Der Kampf geht weiter
Karl Heinz Roth analysiert die Folgen der Corona-Krise
von Max Henninger
Nach wie vor hat die Corona-Pandemie den Planeten fest im Griff, wobei nicht allein gesundheitspolitische Faktoren die menschliche Existenz bestimmen, sondern zunehmend auch extremistische Rackets und verschwörungstheoretische »Narrative« die fragilen demokratischen Systeme in existenzielle Krisen stürzen. 1940 hatte Max Horkheimer von der »Erwartung einer autoritären Weltperiode« gesprochen, die von Bewegungen des Antisemitismus, Faschismus und Totalitarismus vorangetrieben wurde. Die Lebenserfahrung eines Geflüchteten fasste er in dem Satz zusammen: »Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat.«1
Achtzig Jahre später kapriziert sich die »Erwartung einer autoritären Weltperiode« nicht mehr im Autoritarismus gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch agierender Kräfte, sondern im diffusen Nebel verschwörungstheoretischer Rackets, die in ihrer umgestülpten Staatsfixiertheit plötzlich – nach Jahren der autoritären Herrschaftspraxis – den Weg zurück vom Kommissar zum Proletarier (wie ihn Maurice Merleau-Ponty in den 1940er Jahren in Humanismus und Terror beschrieb2) beschreiten und angesichts von »Impfzwängen« neuerlich Emanzipation und Freiheit als Bestandteile ihres politischen Handelns entdecken.
Karl Heinz Roth, der seit den 1970er Jahren die Entwicklung der bundesrepublikanischen Linken kritisch begleitete, den »Untergang der Intelligenz« beklagte und gegen die »Geschäftsführer der Alternativbewegung« polemisierte3, ist als Mediziner und radikaler Linker der ideale Stichwortgeber für Autoren aus dem linken Spektrum, die nach eigenem Bekunden für emanzipatorische Interessen eintreten, realiter zuvörderst ihre Racket-Interessen verfolgen. Im Magazin Telepolis akzentuiert dies Peter Nowak unter dem Titel »Trennung verläuft nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften« und schreibt »gegen falsche Spaltungen« an.4
Im Blog der Wochenzeitung Freitag gibt Gerhard Hanloser5 zu Protokoll:
In der Online-Zeitschrift Die Aktion 4.0 (die sich im Untertitel selbst bescheiden als »Organ der radikalen Intelligenz« beschreibt) wettert Gerald Grüneklee, der den insolventen Medienvertrieb Anares unter der Marke Ziegelbrenner als Online-Vertrieb weiterführt, als gestählter Antiautoritärer (der seit Jahrzehnten den Kapitalismus von innen heraus aushöhlt) gegen staatlichen Impfzwang und Impfstoff-Nationalismus.6 Im autoritaristisch aufgeheizten »Gesundheitswahn« und der daraus folgenden »Panikmache« sehen Grünklee und Autoren ähnlicher Provenienz, die sich als linke Verteidiger der Demokratie präsentieren, die »größte Katastrophe« seit 1945, die »schlimmer noch als der deutsche Herbst 1977«sei.7
In seinem Journal of the Plague Year beschrieb Daniel Defoe die drakonischen und martialischen Maßnahmen der Pest in London, die beispielsweise das rigorose Abschließen »infektiöser« Häuser beinhalteten.8 Ein Aufbegehren oder ein Widerstand dagegen fand nicht statt. Maurice Merleau-Ponty und Albert Camus griffen nach dem Zweiten Weltkrieg die Metaphern des Belagerungszustandes und der Pest in den Imaginationen einer »anderen Gefangenschaft« als Ausdruck der »menschlichen Krise« in einer »posthumanen Umwelt« neu auf.9
In seiner Kritik von Roths Buch Blinde Passagiere, die zuerst in der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online (Nr. 31/2022) erschien, hebt Max Henninger die herausragende Leistung Roths in seiner gesellschaftskritischen Analyse der Corona-Krise hervor, spricht aber auch Mängel des Buches an. 1978 in München geboren, lebt Henninger seit 2006 in Berlin, wo er als Konferenzdolmetscher und Übersetzer arbeitet. 2017 erschien im Wiener Mandelbaum Verlag sein Buch Armut, Arbeit, Entwicklung. Der Text wurde redaktionell um Fußnoten zu angesprochenen Quellen erweitert.
Es ist stets ein Wagnis und mitunter ein ausgesprochen undankbares Unterfangen, ein Buch über eine noch offene Entwicklung zu veröffentlichen. Das gilt umso mehr, wenn es sich bei dieser Entwicklung um ein derart dynamisches, mit so vielen Unwägbarkeiten einhergehendes Geschehen handelt wie die COVID-19-Pandemie. Der US-amerikanische Soziologe und Mediziner Nicholas Christakis10 hat bereits im Oktober 2020 eine umfassende Darstellung der ersten Phase dieser Pandemie vorgelegt. Bedingt durch den Zeitpunkt der Niederschrift hat diese zu mittlerweile zentralen Aspekten wie der Entwicklung von Vakzinen nur wenig zu sagen, ist aber dennoch bis heute mit beträchtlichem Gewinn zu lesen, weil sie auf soliden Kenntnissen, gründlichen Recherchen und belastbaren Grundannahmen beruht. Etwas mehr als zwei Jahre später hat Karl Heinz Roth eine deutlich umfassendere Studie vorgelegt, in der nun auch die Entwicklung von Impfstoffen, das stille Scheitern der globalen Impfkampagne COVAX und die Entstehung eines weit verbreiteten »Impfnationalismus« beziehungsweise »Impfprotektionismus« (S. 280–286) dargestellt und analysiert werden konnten. Ebenfalls Mediziner, außerdem Historiker und Verfasser zahlreicher Monografien zu weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, scheint Karl Heinz Roth für die Aufgabe, die er sich mit Blinde Passagiere gestellt hat, geradezu prädestiniert. Leser und Leserinnen, die Roth für seine in zahlreichen früheren Veröffentlichungen unter Beweis gestellte Fähigkeit zur akribischen Auswertung und stringenten Synthese enormer Datenmengen schätzen, werden von diesem Buch nicht enttäuscht sein.
Und doch wird wohl auch Blinde Passagiere nicht das letzte Wort zum Thema sein können, ist das Buch doch vor dem Aufkommen der Omikron-Variante des neuen Coronavirus geschrieben worden, die sich durch ihre in der Neuzeit geradezu beispiellose Kontagiosität auszeichnet und uns aktuell vor Augen führt, wie unbegründet die immer wieder vorgetragenen Hoffnungen auf einen baldigen Übergang von der pandemischen in die endemische Phase der Entwicklung des neuen Krankheitserregers sind. Erst jüngst, am 1. Februar 2022, hat die WHO bekanntgegeben, dass sich seit Entdeckung der Omikron-Variante Ende November 2021 weltweit etwa neunzig Millionen Menschen mit COVID-19 infiziert haben; das sind mehr als im gesamten Jahr 2020. Hinweise auf die geringere Letalität von Omikron gegenüber der – noch immer zirkulierenden – Vorläufervariante Delta sind insofern Augenwischerei, als ein derartiger Anstieg der Infektionen auch bei verringerter Letalität einen absoluten Anstieg der Todesfälle erwarten lässt. In Frankreich, Dänemark und Israel werden bereits neue Rekorde gesetzt, was die Zahl der durch COVID-19 bedingten Krankenhauseinweisungen angeht, und es ist damit zu rechnen, dass andere Länder nachziehen werden.
Die Pandemie als »vorausgesagtes Ereignis«
Die Auseinandersetzung mit früheren Pandemien ist für die solide Einschätzung unseres gegenwärtigen Debakels unerlässlich. Dementsprechend eröffnet Roth Blinde Passagiere mit einem historischen Rückblick. Wie der Medizinhistoriker Frank M. Snowden, dessen Epidemics and Society allen empfohlen sei, die ihre Kenntnisse der allgemeinen Pandemiegeschichte vertiefen möchten11, muss sich Roth dabei mit einigen Schlaglichtern begnügen. Bevor er – wie auch Snowden am Ende seiner Studie – auf die in den 1990er Jahren aufkommende, dem epidemiologischen Optimismus der vorangegangenen Jahrzehnte den Wind aus den Segeln nehmende Problematik der emerging and reemerging diseases am Beispiel der als »Menetekel« verstandenen SARS- und MERS-Pandemien nachgeht (S. 23–28), skizziert Roth prägnant die Geschichte zweier weiter zurückliegender Ereignisse: die der im mittleren Drittel des 14. Jahrhunderts ausgebrochenen Pest-Pandemie (»Schwarzer Tod«) und die der irreführenderweise als »Spanische Grippe« bekannten, tatsächlich vom Mittleren Westen der USA ausgegangenen und anschließend über das Militärwesen verbreiteten Influenza-Epidemie von 1918 bis 1920 (S. 12–20). Die Pest hat sich mit ihrer enormen Letalität tief in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben; dass die »Spanische Grippe« mit geschätzten vierzig bis fünfzig Millionen Toten mehr Menschen das Leben gekostet hat als die Gefechtshandlungen des Ersten Weltkriegs, hören dagegen heute noch viele Menschen mit Erstaunen.
Im ersten Hauptteil des Buches widmet sich Roth der Frage, weshalb die meisten Regierungen derart unvorbereitet auf die COVID-19-Pandemie waren, obwohl es sich doch, wie er überzeugend belegt, um ein »vorausgesagtes Ereignis« (S. 21) handelt. Warum gab es keine ausreichende Bevorratung entsprechender Medikamente, keine kurzfristig nutzbaren Produktionskapazitäten für basishygienische Grundgüter wie Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel, keine Vorkehrungen für einen rapiden Ausbau der Testkapazitäten und die isolierte Behandlung Infizierter in Spezialkrankenhäusern, obgleich das Risiko einer Pandemie seit Jahrzehnten bekannt und in einigen Ländern, darunter die Bundesrepublik, auch längst Gegenstand entsprechender Planspiele war? Am Beispiel der bundesrepublikanischen Pandemie-Planspiele arbeitet Roth heraus, dass deren Entwicklung aus früheren Simulationen des atomaren Ernstfalls einen Fokus auf Maximalszenarien zur Folge hatte, in denen das Gesundheitssystem regelmäßig in kürzester Zeit kollabierte, sodass beispielsweise basishygienische Bevorratungsmaßnahmen und ein Ausbau intensivmedizinischer Kapazitäten hinfällig erschienen (S. 60–79). Solche Ergebnisse vertrugen sich gut mit der mittlerweile in Gang gekommenen, einer neoliberalen Logik folgenden »Ökonomisierung des Gesundheitswesens« (S. 83; vgl. S. 329, 341 ff.), die bekanntlich nicht mit dem Aufbau, sondern im Gegenteil mit dem Abbau von Ressourcen und Kapazitäten einhergeht (vgl. S. 340–343 sowie zum miserablen Zustand der Altenpflege S. 344–347). »Unter Normalbedingungen können die Folgen dieser Politik einigermaßen kompensiert werden – nicht aber in akuten gesundheitspolitischen Krisenlagen. Es war […] verpönt, medizinische Reservekapazitäten und kostenaufwendige Depots für den Pandemiefall vorzuhalten« (S. 84).
In den daran anschließenden beiden Teilen seiner Untersuchung fasst Roth Erkenntnisse zu den Ursprüngen und zur Entwicklung der Pandemie sowie zu Krankheitsverlauf, Kontagiosität und Letalität zusammen. Dabei kann seine im Spätsommer / Herbst 2021 abgeschlossene Darstellung nur die ersten drei Wellen der Pandemie berücksichtigen. Das schmälert keineswegs den ungewöhnlich anspruchsvollen Charakter der Aufgabe, die Roth sich gestellt hat: Er ist durchweg einer möglichst globalen und komparativen Perspektive verpflichtet und weicht auch nicht den zahllosen Schwierigkeiten aus, die sich aus der mitunter hochgradig unzuverlässigen Datenlage und dem Problem der Dunkelziffern ergeben. In diesem Zusammenhang kritisiert er etwa den irreführenden oder auch schlicht falschen Gebrauch des Inzidenzbegriffs. Was beispielsweise in den Statistiken des Robert-Koch-Instituts als »Inzidenz« bezeichnet wird, entspricht keineswegs der tatsächlichen, nur unter Berücksichtigung der Dunkelziffer abschätzbaren Häufigkeit der Infektionen, sondern lediglich der Testprävalenz (S. 188; vgl. S. 495). Solche Ungenauigkeiten sind folgenreich, denn wenn eine zu niedrig angesetzte Inzidenz zur Zahl der Todesfälle ins Verhältnis gesetzt wird, ergibt sich daraus eine nach oben verzerrte Einschätzung der Letalität des Erregers.
Begriffliche Unschärfen
Der öffentliche Diskurs über die Pandemie zeichnet sich mittlerweile durch eine Vielzahl solcher begrifflicher Unschärfen aus. Sie sind oft (wirtschafts-)politisch motiviert. Zu nennen wäre beispielsweise die Handhabung von Begriffen wie »endemisch« oder auch »Immunität« beziehungsweise »Herdenimmunität«. Wenn heute von einem Übergang vom pandemischen zum endemischen Stadium gesprochen wird, soll damit häufig suggeriert werden, wir befänden uns bereits am Ausgang des epidemiologischen Krisenzustands. Damit soll – gern in Verbindung mit dem Hinweis auf die mittlerweile vorhandenen Vakzine – einem Zurückfahren nicht-pharmazeutischer Maßnahmen (Kontaktbeschränkungen, Quarantäne, Maskenpflicht und so weiter) das Wort geredet werden. Der Synonymisierung von »endemisch« und »harmlos« ist jedoch aufs Schärfste zu widersprechen, wie das beispielsweise Jacob Stern, Katherine J. Wu und Aris Katzourakis für den anglophonen Kontext getan haben.12 Auch AIDS und Malaria sind – mit Infektionszahlen im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich – endemische Krankheiten. Selbst wenn es der Fall wäre, dass COVID-19 mittlerweile die endemische Phase erreicht hat, würde das alles andere als eine Rückkehr zum Status quo ante bedeuten.
Ebenso unverantwortlich ist die gängige holzschnittartige Verwendung des Immunitätsbegriffs. Immer wieder wird suggeriert, der breitflächige Verlust immunologischer Naivität – sei es durch Impfung, sei es durch Infektion – laufe auf einen dauerhaften Schutz der Bevölkerung (»Herdenimmunität«) hinaus. Mitunter wird, ausgehend von dieser Annahme, mehr oder weniger offen für die Durchseuchung der Bevölkerung eingetreten, oder es werden stillschweigend gesundheitspolitische Entscheidungen getroffen, die auf eine solche Durchseuchung hinauslaufen. Man denke etwa an die Rücknahme nicht-pharmazeutischer Interventionen wie der Maskenpflicht, den Abbau beziehungsweise unterbliebenen Ausbau von Testkapazitäten, die Verkürzung der Quarantänezeiten bis unter die Zeitspanne, innerhalb derer damit zu rechnen ist, dass Infizierte Kontaktpersonen anstecken, oder das Beharren auf dem Präsenzunterricht an Schulen unter Ignorierung der längst entwickelten Alternativkonzepte. Eine derartige Politik ist aktuell in vielen Industriestaaten, seit dem Regierungswechsel auch in der Bundesrepublik zu beobachten. Übergangen wird in dem diese Politik begleitenden Legitimationsdiskurs, dass es – teils aufgrund des schwindenden Impfschutzes, vor allem aber wegen der Mutationsfreudigkeit des Erregers – bis dato keine dauerhafte Immunität gibt. Dies ist insbesondere während der Omikron-Welle deutlich geworden, in der es mittlerweile zu Reinfektionen innerhalb von dreißig Tagen kommt. Auch die Problematik der teilweise gravierenden langfristigen Infektionsfolgen (»Long Covid«) wird gern ausgeblendet. Als solche Folgen sind unter anderem ein um den Faktor 1,5 erhöhtes Diabetes-Risiko, Organschäden einschließlich Gefäß‑, Herzmuskel- und Hirnschäden, neurologische und kognitive Beeinträchtigungen und eine an HIV erinnernde, ebenfalls langfristige Beeinträchtigung des Immunsystems durch die Ausschaltung von T‑Zellen bekannt; vermutet wird darüber hinaus ein möglicher Zusammenhang mit Demenz- sowie mit psychischen Erkrankungen.
Gefahren eines vorschnellen Optimismus
Leider kommt Roths Darstellung an manchen Stellen den auf eine möglichst minimale Beschränkung des Wirtschaftslebens abzielenden Beschwichtigungsdiskursen entgegen. Insbesondere in den Abschnitten »Die Eigenschaften der Pandemie« (S. 214–217) und »Covid-19 im historischen Pandemievergleich« (S. 217–224) häufen sich Aussagen, die den Eindruck erwecken, Roth sei bei der Niederschrift davon ausgegangen, der Höhepunkt der Pandemie sei mit dem Ende der dritten Welle überschritten. Bereits auf S. 151 wird der »Gipfelpunkt der Pandemie überhaupt« auf das Frühjahr 2021 datiert. Auf S. 326 wird dies bekräftigt: Die »Infektionskrankheit Covid-19« habe »Ende April 2021 ihren Höhepunkt« erreicht. Besser wäre es gewesen, vom bisherigen Gipfel beziehungsweise Höhepunkt zu sprechen. Auf S. 216 ist zu lesen: »Spätere Historiker werden zu rekonstruieren haben, welche Faktoren […] zusammenwirkten, bevor die Impfkampagne nach eineinhalb Jahren zu greifen begann und [die Pandemie] in die endemische Phase zurückdrängte« (vgl. auch S. 191, wo von »Menschen« die Rede ist, »die inzwischen gegen das Virus immun sind«, als handele es sich um eine dauerhafte Immunität). Auf S. 220 heißt es, die »inzwischen angelaufene Impfkampagne« werde »die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung vor der Infektion bewahren« (ähnlich auf S. 433, wo zu lesen ist, die »auf Hochtouren gebrachte Impfkampagne« werde »die SARS-CoV2-Pandemie bis Frühjahr 2022 allmählich eindämmen«). Die aus solchen Sätzen sprechende optimistische Einschätzung ist durch den Verlauf der Omikron-Welle widerlegt.
Problematisch sind auch die vergleichsweise knappen Ausführungen Roths zur Long-Covid-Problematik und insbesondere seine Aussage, »Spätfolgen« einer COVID-19-Infektion würden sich »nur bei einer Minderheit« einstellen (S. 216). Das dürfte sachlich richtig sein; belastbare Zahlen zur Prävalenz von Long Covid gibt es kaum, da die Wissenschaft erst am Anfang der Erforschung dieses Syndroms steht. Doch lässt sich bereits jetzt mit einiger Sicherheit sagen, dass es sich mindestens um eine recht große, prozentual wahrscheinlich dem unteren zweistelligen Bereich zuzuordnende Minderheit handelt, sodass der auf Entwarnung hinauslaufende Tenor von Roths Aussage fehl am Platz ist und eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Long Covid angemessen gewesen wäre (vgl. allerdings S. 173, 178–181). Dass sich das Long-Covid-Syndrom durchaus auch im Gefolge vergleichsweise milder und sogar asymptomatischer Infektionsverläufe einstellt, hätte der Erwähnung bedurft. Es scheint außerdem keineswegs der Fall zu sein, dass das Virus lediglich bei »Patienten mit schweren Vorerkrankungen […] in andere Organsysteme [als das Atemsystem]« vordringt und dort die mit Long Covid verbundenen Effekte zeitigt (S. 194).
Andere Aussagen Roths haben zwar nicht die unglückliche Wirkung, vorschnellen Optimismus zu schüren, liegen aber ebenfalls quer zum aktuellen Pandemiegeschehen. Dass eine COVID-19-Infektion insbesondere für ältere Menschen bedrohlich sei und es diese Menschen also auch vorrangig zu schützen gelte, ist bezogen auf die von Roth verhandelten ersten drei Wellen der Pandemie zutreffend. Heute wäre diese Aussage allerdings durch den Hinweis zu ergänzen, dass sich mittlerweile weitaus mehr Kinder und Jugendliche als ältere Menschen infizieren. Aussagen wie »Gesichert ist jedenfalls schon jetzt, dass Kinder für die Infektion wenig anfällig sind« (S. 164; vgl. S. 368) haben sich bereits wenige Wochen nach Erscheinen des Buches als unhaltbar erwiesen. Wie sich die massenhafte Infektion von Kindern und Jugendlichen mittel- und langfristig auf die Gesundheit der jüngeren Alterskohorten auswirken wird, ist zurzeit noch schwer einzuschätzen; zu Sorglosigkeit gibt es angesichts der Long-Covid-Problematik keinen Anlass.
Antiautoritäres Ethos
In den letzten drei Teilen des Buches werden die in verschiedenen Ländern ergriffenen Gegenmaßnahmen beleuchtet und deren Folgen diskutiert. Dabei positioniert sich Roth als Kritiker pauschaler Lockdowns, wie sie nach chinesischem Vorbild von vielen Ländern durchgesetzt wurden, freilich mit teilweise beträchtlichen Unterschieden und auch sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Besonders kritisch sieht Roth die in China, aber nicht nur dort, mit den Lockdowns einhergehenden Maßnahmen zum digitalen contact tracing und zur Durchsetzung der Quarantäneregeln. Mit Bezug auf Taiwan spricht er etwa von einer »lückenlosen elektronischen Erfassung, Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung« (S. 233). Zu China heißt es: »Wer seine Wohnung nur noch bei einem auf Grün geschalteten QR-Code verlassen kann und ohne diesen Nachweis von allen Verkehrsmitteln, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen ausgesperrt bleibt, hat die letzten Spielräume eines selbstgestalteten Lebens an Leviathan [sc. den autoritären Staat] verloren« (S. 398). In abgeschwächter Form sind solche Entwicklungen auch in der Bundesrepublik zu beobachten gewesen; man denke etwa an das kürzlich bekannt gewordene Auslesen der in der Luca-App gespeicherten Daten durch die Polizei. Aus Roths Verurteilung solcher Tendenzen spricht seine – in der Linken längst nicht mehr selbstverständliche – Loyalität zu dem von seiner Generation geprägten antiautoritären Ethos der 1960er Jahre.
Insgesamt deutet Roth die Lockdowns als Ausdruck von »Kopflosigkeit« (S. 295): Es habe sich um eine »Flucht nach vorn« (ebd.), um »Aktionismus« (S. 316) und um eine »Panikreaktion« (S. 292) gehandelt, durch die Regierungen das »Fiasko« (S. 241) ihrer versäumten Frühzeitigen Eindämmung der Pandemie (vgl. S. 236–241) zu kompensieren und zugleich einen Anschein von Kompetenz zu erwecken versucht hätten.
Zu diskutieren wäre Roths im Zusammenhang seiner Lockdown-Kritik formulierte Einschätzung, »dass die Gefahr nicht so sehr in den Betrieben, sondern weitaus stärker in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Massenunterkünften lauerte« (S. 252). Wird hier nicht ein irreführender Gegensatz aufgemacht? Die von den Betrieben ausgehende Gefahr mag geringer gewesen sein, blieb und bleibt aber beträchtlich. Es steht außer Frage, dass die weitgehende Stilllegung des Wirtschaftslebens zumindest in den Industriestaaten Leben gerettet hat – auch wenn es später zu einem »Wiederaufflammen des Infektionsgeschehens« gekommen ist (S. 257). Anders mag es sich mit der mitunter tatsächlich völlig kopflosen und gerade auch aus epidemiologischer Sicht kontraproduktiven Lockdown-Politik in einigen Schwellenländern, insbesondere in Indien, verhalten haben (vgl. 303). Als Beispiel einer erfolgreichen Eindämmungspolitik, die ohne harten Lockdown ausgekommen ist, nennt Roth wiederholt den Fall Japan (S. 318 f., 321, 397). Mit Bezug auf die von Lockdown-Gegnern gern zitierte schwedische Pandemie-Politik weist er zu Recht auf deren ethische Grenzüberschreitungen hin. Die wohl krasseste dieser Grenzüberschreitungen – die aktive Beschleunigung des Sterbens älterer Infizierter durch Verabreichung des die Atmung hemmenden Benzodiazepins Medazepam – lässt er allerdings unerwähnt. Mit Bezug auf die USA räumt Roth ein, dass die »gravierende[n] strukturelle[n] Mängel« des Gesundheitssystems auch vom »effizientesten Krisenstab nicht innerhalb einiger Monate zu überwinden« waren (S. 263). So stellt sich doch aber die Frage, ob die Lockdown-Politik dort – wie in anderen von der Ökonomisierung der Gesundheitssysteme betroffenen Ländern – nicht ein zwar grobschlächtiges, unter den gegebenen Umständen jedoch angemessenes Instrument war.
Gesundheitspolitische Versäumnisse und antidemokratische Tendenzen
Hochinteressant ist Roths Einschätzung, den Hauptbeitrag zur Eindämmung der ersten Welle hätten die »spontanen Vorkehrungen der Bevölkerung« noch vor der Verhängung der ersten Lockdowns geleistet (S. 288 f.). Er denkt dabei an die Aufstockung persönlicher Hygieneartikel, das Achten auf Händedesinfektion und körperliche Distanz sowie die freiwillige Einschränkung von Kontakten und Reisen. Diesen spontanen Verhaltensänderungen sei es zu verdanken gewesen, »dass die Zahl der Neuinfektionen in den meisten europäischen Ländern schon einige Tage vor dem Inkrafttreten der staatlichen Maßnahmebündel drastisch zurückging« (S. 289; vgl. S. 307, 309, 315). Hier sieht Roth eine versäumte gesundheitspolitische Gelegenheit: »Hätten die Instanzen des öffentlichen Gesundheitswesens diese Impulse aufgegriffen, durch Informationskampagnen verbreitert und durch die großzügige Bereitstellung aller erforderlichen Artikel der Infektionshygiene unterstützt, dann hätten sie wohl mehr erreicht als ihre Regierungen mit der Außerkraftsetzung der individuellen und gesellschaftlichen Grundrechte« (S. 289).
Sicherlich waren viele der mit den Lockdowns einhergehenden Verordnungen abstrus und wenig zielführend; mitunter befeuerten sie sogar die Ausbreitung der Pandemie (vgl. S. 302 f.). Im Bereich der gesundheitlichen Aufklärung und hinsichtlich eines kohärenten public messaging haben sich neben etlichen Entwicklungs- und Schwellenländern auch Industriestaaten wie die USA und die meisten europäischen Staaten nicht eben mit Ruhm bekleckert. Und doch bleibt unklar, wie angesichts der Tatsache, dass Gesichtsmasken und andere Hygieneartikel nicht in den erforderlichen Mengen zur Verfügung standen, anders als durch Lockdowns vergleichbar viele Leben hätten gerettet werden können. Es ist fraglich, ob die von Roth als Teil seines Alternativkonzepts propagierte »Bereitstellung aller erforderlichen Artikel der Infektionshygiene« im angemessenen Tempo umsetzbar gewesen wäre, und es bleibt bei aller berechtigten Kritik am »Versagen der epidemiologischen Frühwarnsysteme« der Sachverhalt, dass dieses Versagen Fakten geschaffen hatte, auf die es zu reagieren galt (S. 289, 294). Der strenge Gegensatz, den Roth zwischen den positiv bewerteten »spontanen Vorkehrungen der Bevölkerung« und der »Kopflosigkeit« beziehungsweise dem »Aktionismus« der Lockdown-Politik aufmacht (S. 288, 295, 316), erscheint insofern fragwürdig, als Roth einräumen muss, dass die »Befürworter eines kompromisslosen Einfrierens des öffentlichen und privaten Lebens« in Europa zumindest anfangs »die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich« hatten (S. 252). Es ist wenig überzeugend, wenn Roth in dieser Zustimmung lediglich das Ergebnis einer Indoktrinierung sieht (S. 399). Mindestens missverständlich sind schließlich auch Formulierungen wie jene, die Lockdown-Politik habe sich durch eine »fatale Wechselwirkung zwischen politischem Aktionismus und neoliberaler Gesundheitspolitik« ausgezeichnet (S. 316). Sofern mit neoliberaler Gesundheitspolitik die bereits angesprochene Ökonomisierung des Gesundheitswesens und deren Folgen gemeint sind, ist diese Aussage nachvollziehbar. Es hätte doch aber in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden müssen, dass die vehementeste (und keineswegs folgenlose) Lockdown-Kritik in Ländern wie den USA, Brasilien oder England gerade aus dem neoliberalen Lager stammte und stammt. An anderer Stelle, in seiner Diskussion der gegen die Lockdown-Politik gerichteten »Great Barrington Declaration« des American Institute for Economic Research vom Oktober 2020, spricht Roth diesen Sachverhalt an, indem er auf die federführende Rolle jener Wirtschaftssektoren hinweist, »die unter den pauschalen Restriktionen besonders gelitten hatten« (S. 322). Hier wäre ein kurzer historischer Rückblick aufschlussreich gewesen, insofern es in den USA bereits während der Influenza-Epidemie von 1918 bis 1920 vor allem wirtschaftliche Interessengruppen waren, die den Einsatz nicht-pharmazeutischer Maßnahmen (Mund-Nasen-Schutz) mit dem Hinweis zu verhindern strebten, derartiges wirke abschreckend auf Konsumenten und Konsumentinnen.
»Grassierende Quacksalberei«
Zu den stärksten Abschnitten des Buches zählen Roths Diskussion der in der Pandemie grassierenden »Ängste« und »Gerüchte« sowie seine konzise Zusammenfassung des »veränderte[n] Alltag[s]« (S. 351–360, 361–372). Er beschreibt unter dem Stichwort des »Griff[s] nach vermeintlichen Heilmitteln« (S. 353) die grassierende Quacksalberei – mitunter ein lukratives Geschäftsfeld, wie man mittlerweile weiß –, die auf eine »stille Binnenmigration« hinauslaufende »Flucht aus den großstädtischen Agglomerationen« (S. 353 f.) und allgemeiner den weltweiten Anstieg der »Zahl der an Angststörungen, Depressionen, Zwangshandlungen und Traumafolgen Leidenden« (S. 354). Auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Endzeiterwartungen wird anhand der Impfgegner, der »Prepper« und der Anhänger von »QAnon« eingegangen (S. 356 ff.). Betont wird auch die Rolle, die »Internetportale« bei der Zirkulation von »Desinformationen, Hasspredigen [sic] und ideologischen Projektionen« gespielt haben (S. 360). Die von den Historikern Quinn Slobodian und William Callison frühzeitig analysierten »Querdenker« werden erst später thematisiert, wobei die Befunde von Slobodian und Callison weitgehend sekundiert werden (S. 400 f.).13
In seiner besonders lesenswerten Phänomenologie des veränderten alltags diskutiert Roth die »Uniformierung des zwischenmenschlichen Umgangs« und das »[umfassende] Berührungsverbot« (S. 362), außerdem den veränderten Charakter der Hochzeits- und Bestattungsfeierlichkeiten, das Schließen von Kulturorten und den allgemeinen Rückzug auf die Kernfamilie (S. 364–368). In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der »Digitalisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Interaktionen« betont (S. 372), wobei Roths Urteil differenziert ausfällt: Zwar verkümmere im digitalen Raum die »zwischenmenschliche Kommunikation« dadurch, dass sie »körperlos« und »auf zwei Sinneswahrnehmungen, das Sehen und Hören reduziert« werde (S. 372 f.). Zugleich sei das Aufgreifen der »Option zur technologisch gestützten Aufrechterhaltung [des] gefährdeten Alltags« nachvollziehbar und bewirke neben der Verarmung auch eine Beschleunigung und Verdichtung der Interaktionen, die »neue Horizonte« eröffne (S. 372). In seiner Diskussion der mit der Pandemie vielerorts einhergegangenen Ausrufung des Ausnahmezustands greift Roth eine von Giorgio Agamben bekannte Denkfigur auf, indem er von der Wiederkehr des Hobbes’schen Leviathan spricht (S. 394).14 Weltweit habe – auch dort, wo es formal nicht zur Ausrufung des Ausnahmezustands gekommen sei – die »Stunde der Exekutive« geschlagen (S. 397). Vieles in diesem Abschnitt setzt Roths Lockdown-Kritik fort. In der europäischen »Zero-Covid«-Bewegung sieht Roth lediglich einen ideologischen Gewährsmann der »autoritären Maßnahmen« (S. 402). Ausführlicher und differenzierter, ja geradezu mild fällt seine Darstellung der Lockdown-Kritik Agambens aus – auch wenn aus dem Kontext deutlich wird, wie wenig Roth mittlerweile von Agambens zu Beginn der ersten Pandemiewelle geäußerter Position hält, es handele sich bei COVID-19 um eine »erfundene Epidemie, da sich das tatsächliche Geschehen in nichts von der saisonal auftretenden Influenza unterscheide« (S. 402). Dass Roth selbst im Frühjahr 2020 eine vergleichbare Position vertreten hat, bevor er sich vorübergehend aus der Diskussion zurückzog und die mit Blinde Passagiere nun vorliegende Neueinschätzung der Lage erarbeitete, hätte vielleicht erwähnt werden sollen. Ein Rest von Sympathie für Agambens jede weiterreichende gesundheitspolitische Maßnahme unter Totalitarismusverdacht stellenden Ansatz spricht auch aus Roths historischem Exkurs zum Verhalten der »Stadtregierungen, Landesherren und Souveräne« gegenüber der Dynamik des »Schwarzen Todes«. Der Einsatz nicht-pharmazeutischer Interventionen gehe auf diese Zeit zurück, und »damals wie heute« könnten die »kleinen Schikanen des obrigkeitlichen Aktionismus« für sich nur eine »Alibifunktion« beanspruchen: »Sie sollten die tiefe Legitimationskrise der Herrschaft verkleistern, keinerlei Schwäche zeigen und den Eindruck erwecken, dass sie [sc. die Herrschaft] alles im Griff habe« (S. 405).
Ökonomische Auswirkungen der Pandemie
Abgeschlossen wird Roths Studie durch eine Diskussion der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Dabei werden zuvor bereits angesprochene Phänomene, beispielsweise die staatlichen Nothilfen zur Abfederung von Erwerbslosigkeit und Armut (S. 373–393), in das umfassendere makroökonomische Geschehen eingeordnet. Die weitverbreitete Annahme, die Pandemie habe »die Wirtschaftskrise des Jahrs 2020 ausgelöst«, wird als »nicht zutreffend« zurückgewiesen: »Der Krisenzyklus hatte schon vorher begonnen. Er beendete ein Jahrzehnt der globalen ökonomischen Stagnation, die auf die Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 gefolgt war« (S. 408). COVID-19 habe lediglich als »exogener Faktor und Akzelerator« gewirkt (ebd.). Bei der Zuspitzung des Krisengeschehens hätte vor allem China, aber auch Italien als »Schrittmacher« fungiert (S. 411). Eingegangen wird auf die Unterbrechung regionaler Wertschöpfungsketten, die Schrumpfung des Außenhandels und insbesondere der Rohwarenimporte, den daran anschließenden Verfall der Rohstoffpreise, den vor allem im globalen Süden zu verzeichnenden Anstieg der Lebensmittelpreise und den allgemeinen Trend zur Einschränkung des persönlichen Konsums (S. 414 f.). Die kumulativen Auswirkungen dieser Entwicklungen hätten zu einem Krisengeschehen seltenen Ausmaßes geführt: »Die globale Krise hatte [im ersten Halbjahr 2020] zur Großen Depression von 1930–1932 aufgeschlossen und selbst die Weltwirtschafts- und Finanzkrise von 2008/2009 weit hinter sich gelassen« (S. 416). Entsprechend dramatisch seien auch die kredit- und fiskalpolitischen Gegenmaßnahmen ausgefallen: Ihr Gesamtvolumen »erreichte bis Oktober 2020 einen Umfang von 11,7 Billionen US-Dollar und überschritt bis März 2021 [in einer repräsentativen Auswahl von elf Ländern und der EU] die 15-Billionen-Grenze – das sind etwa 18 % der weltweiten Wirtschaftsleistung in diesem Jahr« (S. 421). In den Industriestaaten hätten die »fiskalpolitischen Operationen […] alles bisher Dagewesene [übertroffen] und […] gegen Ende 2020 sogar knapp über dem Volumen des ›Deficit Spending‹ zur Finanzierung des Zweiten Weltkriegs« gelegen (S. 422). Zugleich hätten die Lockdowns auch als »Beschleuniger der Innovationsprozesse« gewirkt, wie Roth anhand der Intensivierung von Automatisierungs- und Digitalisierungsprozessen sowie dem verstärkten Rückgriff auf Künstliche Intelligenz ausführt (S. 427–430).
Der Anstieg der Staatsverschuldung sei in den Industriestaaten besonders markant gewesen. Diese Staaten könnten aufgrund der Niedrigzinspolitik ihrer Zentralbanken, vor allem aber auch aufgrund der von China ausgehenden wirtschaftlichen Erholung, einer mittelfristigen Amortisation ihrer Schulden entgegenblicken (S. 432). Anders verhalte es sich mit den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern, deren Zentralbanken nicht über die Option der Niedrigzinspolitik verfügen würden und deren Wirtschaften zudem mit dem Verlust wichtiger Einnahmequellen (Tourismus, Überweisungen von Migrationsarbeitern) sowie mit der Instabilität der Exportpreise zu kämpfen hätten (ebd.). Infolgedessen konzentriere sich »das Verschuldungsproblem schon jetzt auf den Globalen Süden« (ebd.). Die »Rekonstruktion der Weltwirtschaft«, so bekräftigt Roth in seinem das Buch abschließenden Ausblick, werde »sehr ungleich verlaufen, zumal der Peripherie eine Schulden- und Finanzkrise erheblichen Ausmaßes bevorsteht« (S. 439).
Ebenfalls in Roths Ausblick findet sich einer von insgesamt nur zwei Hinweisen auf den Zusammenhang von COVID-19 und ökologischer Krise. Die derzeitige Pandemie sei als »vorläufiger Höhepunkt« des seit den 1990er Jahren beobachteten Trends zur Entstehung neuer Infektionskrankheiten Ausdruck der Tatsache, dass »immer neue Krankheitserreger – und insbesondere Viren – die Artenschwelle überschreiten und in den Menschen eindringen« (S. 438). Dies sei »das Ergebnis der fortschreitenden Zurückdämmung der natürlichen Bio- und Ökosysteme, der damit einhergehenden Expansion des Agrobusiness und der Massentierhaltung« (ebd.). Auf diese von Autoren wie dem Epidemiologen Rob Wallace15, dem Historiker Mike Davis16 und dem Journalisten David Wallace-Wells17 ausführlicher verhandelten Zusammenhänge einzugehen, hätte den Rahmen von Blinde Passagiere sicherlich gesprengt. Umso wichtiger ist es, dass Roth sie dennoch – und an prominenter Stelle – anspricht.
Die gründliche Lektüre von Blinde Passagiere sei allen Interessierten nachdrücklich empfohlen. Die von Roth erbrachte Syntheseleistung stellt alles bisher zu diesem Thema Geschriebene in den Schatten. Deutlich geworden sein dürfte allerdings auch die Skepsis des Autors dieser Rezension gegenüber Roths immer wieder durchscheinende Annahme, wir würden bereits im letzten Jahr der Pandemie leben. Vieles spricht dagegen, dass mit der gegenwärtigen Omikron-Welle das Ende der Pandemie heranrückt. Die aktuelle Pandemie-Politik der meisten Staaten, auch der Bundesrepublik, ist ein Roulette-Spiel, bei dem völlig offen bleibt, ob die zahlreichen noch zu erwartenden Varianten sich durch geringere oder gesteigerte Kontagiosität und Letalität auszeichnen werden. Nicholas Christakis rechnet mit deutlich mehr Varianten, als das griechische Alphabet Buchstaben hat. Der Trend geht bisher in Richtung höherer Kontagiosität und geringerer Letalität. Eine zukünftige Steigerung der Letalität ist jedoch keineswegs auszuschließen.
Zuerst erschienen in Sozial.Geschichte Online, Nr. 31 (2022)
Republikation mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Sozial.Geschichte Online
Bibliografische Angaben:
Karl Heinz Roth.
Blinde Passagiere:
Die Coronakrise und ihre Folgen.
München: Verlag Antje Kunstmann, 2022.
480 Seiten, 30 Euro.
ISBN: 978–3‑95614–484‑4.
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Porträtfoto Karl Heinz Roth | © Verlag Antje Kunstmann |
Cover Blinde Passagiere | © Verlag Antje Kunstmann |
Cover A Journal of the Plague Year | © Penguin Classics |
Illustration Die Große Pest in London 1665 | Wikimedia Commons |
Illustration Pesttote in London 1665 | Wikimedia Commons |
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Nachweise
- Max Horkheimer, »Autoritärer Staat«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, S. 313 ↩
- Maurice Merleau-Ponty, Œuvres, hg. Claude Lefort (Paris: Gallimard, 2010), S. 279 ↩
- Cf. Karl Heinz Roth und Fritz Teufel, (Selbst-)kritische Beiträge zur Krise der Linken und der Guerilla (Tübingen: iva-Verlag, ²1980) ↩
- Peter Nowak, »Trennung verläuft nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften«, Telepolis, 30. Januar 2022, https://www.heise.de/tp/features/Trennung-verlaeuft-nicht-zwischen-Geimpften-und-Ungeimpften-6342596.html ↩
- Gerhard Hanloser, »Blinde Passagiere: Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth hat ein Grundlagenwerk zur kritischen Aufarbeitung der weltweiten Coronapandemie vorgelegt«, https://www.freitag.de/autoren/ghanloser/blinde-passagiere ↩
- Gerald Grüneklee, »Impfen – Lösung oder Problem?«, https://olaf.bbm.de/nummer-22-gerald-grueneklee-impfen-loesung-oder-problem ↩
- Elisabeth Voß, »Covid 19 und die Demokratie: Diskussionsbeitrag zur Kritik an den Corona-Maßnahmen von links«, Graswurzelrevolution, 1. Oktober 2020, https://www.graswurzel.net/gwr/2020/10/covid-19-und-die-demokratie/ ↩
- Daniel Defoe, A Journal of the Plague Year, hg. Cynthia Wall (London: Penguin, 2003), S. 41–44 ↩
- Cf. Albert Camus, Die Pest, übers. Guido G. Meister (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1965), vorangestelltes Motto von Daniel Defoe, S. 5; und Robert Emmet Meagher, Albert Camus and the Human Crisis (New York: Pegasus, 2021), S. 107–121 ↩
- Nicholas Christakis, Apollo’s Arrow: The Profound and Enduring Impact of Coronavirus on the Way We Live (New York: Little Brown Spark, 2020) ↩
- Frank M. Snowden, Epidemics and Society: From the Black Death to the Present (New Haven: Yale University Press, 2020, erweiterte Paperback-Ausgabe) ↩
- Cf. Jacob Stern und Katherine J. Wu, »Endemicity Is Meaningless«, Atlantic Monthly, Februar 2022, https://www.theatlantic.com/health/archive/2022/02/endemicity-means-nothing/621423/; Aris Katzourakis, »COVID-19: Endemic Doesn’t Mean Harmless«, Nature 601, 485 (2022), https://www.nature.com/articles/d41586-022–00155‑x ↩
- Cf. William Callison und Quinn Slobodian, »Corona Politics from the Reichstag to the Capitol«, Boston Review, 12. Januar 2021, https://bostonreview.net/articles/quinn-slobodian-toxic-politics-coronakspeticism/ ↩
- Cf. Arno Widmann, »Der Philosoph erkennt nur, was er immer erkennt«, Frankfurter Rundschau, 20. November 2020, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/der-philosoph-erkennt-nur-was-er-immer-erkennt-90106953.html ↩
- Cf. Frank Seemann, »Wie der Kapitalismus Seuchen erzeugt und fördert«, Südostasien, 22. April 2021, https://suedostasien.net/rezension-wie-der-kapitalismus-seuchen-erzeugt-und-foerdert/ ↩
- Mike Davis, The Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu (New York: The New Press, 2005) ↩
- David Wallace-Wells, Die unbewohnbare Erde: Leben nach der Erderwärmung (München: Heyne, 2022) ↩