Die Revolte als Anekdotenreigen
In »Berlin – Stadt der Revolte« wird die Geschichte der »Revolte« gegen die Autoritäten in Berlin seit 1965 auf eine bloße Aneinanderreihung von Anekdoten reduziert
von Jörg Auberg
In ihrem Buch Berlin – Stadt der Revolte unternehmen die Spiegel-Journalisten Michael Sontheimer und Peter Wensierski den Versuch, die »jüngere Geschichte einer aufsässigen Metropole« (wie die Verlagswerbung das Thema auf dem Cover paraphrasiert) zu erzählen. In 56 kurzen Kapiteln werden Stationen von Revolten im urbanen Raum Berlins in der Zeit zwischen 1965 und den frühen 1990er Jahren beschrieben, wobei die Autoren beide Hälften der geteilten Stadt – Westberlin und Ostberlin – im Auge haben.
»Das Revolte-Gen verband die beiden Hälften der geteilten Stadt«1, heißt es im Vorwort, das die ahistorische Marschrichtung des Buches vorgibt. Auch wenn Neoliberalismus, Korruption und Rackets die urbanen Territorien Berlins im letzten halben Jahrhundert in Besitz genommen haben, beschwören Sontheimer und Wensierski den »Berliner Geist der Revolte«2 und frönen einem provinziellen Lokalpatriotismus, der auf der vollen Distanz des Buches in Berlin-Tümelei umschlägt.
Parallel dazu gesellt sich eine anekdotenhafte Zurichtung der Geschichte. Gegen das Unterfangen, ein »Netz der Erinnerung« auf Basis konkreter Orte zu knüpfen und eine »Topografie der Revolte« zu skizzieren3, ist nichts einzuwenden. Realiter verlieren sich Sontheimer und Wensierski jedoch in einer Aneinanderreihung von Einzelheiten, welche die gängige Historiografie der »Berliner Linken« von den Haschrebellen und der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin in den 1960er Jahren über die klandestine Opposition in »Berlin/DDR« bis zur Alternativ- und Hausbesetzerbewegung in den 1980er Jahren in kleine Portionen zerstückelt. Neue Erkenntnisse oder kritische Reflexionen vermögen die beiden Autoren nicht zu liefern. Tatsächlich sind die 56 Kapitel zu einem Großteil eine Zweitverwertung von Beiträgen zur Spiegel Online-Rubrik »Eines Tages«, in der historische Ereignisse in leicht konsumierbaren Anekdoten aufbereitet werden.
So liefert das Buch in erster Linie Anschauungsmaterial für die Gültigkeit von Hans Magnus Enzensberger Analyse der »Sprache des Spiegel« aus dem Jahre 1957. Geschichte wird zur biografisch aufgepeppten Story-Sammlung, in der gesellschaftliche, ökonomische oder kulturelle Zusammenhänge keine Rolle spielen. Mit ihren »Stories aus Fleisch und Blut«4 (Enzensberger) präsentieren die Spiegel-Autoren beliebige Individuen unterschiedlicher »Revolten«, die sich am Ende als restlos Integrierte erweisen und zum Gassenhauer »Schön war die Zeit« paradieren.
Auf der historischen Berliner Guckkastenbühne inszeniert sich das Autorenduo als »allgegenwärtiger Dämon«5 (Enzensberger), der dem Publikum das Aufblitzen der Geschichte als griffige »Story« im Duktus allwissender Erzähler verhökert. Bei jedem Narrationspartikel prätendieren sie zu wissen, »wie es denn eigentlich gewesen« sei, und reproduzieren mit ihrer medienindustriell geprägten Anekdotenform autoritäre Strukturen. Ständig repetieren die Autoren die Mär vom »Menschen in der Revolte« (Sontheimer erinnert sich wehmütig an seine »wilde« Zeit als Gitarrist in einer Punk-Band auf einer Hausbesetzerbühne), doch vermögen sie den Begriff der Revolte niemals selbstkritisch zu reflektieren: Während sie der »Aufsässigkeit« ein Loblied singen, sind ihre Texte von der »Lüge der Darstellung«6 (Theodor W. Adorno) gezeichnet.
»Revolten enden in Niederlagen, sonst wären sie Revolutionen«7, zitieren die Autoren am Ende ihrer Spiegel-Anthologie Johannes Agnoli, der sich gegen diese Vereinnahmung nicht wehren kann. Das Buch Berlin – Stadt der Revolte wirkt wie eine Spiegelfechterei in der falschen Kulissenwelt der Ufa-Fabrik mit den als Clowns auftretenden Hochstaplern, die mittlerweile zu den Rackets gehören. Dass eine kritische Historiografie auch in Berlin möglich ist, hat die Berliner Geschichtswerkstatt mit ihrer kritischen Aufarbeitung der Geschichte des Schöneberger Stadtteils »Rote Insel« im Jahre 1987 bewiesen. Anhand einer konkreten Topografie dieses Arbeiterviertels präsentierten die Autorinnen und Autoren eindrucksvoll die unterschiedlichen Facetten des lokalen Widerstands über die Jahrzehnte – von den Auseinandersetzungen zwischen preußischem Militär und sozialistischer Arbeiterbewegung oder vom Widerstand gegen den Nationalismus bis zum Aufbegehren gegen den innerstädtischen Autobahnbau.8 Die Vielschichtigkeit, die in diesem Band zum Ausdruck kommt, sucht man bei Sontheimer und Wensierski vergeblich. In Erinnerung bleibt nur die Leere einer falschen Konstruktion.
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Bibliografische Angaben:
Michael Sontheimer und Peter Wensierski:
Berlin – Stadt der Revolte.
Berlin: Ch. Links Verlag, 2018.
445 Seiten, 25,00 Euro.
ISBN-13: 9783861539889
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Cover Berlin — Stadt der Revolte — Ch. Links Verlag
Szenenfoto … und wenn wir nicht wollen? Oder: wer saniert hier wen? — Quelle: Wilhelm Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960 (München: Verlag C. J. Bucher, 1982)
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Eine kürzere Fassung erschien in literaturkritik.de, Nr. 7 (Juli 2018)
© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- Michael Sontheimer und Peter Wensierski, Berlin – Stadt der Revolte (Berlin: Ch. Links Verlag, 2018), S. 14 ↩
- Sontheimer und Wensierski, Berlin – Stadt der Revolte, S. 410 ↩
- Sontheimer und Wensierski, Berlin – Stadt der Revolte, S. 16 ↩
- Hans Magnus Enzensberger, »Die Sprache des Spiegel«, in: Enzensberger, Einzelheiten I: Bewußtseins-Industrie (1962; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973), S. 86 ↩
- Enzensberger, »Die Sprache des Spiegel«, S. 89 ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 45 ↩
- Sontheimer und Wensierski, Berlin – Stadt der Revolte, S. 407 ↩
- Berliner Geschichtswerkstatt, Die Rote Insel: Berlin-Schöneberg – Bruchstücke zur Stadtgeschichte (1987/89; rpt. Berlin: Berliner Geschichtswerkstatt, 2008) ↩