Früchte des Zorns
In seinem posthum veröffentlichen Werk Assassins Against the Old Order erzählt Nunzio Pernicone die Geschichte anarchistischer Attentäter im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts
von Jörg Auberg
In seinem Standardwerk über die Geschichte des italienischen Anarchismus Italian Anarchism, 1864–1892 (1993) vertrat der US-amerikanische Historiker Nunzio Pernicone (1940–2013) die Auffassung, dass die italienischen Anarchisten in der Zeit zwischen dem Risorgimento und dem Aufstieg des Faschismus den »Hauptbestandteil der italienischen Linken« repräsentierten. Dennoch war die anarchistische Bewegung in all den Jahren in einem »Teufelskreis aus Vorrücken und Rückzug« gefangen: Jedes neues Aufbäumen gegen die Staatsmacht wurde mit einer neuen Woge der herrschaftlichen Repression bezahlt. Nach diesem historischen Muster verschwanden anarchistische Bewegungen und ihre Protagonisten immer wieder in Wellen von Verhaftungen, Flucht ins Exil, der Unterdrückung von Zeitungen und Zeitschriften und der Auflösung von Gruppen und Zirkeln, um Jahre später in Zyklen der Agitation erneut aufzutauchen.1
Doch trotz all dieser »Zeiten der Wiederkehr« in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vermochten die italienischen Anarchisten es nicht, aus ihrer selbstverschuldeten Isolation auszubrechen. Errico Malatesta (1853–1932), einer der maßgeblichen Akteure der revolutionären Bewegung, kritisierte 1894 in einem Artikel, dass die Anarchisten »viel Palaver über die Revolution« machten, die sich am Ende nicht vom Paradies der Katholiken unterscheide und als »ein Versprechen für das Jenseits« erweise.2 Die italienischen Anarchisten wurden zu Gefangenen ihrer eigenen Weltanschauung, schlussfolgerte Pernicone, zu ohnmächtig, um die Bourgeoisie und den Staat zu gefährden. Ironischerweise waren sie aber die Hauptopfer der bürgerlichen Hysterie und der Staatsmacht in den Jahren nach der Gründung des italienischen Königreiches, deren autoritären Herrscher in den sozialen Unruhen und Aufständen im ausgehenden 19. Jahrhundert in erster Linie Verschwörungen sinistrer Anarchisten und Sozialisten am Werke sahen.3 Abgekoppelt von den revolutionären Massen, entlud sich der anarchistische Protest gegen die herrschenden Verhältnisse zuvörderst in individuellen Attentaten, die funkengleich einen revolutionären Brand entfachen sollten. Das Konzept dieser »Propaganda der Tat« entwickelte erstmals der italienische Politiker und Guerillakämpfer Carlo Pisacane (1818–1857), ein gefeierter Held des Risorgimento, der Gewalt als essenzielle revolutionäre Triebkraft ansah.4 Zwischen 1894 und 1900 verübten italienische Anarchisten in kurzer Folge Attentate auf Repräsentanten der Staatsmacht, die sie entweder mit dem Leben oder mit langer Kerkerhaft bezahlten, ohne dass die Attentate wie erhofft zu revolutionären Aktionen führten. Stattdessen zog der italienische Staat die Repressionsschrauben an.
Bereits im Epilog seines Buches Italian Anarchism hatte Pernicone die Geschichte der italienischen »attentatori« angerissen, doch endete für ihn damals die Geschichte des Anarchismus in Italien mit der Unterdrückung während der faschistischen Herrschaft, von der sich die libertäre Bewegung niemals erholte.5 In seinen letzten Lebensjahren griff Pernicone das Thema der anarchistischen Attentäter noch einmal auf, wobei ihn vor allem eine Opposition zur gängigen bürgerlichen Geschichtsschreibung antrieb, die – anknüpfend an literarische Klischees von Romanciers wie Joseph Conrad und Henry James6 – anarchistische Attentäter vor allem als Erfüllungsgehilfen intellektueller »Schreibtischtäter« beschrieb, welche die Idee ausbrüteten, die »niedere« Täter als Instrumente des geistigen Strippenziehers in die blutige Tat umsetzten. Historikerinnen wie Barbara Tuchman beschrieben die italienischen Attentäter als bloße »Instrumente der Idee«7. In ihrer stereotypen Darstellung der Anarchisten als notorische Gewalttäter unterschlugen sie jedoch, dass politische Gewalt von allen revolutionären Demokraten des Risorgimento propagiert wurde: Giuseppe Garibaldi befürwortete politische Attentate, um das Ziel der Revolution zu erreichen, und generell galt unter bürgerlichen Aktivisten der nationalen Einigungsbewegung der Tyrannenmord als legitimer Widerstand gegen die Diktatur. Ironischerweise war das Resultat des Risorgimentos ein autoritärer Staat mit liberaler Fassade, ein »virtueller Polizeistaat für Anarchisten«8
Zweifelsohne lagen Pernicones Sympathien bei den Anarchisten, den »Verlierern der Geschichte«, die er aus den Erzählungen seines italienischen Vaters kannte und mit denen er im New Yorker Greenwich Village aufwuchs.9 Doch gerade seine intimen Kenntnisse der anarchistischen Verhältnisse bewahrten ihn davor, die Anarchisten als Heroen der Freiheit zu verklären: In ihrer Idiosynkrasie gegen Regularien der Organisation und ihrem Faible für klandestine Geheimbündelei, die oft in Sektiererei endete, unterminierten sie nicht allein ihren möglichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen, sondern sabotierten oft auch unfreiwillig den Widerstand gegen faschistische und totalitäre Kräfte.10
Trotz allem blieb Pernicone dem »anarchistischen Projekt« mit »kritischer Sympathie« verbunden und war von einer Abneigung gegenüber allem, was nach Kommunismus roch, gekennzeichnet. Dennoch freundete er sich nach einer akademischen Konferenz zum Thema »Faschismus und Antifaschismus unter Italo-Amerikanern« im Jahre 2001 mit dem italienischen Kollegen Fraser Ottanelli an, der in den 1970er Jahren in der Kommunistischen Partei Italiens war und eine Studie über die US-amerikanische Kommunistische Partei in den 1930er Jahren veröffentlicht hatte.11 Im Laufe der Jahre bildeten sie eine kleine »Volksfront« der linken Historiker. Als im März 2013 bei Pernicone eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert wurde, bat er Ottanelli, sein begonnenes Werk über die italienischen Attentäter zu vollenden. 18 Kapitel auf 700 Seiten komprimierte Ottanelli zu 11 Kapiteln auf 270 Seiten; zudem steuerte er eine Einleitung und eine Konklusion bei und aktualisierte die Bibliografie.
Eine zentrale Figur in der repressiven Politik im italienischen Staat war Francesco Crispi, ein ehemaliger Revolutionär, der als Premier- und Innenminister ein autoritäres Regime führte, soziale Unruhen und Aufstände mit brachialer Gewalt unterdrückte und linke Oppositionelle häufig ohne Gerichtsverfahren ins »domicilio coatto« in kargen Strafkolonien im Süden Italiens Verbannte. Für Pernicone war Crispi »der autoritärste aller Premierminister Italiens vor Mussolini«12, der die Revolten gegen seine Herrschaft nicht in seiner unsozialen Politik begründet sah, sondern den umstürzlerischen Umtrieben klandestiner Verschwörer aus der Welt der Anarchisten und Sozialisten zuschrieb. Als Antwort auf die repressiven und prekären Verhältnisse im Land begingen zwischen den Jahre 1894 und 1900 eine Reihe von Anarchisten als »giustiziere« Attentate, die als Akte der Gerechtigkeit gelten sollten.
Am Beispiel von sechs Attentätern – Paolo Lega, Sante Caserio, Pietro Acciarito, Michele Angiolillo, Luigi Lucheni und Gaetano Bresci – schildert Pernicone einerseits die politischen und historischen Hintergründe der Repression; zum anderen beschreibt er die Entwicklung zumeist einfacher Handwerker und Arbeiter zu »selbstlosen« Attentäter, die weniger als Werkzeuge ruchloser Intellektueller agierten denn als selbstermächtigte Vollstrecker der Gerechtigkeit. Als der 25-jährige Zimmermann Paolo Lega dem Premierminister 1894 nach dem Leben trachtete, wollte er mit diesem Attentat einen führenden Repräsentanten des Staates bestrafen, der für die blutige Niederschlagung der sozialen Proteste in Sizilien verantwortlich war. Eine ähnliche Argumentation bemühten Sante Caserio und Michele Angiolillo, die den französischen Staatspräsidenten Marie François Sadi Carnot (1894) und den spanischen Premierminister Antonio Cánovas del Castillo (1897) ermordeten und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Angiolillo war, schlussfolgert Pernicone, »der Inbegriff des giustiziere, der einen klassischen Akt der ausgleichenden anarchistischen Gerechtigkeit begangen hatte. Von daher nimmt Angiolillo den höchsten Rang im Pantheon der anarchistischen Märtyrer ein.«13
Demgegenüber steht Luigi Lucheni, der Attentäter der österreichischen Kaiserin Elisabeth (1898), auf der niedrigsten Stufe. Der selbsternannte »individualistische Anarchist« und Vertreter der »Propganda der Tat« wollte eine »hochgestellte Persönlichkeit« töten, sodass er Berühmtheit durch die Berichterstattung in der Presse erhielt, während Moral und Gerechtigkeit bei seinem Tötungsakt keinerlei Rolle spielte. Ganz im Gegensatz dazu stand der Attentat Gaetano Brescis auf den italienischen König Umberto I., dessen Auslöser die blutigen Lebensmittelaufstände in Mailand im Mai 1898 (bekannt als Fatti di Maggio oder auch als Bava-Beccaris-Massaker) waren. General Fiorenzo Bava-Beccaris ließ aufständischen Demonstranten niederschießen, wobei etwa 300 Menschen umkamen. Dies nahm Bresci, der in die USA emigriert war und in Paterson (New Jersey) als Weber arbeitete, zum Anlass, zurück nach Italien zu reisen und den König mit drei Schüssen niederzustrecken. In Paterson war er in der anarchistischen Szene aktiv, polizeilich aber nie aufgefallen, sodass sein stiller Entschluss, den König zu töten, für viele überraschend kam. Für die italienischen Anarchisten war er ein »edler und heroischer Rächer, dessen Motive rein und selbstlos waren«, schreibt Pernicone, und dessen Opfer als Tyrann vollkommen für die Tat der Vergeltung, die er empfang, qualifiziert war. 14 Zudem zweifelt Pernicone an der offiziellen Version des Selbstmordes, die Historikerinnen wie Tuchman ungeprüft übernahmen, obgleich eine Reihe von Indizien eher für eine Mordthese sprachen: Wie konnte Bresci, obwohl er unter permanenter Beobachtung in seinem Kerker stand, unbemerkt Selbstmord begehen?
Auch wenn Pernicone in seinem biografischen Ansatz sich auf die historischen Bedingtheiten und Entwicklungen dieser sechs Attentäter fokussiert, reduziert er die italienische anarchistische Gewalt nicht auf eine individuelle Psychologie, wie Ottanelli in seiner Konklusion bekräftigt. Als Historiker bewegt er sich – wie Siegfried Kracauer einmal treffend schrieb – »zwischen den Makro- und Mikro-Dimensionen«15, analysiert detailreich die politischen Strukturen des autoritären bürgerlichen Staates, der mit seinen Repressionsformen immer neue Gewalt produzierte, und reflektiert die gesellschaftlichen Realitäten der attentatori, die am Ende ihres Lebens die ungeminderte Brutalität des Staatsapparates am eigenen Körper spürten. Die Standard-Interpretationen schreiben den Hauptgrund für anarchistische Attentate einer Kombination aus anarchistischer Ideologie, individuellen psychologischen Charakteristika und persönlichen Umständen zu. Pernicone aber zeigt auf, dass die Attentäter keineswegs Instrumente eines anarchistischen »masterminds« waren, sondern zumeist aus moralischer Überzeugung für sich selbst und in Selbstaufgabe für andere handelten. »Die Attentate klangen«, schreibt Ottanelli, »wie eine Fanfarenerinnerung für die politische Klasse und die Bourgeoisie: ›Was ihr sät, werdet ihr ernten‹.«16 Sie waren desperate Akte des Protestes und der Rebellion, die wie ein Haltesignal wirken sollten: Jede Schandtat musste gesühnt werden. Darüber hinaus zeigt diese akribische wie detaillierte Studie, dass der autoritäre Staat Mussolinis auf die Praxis und die Institutionen einer nur liberal-demokratisch drapierten zurückgreifen konnte. Die Hinrichtung Michele Angiolillos durch die Garotte, wobei dem an einen Holzpfahl gesesselten Verurteilten die Luftröhre zusammengepresst wurde, bis der Tod durch langsames Ersticken eintrat, ist – in Paraphrase Max Horkheimers – ein Kommentar zur bürgerlichen Humanität. »Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat«17, schrieb Horkheimer. Auch nach Mussolinis Ende wirkte seine Herrschaft fort. Pernicone gebührt das Verdienst, dass er unermüdlich die gewalttätigen Mechanismen der Herrschaft in ihrer historischen Dimension beschrieb.
Bibliografische Angaben:
Nunzio Pernicone und Fraser M. Ottanelli.
Assassins Against the Old Order.
Italian Anarchist Violence in Fin de Siècle Europe.
Champaign, IL: University of Illinois Press, 2018.
232 Seiten, 30 US-Dollar.
ISBN: 978–0‑252–08353‑2.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Italian Anarchism, 1864–1892 | © AK Press |
Cover Carlo Tresca: Portrait of a Rebel | © Palgrave Macmillan |
Cover Old Assassins Against the Old Order | © University of Illinois Press |
Illustration Michele Angiolillos Attentat auf den spanischen Premierminister Cánovas | Wikimedia Commons |
Foto Luigi Lucheni | Wikimedia Commons |
Foto Sante Geronimo Caserio in einer Zeichnung von Frédéric Lix |
© Jörg Auberg 2019
Nachweise:
Nachweise
- Nunzio Pernicone, Italian Anarchism, 1864–1892 (1993; rpt. Oakland, CA: AK Press, 2009), S. 7; Davide Turcato, Making Sense of Anarchism: Errico Malatesta’s Experiments with Revolution, 1889–1900 (Oakland, CA: AK Press, 2015), S. 12 ↩
- Errico Malatesta, »Let Us Go to the People« (»Andiamo fra il popolo«), in: The Method of Freedom: A Errico Malatesta Reader, hg. Davide Turcato, übers. Paul Sharkey (Oakland, CA: AK Press, 2014), S. 170 ↩
- Pernicone, Italian Anarchism, 1864–1892, S. 287 ↩
- Peter Marshall, Demanding the Impossible: A History of Anarchism (Oakland, CA: PM Press, 2010), S. 446 ↩
- Pernicone, Italian Anarchism, 1864–1892, S. 294 ↩
- Cf. Irving Howe, Politics and the Novel (1957; rpt. Chicago: Ivan R. Dee, 2002), S. 76–113, 139–156; Alex Houen, Terrorism and Modern Literature: From Joseph Conrad to Ciaron Carson (Oxford: Oxford University Press, 2002), S. 34–92 ↩
- Barbara Tuchman, The Proud Tower: A Portrait of the World Before the War, 1890–1914 (1962; rpt. New York: Random House, 1994), S. 117 ↩
- Nunzio Pernicone und Fraser M. Ottanelli, Assassins Against the Old Order: Italian Anarchist Violence in Fin de Siècle Europe (Champaign, IL: University of Illinois Press, 2018), S. 44, zitiert nach der EPUB-Version ↩
- Pernicone, Carlo Tresca: Portrait of a Rebel (New York: Palgrave Macmillan, 2005), S. vii ↩
- Cf. Pernicone, »War Among the Italian Anarchists: The Galleanisti’s Campaign Against Carlo Tresca«, in: The Lost World of Italian-American Radicalism, hg. Philip Cannistraro und Gerald Meyer (Westport, CN: Praeger, 2003), S. 77–97 ↩
- Fraser Ottanelli, The Communist Party of the United States: From the Depression to World War II (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1991) ↩
- Pernicone und Ottanelli, Assassins Against the Old Order, S. 79 ↩
- Pernicone und Ottanelli, Assassins Against the Old Order, S. 143 ↩
- Pernicone und Ottanelli, Assassins Against the Old Order, S. 208 ↩
- Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. Karsten Witte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973), S. 145 ↩
- Pernicone und Ottanelli, Assassins Against the Old Order, S. 222 ↩
- Max Horkheimer, »Autoritärer Staat« (1940/42), in Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S.313 ↩