Spuren des italienischen Anarchismus (I):
Der Anarchist als Nomade
Fausto Buttà spürt der Geschichte der italienischen Anarchisten in Mailand nach
Von Jörg Auberg
Die italienischen Anarchisten waren, schreibt Nunzio Pernicone in seiner grundlegenden Geschichte des italienischen Anarchismus im späten 19. Jahrhundert, »eine faszinierende und wichtige Gruppe von Revolutionären«. In den Jahrzehnten zwischen dem Risorgimento und dem Aufstieg des Faschismus repräsentierten sie eine Hauptkomponente der italienischen Linken. »Der Anarchismus, nicht der Marxismus, war der ideologische Strom, der die italienische sozialistische Bewegung in ihren ersten fünfzehn Jahren ihrer Entwicklung dominierte und größtenteils bestimmte«, unterstreicht Pernicone.1 Dennoch konnte der Anarchismus der italienischen Linken nicht dauerhaft seinen Stempel aufdrücken. Einen Grund hierfür sieht der kanadische Schriftsteller George Woodcock in der Tendenz anarchistischer Bewegungen, sich eher auf regionale Gegebenheiten zu konzentrieren, als sich landesweit zu organisieren und auf nationaler Ebene zu agieren.2
Mailand als Ort des Übergangs
Diese regionale Ausrichtung ist Thema des Buches Living Like Nomads, in dem Fausto Buttà, ein in Mailand aufgewachsener und an der University of Western Australia lehrender Historiker, die Geschichte der Mailänder Anarchistenbewegung bis zur faschistischen Machtübernahme in den 1920er Jahren beschreibt. Auf Grund der Industrialisierung zog die Stadt Migranten aus den ländlichen Regionen Italiens an und entwickelte sich zu einer frühen Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung. Mailand war ein Schmelztiegel, schreibt Buttà, eine »dynamische Stadt« und ein »Ort des Übergangs«, der »nomadische Geschöpfe« aus der anarchistischen Bewegung anzog, aber auch wieder abstieß. Anarchisten im 19. und im frühen 20. Jahrhundert »lebten wie Nomaden«, argumentiert Buttà – in erster Linie auf Grund der staatlichen Repression, doch entsprach dieses Nomadendasein auch ihrer »inneren Tendenz«, umherzuziehen, zu emigrieren, zurückzukehren, unterzutauchen und erneut aufzubrechen. Mit ihrer Mobilität entflohen sie der Unterdrückung und Inhaftierung durch die staatlichen Autoritäten; zugleich betonten sie damit ihre Lust aufs Neue und unterstrichen ihre Modernität.
Ein Resultat dieser Mobilität war ein ständiges Kommen und Gehen, sodass der anarchistischen Bewegung Stabilität und Konstanz fehlten. Zudem zeichnete sie ein überaus heterogener, wenn nicht gegensätzlicher Charakter aus: Organisationsfeindliche Individualisten gehörten zu diesem Zirkel ebenso wie auf Organisation dringende Anarchokommunisten, libertäre Pädagogen, Antimilitaristen und revolutionäre Anarchosyndikalisten. Die Diversität der anarchistischen Bewegung in Mailand schildert Buttà in mehreren Kapiteln über das Verhältnis der Anarchisten zur libertären Pädagogik, zur Arbeiterbewegung, zum Antimilitarismus und zum antifaschistischen Widerstand. Obgleich sie Alternativen zu den real existierenden, oft dysfunktionalen Formen der Politik anboten, vermochten sie es nicht, die historischen Verhältnisse nach ihren Modellen zu prägen.
»In Mailand waren anarchistische Theorien und soziale anarchistische Praktiken komplementär«, schreibt Buttà; »sie beeinflussten sich gegenseitig, waren miteinander verflochten und ineinander integriert.« Dass sich die verschiedenen Konstituenten der »Bewegung« sich aber tatsächlich in einer radikalen Harmonie, in einem Vorgriff auf eine ideale Gesellschaft »multisozialer« und »multikultureller« Praxis bewegten, erscheint angesichts der starken Differenzen in der Geschichte des Anarchismus fragwürdig. Anders als beispielsweise Paul Avrich, der die divergierenden Facetten des Anarchismus im Kontext des Modern School Movement in den USA zwischen 1910 und 1960 beschrieb3, erschöpft sich Buttà in Behauptungen, ohne sie historisch zu belegen. »Wie Orpheus muß der Historiker in die Unterwelt hinabsteigen, um die Toten ins Leben zurückzubringen«4, schrieb Siegfried Kracauer. Dieser Aufgabe des Historikers wird Buttà jedoch nicht gerecht, da er mehr als Ideologe denn als Historiker agiert. Seine Geschichte präsentiert er – trotz aller akribisch aufgelisteten Quellen – als Verklärung der historischen Realität, die er mit stark geglätteter Oberfläche darstellt, ohne die Brüche im Untergrund sichtbar zu machen.
Anarchisten als Nomaden
Buttàs Originalität liegt in der Herausarbeitung des Nomaden-Motivs, das er von Individualanarchistinnen wie Leda Rafanelli übernimmt, die Anarchisten als »nomadisches Volk« beschrieb: Anarchisten »folgen nicht einem bestimmten Pfad, sondern ihrem eigenen Weg«, schrieb sie, »gemäß ihrer Natur, ihrer Denkweise und gleichfalls ihrem Temperament«. Diese nomadische Lebensweise ist jedoch zweischneidig, vor allem vor dem Hintergrund des aufkommenden Faschismus. In seinem präfaschistischen Bestseller Der Untergang des Abendlandes (1923) hatte Oswald Spengler den modernen Städtebewohner als »zweiten Nomaden« beschrieben, der in Atomisierung und Regression zur kontinuierlichen Zeiterfahrung nicht mehr fähig sei. In seiner Idealisierung der anarchistischen Bewegung nimmt Buttà zu keinem Zeitpunkt die urbanen und kapitalistischen Strukturen oder die »Straßenethnographie« und ihre »Troglodyten« (wie die Situationisten den urbanistischen Raum beschrieben5 wahr; ebenso wenig hat er ein Auge für die historischen Konstellationen, in denen sich die Mailänder Anarchisten bewegten. Der Nomade ist einerseits ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Existenz der »Sesshaftigkeit« und »Bodenhaftigkeit« (wie sie in der faschistischen Ideologie von »Blut und Boden« im Extremen zum Ausdruck kam). Andererseits artikuliert sich in der Figur des Nomaden die Tendenz zur Sprunghaftigkeit, zur Flucht oder zu einem wohlfeilen Eskapismus. »Ich hinterlasse nichts weiter als eine Legende …«, heißt es in Hans Magnus Enzenbergers Gedicht »Der Fliegende Robert«.6
Furie des Verschwindens
Irgendwann verflüchtigt sich in Buttàs Erzählung der Anarchismus als eine »Furie des Verschwindens«, ohne dass der Autor zu konkretisieren vermag, an welchem Punkt sein Akteur aus welchem Grund von der Geschichte an die Außenlinie katapultiert wurde. Dem Buch mangelt es an einer narrativen Konstruktion. In den ersten Kapiteln gelingt es Buttà noch, Theorien und gesellschaftliche Bedingungen der anarchistischen Bewegung in Mailand zu porträtieren. Danach verliert sich jedoch die narrative Spannung in immer kürzer werdenden Kapiteln im Abriss von Themen wie libertäre Pädagogik, Arbeiterbewegung, Antimilitarismus oder Antifaschismus, als wäre eine To-Do-Liste rasch abzuarbeiten.
In der bloßen Aneinanderreihung von Fakten vermag es Buttà nicht, die von ihm behauptete Relevanz des Anarchismus für die Gegenwart zu unterstüzen. Realiter betreibt er eine Musealisierung der anarchistischen Geschichte, die mit ihren Vorstellungen von Urbanität und Dynamik im historischen Prozess aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt wurde. In der Zeit der faschistischen Herrschaft wurden alle Organisationsformen des Anarchismus in Italien eliminiert. Nach 1945 versprach die Föderation der italienischen Anarchisten »schwere Jahre des Kampfes und harter Arbeit« mit dem Anspruch der individuellen Autonomie.7 Diese »harte Arbeit« wollten jedoch nur wenige auf sich nehmen.
Ursachen für das Scheitern des anarchistischen Projekts vermag Buttà nicht zu liefern, da sich sein Buch im bloßen Beschreiben der Geschichte erschöpft. »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet«8, schrieb Walter Benjamin. Diese Konstruktion vermag Buttà mit seinem Buch nicht zu leisten.
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Bibliografische Angaben:
Fausto Buttà.
Living Like Nomads: The Milanese Anarchist Movement Before Fascism.
Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2015.
299 Seiten, £ 47,99.
ISBN: 978–1‑4438–7823‑4.
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© Jörg Auberg 2017
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin] [otw_shortcode_content_box title=“Bildquellen” title_style=“otw-regular-title” content_pattern=“otw-pattern‑2” icon_type=“general foundicon-globe”] Cover Italian Anarchism, 1864–1892 — AK Press 2009Cover Living Like Nomads — Cambridge Scholars Publishing 2015
Porträt Leda Rafanelli — AK Press 2014
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Nachweise
- Nunzio Pernicone, Italian Anarchism, 1864–1892 (Oakland: AK Press, 2009), S. 3 ↩
- George Woodcock, Anarchism: A History of Libertarian Ideas and Movements (Harmondsworth: Penguin, 1986), S. 274 ↩
- Paul Avrich, The Modern School Movement: Anarchism and Education in the United States (1980; rpt. Oakland: AK Press, 2006) ↩
- Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. Karsten Witte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973), S. 97 ↩
- McKenzie Wark, The Beach Beneath the Street: The Everyday Life and Glorious Times of the Situationist International (London: Verso, 2011), S. 8 ↩
- Hans Magnus Enzensberger, »Der Fliegende Robert«, in: Enzensberger, Gedichte, 1950–2015 (Berlin: Suhrkamp, 2015), Kindle-Ausgabe ↩
- Italian Anarchist Federation (FAI), »Act for Yourselves« (1945), in: Anarchism: A Documentary History of Libertarian Ideas, Volume Two: The Emergence of the New Anarchism (1939–1977), hg. Robert Graham (Montreal: Black Rose Books, 2009), S. 26 ↩
- Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 701 ↩