Blick in den Höllenschlund
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Ian Kershaw erzählt in seinem meisterlichen Buch Höllensturz die Geschichte der europäischen Selbstzerstörung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Von Jörg Auberg
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewegten sich nahezu alle Länder auf dem europäischen Kontinent in zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen am Rande der Selbstauslöschung. »Jeder europäische Krieg war ein Krieg, der von Europa verloren wurde«, kommentierte im Dezember 1944 Cyril Connolly in der englischen Literaturzeitschrift Horizon.1 Am Ende der Vernichtung blieben alle als Verlierer in den verbrannten Territorien Europas zurück. Die Geschichte des dreißigjährigen »Bürgerkrieges«2 in Europa vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Jahre 1949, als mit der Gründung des Europarats der Versuch einer politischen Neugestaltung unternommen wurde, beschreibt Ian Kershaw in seinem Buch Höllensturz.
[pullquote]»Man stirbt für seine Ideale, weil es sich nicht lohnt, für sie zu leben. Oder: es ist als Idealist leichter zu sterben als zu leben.« – Robert Musil[/pullquote] Für Kershaw ist der Erste Weltkrieg die »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts«3 (wie George Kennan sie markant betitelte), der die Monstren des völkischen Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Autoritarismus entstiegen und die den Boden für die noch größere Katastrophe des Zweiten Weltkrieges bereitete. In den Augen Kershaws taumelten die europäischen Mächte Deutschland, Österreich Frankreich, England und Russland keineswegs »schlafwandlerisch« in das »große Massaker«, sondern nahmen in ihrem machtpolitischen Kalkül den Krieg klar in Kauf, unterschätzten aber die Heftigkeit und Langwierigkeit der militärischen Auseinandersetzungen. Aufgrund des technischen Fortschritts in der militärischen Technologie hofften die Machthaber und ihre Generäle vor allem in Deutschland auf einen kurzen und regional beschränkten Konflikt und besaßen keine Vorstellung, welchen katastrophalen Flächen- und Weltenbrand sie mit ihren Aktionen anrichteten. Für Robert Musil ließ sich dieser Krieg auf eine einfache Formel bringen: »Man stirbt für seine Ideale, weil es sich nicht lohnt, für sie zu leben. Oder: es ist als Idealist leichter zu sterben als zu leben.«4
Am Ende brachte dieser Krieg nicht allein Zerstörung und millionenfachen Tod, sondern bahnte auch den Weg für faschistische Bewegungen und Regime in ganz Europa und den Aufstieg einer autoritären kommunistischen Diktatur in Russland, die in den kommenden Jahrzehnten um die globale Hegemonie stritt. Aus einer panoramatischen europäischen Perspektive stellt Kershaw die politischen Entwicklungen nicht nur von Staaten wie England, Frankreich, Russland und Italien dar, sondern verliert auch jene in Ländern der Peripherie wie Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der Ukraine nicht aus den Augen. Das Europa der Nachkriegszeit stellte sich als ein zerklüftetes Terrain dar, in dem in manchen Ländern die Demokratie den Anfeindungen und Übergriffen autoritär-faschistischer Gruppen und Bewegungen widerstand, während anderswo die extreme Rechte leichtes Spiel hatte und das »Andere« oder das »Fremde« aus ihren Landschaften in Pogromen oder ethnischen Säuberungen tilgten. In den 1930er Jahren triumphierte die Herrschaft des Autoritarismus, in dem einzig das Recht des Stärkeren galt.
Beeindruckend ist an Kershaws Buch nicht allein die Masse der Literatur, die Kershaw verarbeitet, sondern auch seine herausragende Fähigkeit, all die Fakten und Ereignisse der Jahrzehnte zu einer empathischen, von einer konsistenten Spannungsdichte geprägten Darstellung zu verknüpfen, wobei er auf einen wuchernden Fußnotenapparat verzichtet und mit Zitaten sparsam und sorgfältig umgeht. Dabei kommt er dem von Theodor W. Adorno postulierten Ideal eines »anständig gearbeiteten Textes« sehr nahe: »Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt.«5
Aber trotz aller Brillanz hat auch Höllensturz seine Schwächen. So vernachlässigt Kershaw zum einen das Problem des Kolonialismus, das in dieser Geschichte des europäischen „Bürgerkrieges“ kaum vorkommt, aber bis heute die politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Europa beeinflusst. Zum anderen verhindert der weite Blick auf das europäische Panorama zuweilen eine schärfere Analyse der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Ein Beispiel hierfür ist Kershaws Beschreibung der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 (im englischen Original »Nazi takeover« genannt, während sie in der deutschen Übersetzung mal mit »Machtübernahme« und mal mit dem eine Usurpation insinuierenden Begriff der »Machtergreifung« bezeichnet wird). »Als der Würgegriff der Krise immer enger wurde«, schreibt er, »zerbrach das Gesellschaftsgefüge, und die ideologische Kluft vertiefte sich zum Abgrund.«6 In seiner Interpretation brach sich in einer deutschen »Gefühligkeit« eine Sehnsucht nach nationaler Rettung Bahn, die in die nationalsozialistische Machtübernahme mündete.
Dabei erweckt Kershaw den Eindruck, als wären die »traumatisierten Deutschen«7 lediglich Opfer über- oder unmenschlicher Kräfte, nicht aber verantwortlich für das geschichtliche Geschehen. Zwar kritisiert er später die Grundtendenz der Deutschen, sich stets als Opfer zu stilisieren, während sie die Schuld anderen aufbürdeten, doch wird der Erzähler an solchen Stellen selbst Opfer seiner humanen Empathie. Bereits in einer Rezension von Kershaws Buch The End: Hitler’s Germany, 1944–45 (2011) in der Zeitschrift The New Statesman hatte der im Jahre 2015 verstorbene Historiker David Cesarani (Autor der monumentalen Studie Final Solution: The Fate of the Jews 1933–49) moniert, dass Kershaw das Ausmaß unterschätze, in dem die »gewöhnlichen Deutschen« sich in die stets größere tägliche Unmenschlichkeit im »Dritten Reich« eingelebt hatten.8
Trotz dieser Einwände ist Höllensturz ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung – gerade in Zeiten, da die »bösen Geister« in neuen Kostümen auf die europäische Bühne zurückgekehrt sind. In seinem empathischen Humanismus erinnert Kershaw an Cyril Connolly, der kurz vor Weihnachten 1944 von einem »Europa ohne Pässe« schwärmte, von einer kulturellen Einheit, wo alle frei wären, dorthin zu gehen, wohin sie wollten, sagen, was sie wollten, tun, was sie wollten und bezahlen, wie sie wollten. Connolly träumte von einer »europäischen Föderation«, die den »ökonomischen Nationalismus« gegen einen »internationalen Regionalismus« eintauschte und einen dritten Weltkrieg verhinderte.9 Kershaws Buch ist eine mahnende Erinnerung daran, wohin der destruktive Charakter eines engstirnigen Nationalismus führen kann.
Ian Kershaw.
Höllensturz: Europa 1914 bis 1949.
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016.
768 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN: 978–3‑421–04722‑9
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Eine kürzere Fassung erschien in literaturkritik.de, Nr. 1 (Januar 2017)
© Jörg Auberg 2016
Cover To Hell and Back — Allen Lane 2015
Cover Höllensturz — Deutsche Verlags-Anstalt 2016
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Nachweise
- Cyril Connolly, »Comment«, Horizon, Dezember 1944, S. 368, zit. in: Ian Buruma, Year Zero: A History of 1945 (London: Atlantic Books, 2014), S. 254 ↩
- Cf. Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt: Der europäische Bürgerkrieg, 1914–1945, übers. Michael Bayer (München: Siedler, 2008) ↩
- Cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Urkatastrophe_des_20._Jahrhunderts ↩
- Robert Musil: »Das Ende des Krieges«, in: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Reinbek: Rowohlt, 1978), S. 1342 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 108 ↩
- Ian Kershaw, Höllensturz: Europa 1914 bis 1949, übers. Klaus Binder et al (München: DVA, 2016), S. 293 ↩
- Kershaw, Höllensturz, S. 547 ↩
- David Cesarani, »The End: Hitler’s Germany, 1944–45«, New Stateman, 5. September 2011, http://www.newstatesman.com/books/2011/09/germany-1944-hitler-germans« ↩
- Cyril Connolly, »Comment«, Horizon, Dezember 1944, S. 368, zit. in: Ian Buruma, Year Zero, S. 254 ↩