Texte und Zeichen

Joseph Conrad: Die Schattenlinie

J

In falscher Verkleidung

Joseph Conrads Roman »Die Schattenlinie« liegt in einer Neuübersetzung vor

 

Von Jörg Auberg

 

Joseph Conrad (1916)
Joseph Con­rad (1916)

An Joseph Con­rads Roman Die Schat­ten­li­nie fas­zi­nier­te Giu­sep­pe Toma­si di Lam­pe­du­sa die Evo­ka­ti­on eines kaum fass­ba­ren Bann­flu­ches natür­li­cher und fan­tas­ti­scher Kräf­te. »In The Shadow Line ver­fol­gen wir gebannt«, schrieb Lam­pe­du­sa, »wie ein her­un­ter­ge­kom­me­nes Schiff mit einem Toten an Bord von der Wind­stil­le der Süd­see an der Mün­dung eines trü­ben sia­me­si­schen Flus­ses fest­ge­hal­ten wird.« 1

 

Basie­rend auf auto­bio­gra­fi­schen Erleb­nis­sen aus der Zeit, als Con­rad vor sei­ner Exis­tenz als Schrift­stel­ler in Eng­land zur See fuhr, beschreibt der Kurz­ro­man Die Schat­ten­li­nie, der nun in einer neu­en Über­set­zung Dani­el Gös­kes vor­liegt, die Erfah­rung einer Extrem­si­tua­ti­on. Nach der Über­nah­me sei­nes ers­ten Schiffs­kom­man­dos im Golf von Siam muss sich ein jun­ger Kapi­tän ange­sichts von Tro­pen­fie­ber und Flau­te, einer mys­te­riö­sen unter der Mann­schaft gras­sie­ren­den Krank­heit und feh­len­dem Chi­nin in der Bord­apo­the­ke, eines »Flu­ches« des toten Vor­gän­ger-Kapi­täns und eines dar­aus resul­tie­ren­den Deli­ri­ums des Ers­ten Offi­ziers auf See bewäh­ren, um das Schiff zu sei­nem Bestim­mungs­ort zu führen.

 

Joseph Conrad - The Shadow-Line (Penguin, 1986)
Joseph Con­rad — The Shadow-Line (Pen­gu­in, 1986)

Zwi­schen Febru­ar und Dezem­ber 1915 ent­stan­den und erst­mals im New Yor­ker Metro­po­li­tan Maga­zi­ne im Herbst 1916 erschie­nen, ist The Shadow-Line – wie vie­le Kom­men­ta­to­ren bemerk­ten – das ein­zi­ge Werk Con­rads, das sich – wenn auch ver­schlüs­selt – mit der Erfah­rung des Ers­ten Welt­krie­ges beschäf­tigt, obgleich Con­rad in einer spä­te­ren Ein­las­sung das »Enga­ge­ment« mit der »lei­den­den Mensch­heit« in Abre­de stell­te. Die Wid­mung »To Borys and All Others« rekur­riert auf die Gene­ra­ti­on sei­nes Soh­nes Borys, der an der Schlacht an der Som­me teil­nahm. Sie habe, schreibt Con­rad wei­ter in sei­ner Wid­mung, »in frü­her Jugend die Schat­ten­li­nie« über­schrit­ten.2 Wie Jac­ques Bert­houd in sei­ner Ein­lei­tung zur Pen­gu­in-Aus­ga­be des Romans her­vor­hebt, betrach­te­te Con­rad das Schrei­ben des schma­len Werks (das zunächst den Titel First Com­mand trug) als einen »Akt der Soli­da­ri­tät mit den jugend­li­chen Kom­bat­tan­ten, mit denen er nicht län­ger die­nen konn­te«.3

In Con­rads Ima­gi­na­ti­on war jedoch die Zeit ein­ge­fro­ren. Das vom tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt begüns­tig­te »Zeit­al­ter der Kata­stro­phe«4 (wie Eric Hobs­bawm die Jah­re zwi­schen 1914 und 1945 bezeich­ne­te) fin­det bei Con­rad kei­nen Nie­der­schlag: Die Bewäh­rung des jun­gen Kapi­täns und sei­ner Mann­schaft ereig­net sich auf einem Segel­schiff, auf dem sich Offi­zie­re und Unter­ge­ord­ne­te als Hand­wer­ker alter Pro­ve­ni­enz bewäh­ren müs­sen, wäh­rend Ent­wick­lun­gen des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus – die Unter­wer­fung Asi­ens durch den euro­päi­schen Impe­ria­lis­mus – kei­ne Rol­le spie­len. In der rück­wärts­ge­wand­ten Beschwö­rung der Segel­schiff­fahrt, wo Män­ner sich noch als Män­ner in der Aus­ein­an­der­set­zung mit den Natur­ge­wal­ten bewei­sen kön­nen, lässt Con­rad der Vor­herr­schaft »wei­ßer Män­ner« unge­hemmt frei­en Lauf, ohne je die Fra­ge zu stel­len, wel­che Rol­le Eng­län­der am Golf von Siam spie­len. Wie Irving Howe in sei­ner klas­si­schen Stu­die Poli­tics and the Novel (1957) zu Recht bemerk­te, arti­ku­liert sich bei Con­rad eine kon­ser­va­ti­ve Poli­tik des alt­mo­di­schen Eng­lands, das eher von einem pro­spe­rie­ren­den Mer­kan­ti­lis­mus denn von einem gie­ri­gen Impe­ria­lis­mus bestimmt wird. Als Sub­text in Con­rads Roman ver­birgt sich die Sehn­sucht, unbe­rührt von den ver­hee­ren­den Aus­wir­kun­gen des Indus­tria­lis­mus zu blei­ben sowie Pri­vi­le­gi­en und Wer­te zu bewah­ren, die von der neu­en Zeit erbar­mungs­los zer­stört wer­den.5

 

Joseph Conrad - Die Schattenlinie (Hanser, 2017)
Joseph Con­rad — Die Schat­ten­li­nie (Han­ser, 2017)

Die­ser Kon­ser­va­tis­mus schlägt sich auch in der Auf­ma­chung und Gestal­tung der Han­ser-Aus­ga­be des Romans nie­der, die mit zwei bun­ten Lese­bänd­chen und einer Illus­tra­ti­on von James McN­eill Whist­ler aus dem Jah­re 1866 der Nost­al­gie frönt. Whist­lers Bild rekur­riert auf eine schein­haf­te Stil­le der See, wäh­rend alle Ver­wei­se auf den euro­päi­schen Kolo­nia­lis­mus und den Ers­ten Welt­krieg getilgt wer­den. Nicht nur die­se Aus­ga­be bewegt sich gestal­te­risch am Ran­de des Kit­sches, son­dern auch nahe­zu alle ande­ren Bän­de der Rei­he »Han­ser Klas­si­ker-Neu­über­set­zun­gen«, wie sie auf der Home­page des Ver­la­ges bewor­ben wer­den, betrei­ben Rekla­me für ein pseu­do-tra­di­tio­nel­les „«Bücher­tum« à la Manu­fac­tum. Die »Liqui­da­ti­on des Buches«6 (die Theo­dor W. Ador­no bereits 1959 dia­gnos­ti­zier­te) zeigt sich nun in der zom­bie­haf­ten Zur­schau­stel­lung Potem­kin­scher Biblio­the­ken von Groß­ver­la­gen, in deren grel­len Aus­stel­lungs­hal­len das Tote mit auf­ge­hübsch­ten Frat­zen als »Gal­ler­te mensch­li­cher Arbeit«7 (Karl Marx) im Zir­ku­la­ti­ons­pro­zess einer men­schen­fres­sen­den Indus­trie noch ein­mal ver­wer­tet wird. Die Neu­über­set­zung kommt in einer Falsch­mün­zer-Ver­klei­dung daher und erweist sich schließ­lich als fehl­pro­du­zier­ter Omni­bus, denn als Drein­ga­be gibt es noch eine Neu­über­set­zung der Erzäh­lung The Secret Sha­rer aus dem Jah­re 1910. In die­sem Text ver­hilft ein jun­ger Kapi­tän dem Steu­er­mann eines ande­ren Schif­fes, dem ein Mord vor­ge­wor­fen wird, zur Flucht. Die Grün­de die­ser Flucht­hil­fe blei­ben im Dunkeln.

Eben­so bleibt die Moti­va­ti­on des Ver­la­ges ver­bor­gen, war­um er zwei Con­rad-Tex­te, die vage durch ihr Sujet mit­ein­an­der ver­bun­den sind, der­art dis­pa­rat anein­an­der stü­ckelt. Trei­ben­de Kraft bei die­sem Unter­neh­men ist Dani­el Gös­ke, der als Pro­fes­sor für Ame­ri­ka­nis­tik an der Uni­ver­si­tät von Kas­sel lehrt. Es genügt ihm nicht, Con­rads Tex­te in einer neu­en Über­set­zung zu prä­sen­tie­ren, son­dern er tritt in Imper­so­na­tio­nen als Über­set­zer, Kom­men­ta­tor, Her­aus­ge­ber und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler auf, bei denen er einer »I know better«-Attitüde frönt. Schon in einem uni­ver­si­tä­ren Lebens­lauf behaup­tet er von sich (ver­mut­lich allen Erns­tes), er sei als »Leh­rer­sohn in Lüne­burg«8 gebo­ren, und stellt sich in sei­nem aus­ufern­den Anhang mit Nach­wort, edi­to­ri­scher Notiz, Zeit­ta­fel zur Bio­gra­fie Con­rads und einem Glos­sar nau­ti­scher Begrif­fe als stre­ber­haf­ter Bes­ser­wis­ser zur Schau. Vor allem gefällt er sich als Steiß­tromm­ler frü­he­rer Über­set­zer, deren »Stra­te­gie einer über­set­ze­ri­schen Ein­bür­ge­rung«9 er ableh­ne, wie er in sei­ner edi­to­ri­schen Notiz herausstellt.

Die­se auf­ge­bläh­te Eitel­keit des Über­set­zers (der sich pene­trant ins rech­te Licht rücken will) ver­gällt die Lek­tü­re die­ser Aus­ga­be. »Ich kann Ihnen gar nicht genug raten, Con­rad zu lesen, denn Sie wer­den ein gro­ßes ästhe­ti­sches Ver­gnü­gen dar­an haben«10, riet Lam­pe­du­sa. Die­sem Urteil ist nicht zu wider­spre­chen, doch soll­te man sich die­ses ästhe­ti­sche Ver­gnü­gen eher mit den eng­li­schen Pen­gu­in-Aus­ga­ben denn mit die­ser Nerd-Edi­ti­on bereiten.

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Bibliografische Angaben:

 

Joseph Con­rad.
Die Schat­ten­li­nie.
Über­setzt aus dem Eng­li­schen und her­aus­ge­ge­ben von Dani­el Göske.
Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag, 2017.
420 Sei­ten, 30 Euro.
ISBN: 978–3‑446–25456‑5.

 

[otw_shortcode_content_box title=“Bildquellen” title_style=“otw-regular-title” content_pattern=“otw-pattern‑2” icon_type=“general found­icon-glo­be”] Foto Joseph Con­rad (1916) via Wiki­me­dia Com­mons
Cover The Shadow-Line — Pen­gu­in Books
Cover Die Schat­ten­li­nie — Carl Han­ser Verlag
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Eine kür­ze­re Fas­sung erschien in literaturkritik.de, Nr. 12 (Dezem­ber 2017)
© Jörg Auberg 2017

Nachweise

  1. Giu­sep­pe Toma­si di Lam­pe­du­sa, Mor­gen­rö­te der eng­li­schen Moder­ne, übers. Frie­de­ri­ke Haus­mann (Ber­lin: Wagen­bach, 1995), S. 59
  2. Joseph Con­rad, The Shadow-Line (Lon­don: Pen­gu­in, 1986), S. 37
  3. Jac­ques Bert­houd, »Intro­duc­tion: Auto­bio­gra­phy and War«, in: Con­rad, The Shadow-Line, S. 9
  4. Eric J. Hobs­bawm, The Age of Extre­mes: A Histo­ry of the World, 1914–1991 (New York: Vin­ta­ge, 1996), S. 19–222
  5. Irving Howe, Poli­tics and the Novel (Chi­ca­go: Ivan R. Dee, 2002), S. 79–84
  6. Theo­dor W. Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 346
  7. Karl Marx, Das Kapi­tal, Ers­ter Band (Ber­lin: Karl Dietz Ver­lag, 2008), S. 65
  8. Dani­el Gös­ke, Lebens­lauf, https://www.uni-kassel.de/fb02/fileadmin/datas/fb02/Institut_f%C3%BCr_Anglistik_Amerikanistik/Dateien/Literaturwissenschaft_Amerikanistik/CV_Daniel_G%C3%B6ske.pdf
  9. Dani­el Gös­ke, »Edi­to­ri­sche Notiz«, in: Joseph Con­rad, Die Schat­ten­li­nie (Mün­chen: Han­ser, 2017), S. 305
  10. Lam­pe­du­sa, Mor­gen­rö­te der eng­li­schen Moder­ne, S. 60

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