»Pogromluft weht in Deutschland«
Kristina von Soden beschreibt in ihrem Buch »Ob die Möwen manchmal an mich denken?« Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee
Im Juli 1938 fühlte sich der Vorstandsvorsitzende der Magdeburger Versorgung AG – laut Selbstbeschreibung ein »alter Nationalsozialist« – während seines Urlaubes im Ostseebad Prerow auf der Halbinsel Darß von drei »typischen Judenkindern« im Strandkorb vor ihm belästigt. In einem maschinengeschriebenen Protestbrief forderte er den Kurdirektor des Seebades auf, die Kinder samt ihrer weiblichen Begleitperson schleunigst zu entfernen. Am 25. Juli 1938 mussten die jüdischen Vollwaisen Irma, Mirjam und Sonja Sonnenschein sowie ihre Erzieherin Gertrud Heßlein den Ort verlassen. Fünf Jahre später wurden die drei Schwestern in Auschwitz ermordet.1
»Antisemitische Badenester«
In ihrem Buch »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«2 beschreibt Kristine von Soden anhand von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen und Zeitgenossinnen wie Else Lasker-Schüler, Hannah Arendt, Mascha Kaléko, Eva und Victor Klemperer, Käthe Kollwitz oder Kurt Tucholsky sowie zahlreichen Archivdokumenten den Aufschwung des Bäder-Tourismus an der Ostsee während des wilhelminischen Kaiserreichs wie auch den – nicht nur in Deutschland – grassierenden »Bäder-Antisemitismus«.
In den Ostseebädern auf Hiddensee, Rügen und Usedom, an der Bernsteinküste von Samland oder an der »Pommerschen Riviera« nahm man zwar gern das Geld der jüdischen Erholungsgäste, doch wurden sie von den deutschen Betreibern der Pensionen und Hotels als unliebsame, wenn nicht feindliche »Fremde« betrachtet. Vom »Fremdenverkehr« lebten die Tourismus-Beschäftigten, doch insgeheim verachteten oder hassten sie die jüdischen »Fremden«.
[otw_shortcode_quote border_style=“bordered” background_pattern=“otw-pattern‑1”]»Jüdische Badegäste werden vielerorts mit Beleidigungen konfrontiert, die einer erfolgreichen Erholung entgegenwirken. Schon allein der Hinweis etlicher Quartiere auf den Ausschluss jüdischer Gäste dämpfte jede Heiterkeit und Ferienlust.«3[/otw_shortcode_quote]
Bereits 1904 schrieb der liberal-konservative Verleger Rudolf Mosse in einem Leitartikel gegen die »antisemitischen Bäder und Sommerfrischen« an: »Wir schämen uns der Antisemiten, aber der antisemitischen Sommerfrischen könnten sich selbst die Antisemiten schämen, so gering der von ihnen gebliebene Rest von Schamgefühl auch sein mag. Bis es aber anders geworden ist, meide jeder Jude diese antisemitischen Badenester.«4
Von der Sommerfrische zum Pogrom
Nach dem ersten Weltkrieg agierten antisemitische Akteure in Bädern und Kurorten zunehmend aggressiver und brutaler, wie der Historiker Frank Bajohr in seiner Studie über den Bäder-Antisemitismus konstatiert.5 Beispielsweise lehnte das Ostseebad Zinnowitz auf Usedom »jüdischen Besuch« entschieden ab, und das »Zinnowitz-Lied« (eine Variation des berüchtigten antisemitischen »Borkum-Liedes«) unterstrich, was unter »deutschem Gefühl« zu verstehen war: »Wir mögen keine fremde Rasse/– Fern bleibt der Itz/Von Zinnowitz.«6 1918 titelte eine Zeitung: »Pogromluft weht in Deutschland«, und in den Folgejahren gewannen »Hakenkreuzler« auch in den »Oasen« der Sommerfrische die Oberhand. Von den Giebeln mondäner Strandhotels im Seebad Binz wehten Hakenkreuzfahnen, und die Insel Rügen wurde vor allem »völkischen Besuchern« empfohlen.7
Wie schon von Sodens Vorgängerbuch zur Geschichte der jüdischen Flucht aus Deutschland in den 1930er Jahren8 besticht auch dieser Band durch eine exzellente Archivrecherche und reichhaltige Dokumentation. Viele der zahlreichen Abbildungen gewähren Einblicke in die Psychopathologie einer Bevölkerung, die ihr Heil in einem völkischen Nationalismus suchte. Bereits 1920 verzierten Strandhotel-Betreiber ihre Werbeanzeigen mit Hakenkreuzen, und deutsche Urlauber in den Ostseebädern Grömitz und Scharbeutz beflaggten ihre Strandburgen mit deutschnationalen Fahnen. In den Zentren der antisemitischen Sommerfrischen wähnte man sich früh auf dem Weg zum »stein- und judenfreien Strand«9. Für Frank Bajohr sind die Seebäder ein »Wegbereiter des Ausgrenzungsprozesses«10, der schließlich zur völligen Elimination führte, wie sie am Beispiel der Geschwister Sonnenschein vollzogen wurde.
Der »Knoten des Zufälligen«
In seiner Vorgeschichte des politischen Antisemitismus hatte Paul M. Massing den Aufstieg des Imperialismus für das zeitweise Abebben antijüdischer Aktionen im wilhelminischen Kaiserreich ausgemacht. Als der Erste Weltkrieg den deutschen Illusionen von internationaler Vorherrschaft ein jähes wie demütigendes Ende bereitete, kehrte der Antisemitismus »stärker und bösartiger denn je« zurück.11
»Der Antisemitismus hat seine Basis in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie in Bewußtsein und Unbewußtsein der Massen«, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1959. »Aber es aktualisiert sich als Mittel der Politik: als eines der Integration auseinanderweisender Gruppeninteressen; als die kürzeste und ungefährlichste Art, von einer Lebensnot abzulenken, zu deren Beseitigung andere Mittel verfügbar wären.«12
Das Verdienst Kristina von Sodens ist es, dass sie Materialien in minutiöser Kleinarbeit zusammengebracht hat, welche die Wirkungsweise der Ausgrenzung offenlegen. Am Ende dieses Prozesses stehen Ghettoisierung und schließlich Ausmerzung. Gerade in Zeiten wie diesen trägt dieses Buch dazu bei, den »Knoten des Zufälligen« zu entwirren13 (wie es bei Horkheimer und Adorno hieß). Ob jedoch das neuerlich heraufdämmernde Verhängnis der deutschen Vergangenheit dadurch aufgehalten werden kann, muss angesichts der aktuellen Verhältnisse bezweifelt werden.
Bibliografische Angaben:
Kristine von Soden.
»Ob die Möwen manchmal an mich denken?«
Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee.
Berlin: AvivA Verlag, 2018.
208 Seiten, 20 Euro.
ISBN: 978–3‑932338–72‑4.
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Cover »Ob die Möwen manchmal an mich denken?« — © AvivA Verlag
Foto von Rudolf Mosse — Wikimedia
Cover Vorgeschichte des politischen Antisemitismus — © Europäische Verlagsanstalt
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© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- Kristine von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«: Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee (Berlin: AvivA Verlag, 2018), S. 129–131 ↩
- Der Titel des Buches geht auf ein Zitat der dänischen Schauspielerin Asta Nielsen zurück, die häufig in Vitte auf Hiddensee ihren Urlaub verbrachte: »Ob die Möwen in Vitte manchmal an mich denken?«, fragte sie in ihren Memoiren, nachdem sie nach 1935 nie mehr nach Hiddensee zurückkehrte. Cf. von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, S. 118 ↩
- von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, S. 36 ↩
- von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, S. 38 ↩
- Frank Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«: Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert (Frankfurt/Main: Fischer, 2003), S. 142 ↩
- Zitiert nach Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«, S. 176 ↩
- von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, S. 49, 64, 98 ↩
- Kristine von Soden, »Und draußen weht ein fremder Wind …«: Über die Meere ins Exil ((Berlin: AvivA Verlag, 2016) ↩
- von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, S. 163 ↩
- Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«, S. 116 ↩
- Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, übersetzt und bearbeitet von Felix Weil (1959; rpt. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, 1986), S.225 ↩
- Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Vorwort zu: Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, S. VIII ↩
- Horkheimer und Adorno, Vorwort zu: Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, S. VII ↩