zunehmend die »Organisationsfrage« stellte und die Revoltierenden in einem revolutionären Prozess wähnten11, griff der autoritäre Charakter auf die Handelnden selbst über, die als ideologische Scheinriesen durch die Westberliner Provinz staksten, als würde dort ein Technicolor-Remake der Oktoberrevolution in Szene gesetzt. In der selbsternannten Avantgarde setzte sich schließlich der autoritäre Charakter, den sie vorgeblich bekämpfte.
[otw_shortcode_quote border_style=“bordered” background_pattern=“otw-pattern‑2” background_color=“#eff5f7”]»Wie in den Anti-Autoritären Autorität fortwest, so staffieren sie ihre negativ besetzten imagines mit den traditionellen Führerqualitäten aus und werden unruhig, sobald sie anders sind, nicht dem entsprechen, was die Anti-Autoritären insgeheim doch von Autoritäten begehren. Die am heftigsten protestieren, gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion; wo sie sich mit sich beschäftigen, geschieht es kritiklos, richtet sich ungebrochen, aggressiv nach außen. Die eigene Relevanz überschätzen sie narzißtisch, ohne zureichenden Sinn für Proportionen.« – Theodor W. Adorno, 196912[/otw_shortcode_quote]
In seiner konventionellen Historiografie dringt Neaman nie zu den tieferen Schichten der Geschichte vor, sondern begnügt sich damit, Zitat an Zitat aneinanderzureihen, um die ausgewählten Akteure nach seinem Szenario am Nasenring durch seine Manege zu führen. Anstatt intellektuelle Kritiker der Linken wie Jean Améry oder Ulrich Sonnemann einzubeziehen, die im »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« gegen die »Planierraupen der Geschichtsverdrängung« auch die verschiedenen Schattierungen der Linken nicht von der notwendigen Kritik ausnahmen13, einzubeziehen, repetiert Neaman lediglich die Geschichtsurteile seiner Vorgänger, aus deren Büchern er ausgiebig zitiert. Dabei unterlaufen ihm nicht allein zahlreiche orthographische und bibliographische Fehler (die in ihrer Häufung zum Ärgernis werden), sondern in seiner mangelnden handwerklichen Sorgfalt produziert er auch inhaltliche Fehler, die einem selbsternannten Experten des Sujets nicht passieren dürften. So bezeichnet er Ralf Reinders als »Mitglied der Haschrebellen und später der RAF«, obwohl er zur »Bewegung 2. Juni« gehörte. An anderer Stelle spricht er von »Fritz Teufel und Rainer Kunzelmann« (wobei er verschiedene Personen kurzerhand vermischt) oder von einem inexistenten »Rolf Hisser«, der realiter den Namen »Rolf Heißler« trägt.14 Um die Kritik des autoritären Staates zu diskreditieren und die Gesellschaftskritik der Neuen Linken als antiquiert zu desavouieren, deklariert er Max Horkheimers Essay »Autoritärer Staat« und die Studie The Autoritarian Personality als »Reinkarnation der letzten Jahre der Weimarer Demokratie«, obgleich diese Texte in den 1940er Jahren im US-amerikanischen Exil auf Basis aktueller Studien in den USA des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaft entstanden.15
Letztlich erfüllt Neamans Buch mit seinen zahlreichen Fehlern kaum den Ansprüchen einer seriösen Wissenschaft, sondern hat eher den Charakter eines spektakularistisch aufgeheizten »politischen Thrillers«16, als den es sein Autor im Vorwort anpreist, wobei die Ideologie den Plot überlagert. So hält sich die Spannung beim Lesen in Grenzen, denn all das, was Neaman aufzubieten hat, war vor Jahren schon anderswo zu lesen. Auch das Personal aus dem Remake von The Good, the Bad, and the Ugly vermag keine Überraschungen zu bieten. Großspurig betritt Neaman am Anfang als Erzähler einer kritischen Geschichte die Bühne, doch nach seinem Abtritt bleibt nur die Erinnerung an eine klägliche Vorstellung zurück, die schnell und zurecht in Vergessenheit gerät.
Bibliographische Angaben:
Elliot Neaman.
Free Radicals:
Agitators, Hippies, Urban Guerillas, and Germany’s Youth Revolt of the 1960s and 1970s.
Mit einem Vorwort von Timothy W. Luke.
Candor, NY: Telos Press, 2016.
272 Seiten, 24,95 US-Dollar.
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]
© Jörg Auberg 2016
[otw_shortcode_content_box title=“Bildquellen” title_style=“otw-regular-title” icon_type=“social foundicon-delicious”]
Cover Free Radicals — Telos Press 2016
Szenenfotos Ruhestörung — Ereignisse in Berlin 1967 (Hans Dieter Müller und Günther Hörman, 1968); aus: Wilhelm Roth, Der Dokumentarfilm seit 1960 (München: Bucher, 1982)
[/otw_shortcode_content_box]
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]
Nachweise
- Jean Améry, »Für eine Volksfront dieser Zeit: Prinzipien einer aktuellen Linken«, in: Améry, Werke, Band 7, hg. Stephan Steiner (Stuttgart: Klett-Cotta, 2005), S. 347 ↩
- Thomas Schmid, »Die Wirklichkeit eines Traums: Versuch über die Grenzen des autopoietischen Vermögens meiner Generation«, in: Schmid et al., Die Früchte der Revolte: Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung (Berlin: Wagenbach, 1988), S. 9, 16; zur Kritik siehe Jörg Auberg, »Die Illusion fährt mit der Straßenbahn: Intellektuelle Metamorphosen«, Die Aktion, Nr. 58–59 (November 1989):901–911 ↩
- Sabine am Orde, »AfD, die neue Heimat für Rechtsextreme«, taz, 16. Juni 2016, S. 3 ↩
- taz, 12. September 2016, S. 6 ↩
- »Homage to success is homage to violence«, in: Russell Jacoby, Dialectic of Defeat: Contours of Western Marxism (Cambridge: Cambridge University Press, 1981), S. 4 ↩
- Cf. Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf: Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution (Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik, 1971) ↩
- Cf. Todd Gitlin, The Whole World is Watching: Mass Media in the Making and Unmaking of the New Left (Berkeley: University of California Press, 1980); agit 883: Revolte – Underground in Westberlin, 1969–1972, hg. rotaprint 25 (Berlin: Assoziation A, 2006) ↩
- Cf. u. a. Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen: Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre (Berlin: Rotbuch, 2012); Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein: Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991 (Berlin: Assoziation A, 2002); Jan Ole Arps, Frühschicht: Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren (Berlin: Assoziation A, 2011) ↩
- Cf. Jörg Auberg, »Texte und Kadaver: Vom Elend der Gegenöffentlichkeit«, in: Verzeichnis der Alternativmedien: Ausgabe 1991/92 (Berlin: Edition ID-Archiv, 1992), S. 12–23 ↩
- Ulrike Meinhof, »Enteignet Springer«, in: Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar: Aufsätze und Polemiken (Berlin: Wagenbach, 1986), S. 105 ↩
- Cf. Wolfgang Dreßen, Antiautoritäres Lager und Anarchismus (Berlin: Wagenbach, 1968) ↩
- Theodor W. Adorno, »Marginalien zu Theorie und Praxis«, in: Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 774 ↩
- Ulrich Sonnemann, Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten: Deutsche Reflexionen (I), hg. Paul Fiebig (Springe: zu Klampen, 2014), S. 101; Jean Améry, Sektion »Links, wo keine Heimat ist«, in: Amery, Werke, Bd. 7, S. 295–399 ↩
- Elliot Neaman, Free Radicals: Agitators, Hippies, Urban Guerillas, and Germany’s Youth Revolt of the 1960s and 1970s (Candor, NY: Telos Press, 2016), S. 61, 127, 195 ↩
- Neaman, Free Radicals, S. 218 ↩
- Neaman, Free Radicals, S. 5 ↩