Schaukasten der Moderne
In ihrem Buch »American Moderns« erzählt Christine Stansell die Geschichte der New Yorker Boheme zu Beginn des 20. Jahrhunderts und liefert Aufschlüsse über die Versprechen und Verwirrungen einer widersprüchlichen Moderne.
Von Jörg Auberg
Stets schon ist New York ein besonderer Ort gewesen. Die Stadt liegt an der Schnittstelle zwischen den Kulturen der Welt, zugleich innerhalb und außerhalb der USA. Die Einzigartigkeit New Yorks unterstrich Paul Auster exemplarisch 1997 in einem Gespräch mit Lou Reed: »New York halte ich nicht für einen Teil Amerikas«, sagte der Autor der New York-Trilogie, »es ist nicht einmal ein Teil des Staates New York. Es ist ein kleiner separater Stadtstaat, der zur Welt gehört.« Diese Universalität New Yorks entging eurozentristischen Autoren wie Serge Guilbaut, der in seinem Buch Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat (1983) nicht allein die »Kulturzaren von New York« im Umfeld des Abstrakten Expressionismus und die »intellektuelle Isolation in Amerika« attackierte, sondern auch in vollkommener Ignoranz der Vorgeschichte über den »Patriotismus eines Randolph Bourne« schwadronierte, der gerade als einer der wenigen amerikanischen Intellektuellen zu Zeiten des Ersten Weltkrieges gegen den patriotischen Zeitgeist Einspruch erhob und damit seine publizistische Karriere zerstörte.
Keineswegs stahl der »kulturlose« Moloch New York die Idee der modernen Kunst nach dem Fall von Paris im Zweiten Weltkrieg, wie Guilbaut insinuierte. Schon früh hatte in dieser Metropole die Moderne Einzug gehalten, wie die feministische Historikerin Christine Stansell in ihrem Buch American Moderns eindrucksvoll beschreibt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich in New York eine »Subkultur« von Bohemiens herausgebildet, die Politik, Kunst und Literatur in vielschichtiger Weise verknüpfte. Mit den Immigranten wanderten anarchistische und sozialistische Ideen der sozialen Umwälzung in den urbanen Raum ein, und zugleich fanden avantgardistische Strömungen wie Kubismus und Dadaismus ihre Fortsetzung in der künstlerischen Applikation auf dem neuen Kontinent. Die Armory Show im Frühjahr 1913, in der eine repräsentative Auswahl moderner Kunstwerke in New York ausgestellt wurde, gilt als Beginn der Moderne in den USA. Die Stadt wurde, schreibt Stansell, zum Schaukasten des modernen Zeitalters – eine Ansicht, die auch die Erinnerung eines prominenten Besuchers im Januar 1917 unterstreicht. »Ich bin in New York«, schrieb Leo Trotzki in seiner Autobiographie, »in der märchenhaft prosaischen Stadt des kapitalistischen Automatismus, wo in den Straßen die ästhetische Theorie des Kubismus und in den Herzen die sittliche Philosophie des Dollars herrscht.«
Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden New Yorker Kulturindustrie mit ihren Zeitungen, Magazinen und Buchverlagen beschreibt Stansell die Herausbildung einer Boheme, die sich als eine »New Yorker Elite von Außenseitern« begriff und trotz aller politischen und ästhetischen Differenzen eine gemeinsame Grundlage in der Opposition zur amerikanischen Mainstream-Gesellschaft der Zeit hatte. Die Kunstmäzenin Mabel Dodge Luhan sah in Kultur zuvörderst Kommunikation und bot in ihrem Salon in Greenwich Village ein Forum für Diskussionen, in dem Ästheten und Künstler auf anarchistische und sozialistische Revolutionäre trafen. Margaret Anderson förderte in ihrer Zeitschrift The Little Review die junge Avantgarde, während Max Eastman mit seiner sozialistischen Zeitschrift The Masses die bürgerliche Gesellschaft mit Hohn und Spott attackierte. Der Journalist John Reed trug mit seinen Reportagen über die mexikanische Revolution den revolutionären Funken in die globale Metropole, während Randolph Bourne, in Vorwegnahme späterer Ausprägungen der Jugendkultur, die Jugend als Agent historischer Veränderungen glorifizierte. Die New Yorker Boheme suchte sich ihre Freiräume in einer vom Hochkapitalismus und von der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft gezeichneten Großstadt, ohne dass eine Emanzipation den urbanen Raum von den übermächtigen Zwängen hätte befreien können. Der Typus der »neuen Frau« bemächtigte sich zwar einiger Orte in der urbanen Geographie, vermochte aber nie, die patriarchale Ordnung der Metropole infrage zu stellen.
Die Stärke von Stansells Buch liegt in der souveränen Verwebung individueller Geschichten mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, wobei sie zugleich die Möglichkeiten und Beschränkungen des sozialen Gegenentwurfes offenlegt. Vor allem an der Geschichte der Anarchistin und Feministin Emma Goldman stellt Stansell die Grenzen der Emanzipation unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen dar. Einerseits befreite sich die »rote Emma« aus den Fesseln eines engstirnigen Anarchismus, wie er in Immigrantenkreisen aus Deutschland und Russland propagiert wurde, und entwarf sich als Autorin und Rednerin, die Einfluss über die Zirkel der radikalen Aktivisten hinaus ausübte und heranwachsende Talente wie Henry Miller prägte. Andererseits hatte sie starke Vorbehalte gegenüber der sich herausbildenden populären Kultur und begriff sich als Teil einer »demokratisierten kulturellen Elite«, die einem traditionellen Kulturverständnis verhaftet blieb. Mit einem Bein stand sie im Lager der revolutionären Anarchisten, während sich das andere in den Salons der Boheme befand. Die einen kritisierten sie wegen ihrer Hinwendung zur Respektabilität, während die anderen ihr vorwarfen, noch immer den alten politischen Gewaltvorstellungen verhaftet zu sein. Zerrissen war sie auch in der Sexualität. Als Feministin propagierte sie in der Öffentlichkeit die rationale Emanzipation der Frau, während sie in Briefen an ihren zeitweiligen Liebhaber Ben Reitman eine animalische Lust beschwor und in Vorwegnahme der späteren Kommerzialisierung von Urbanität und Sexualität einen »dirty talk« zelebrierte. Die Befreiung von bürgerlichen Konventionen und gesellschaftlichen Kompromissen endete schließlich am festgemauerten Raum, der nicht durch die Praktizierung vorgeblich herrschaftsfreier Kommunikation zum Einsturz gebracht werden konnte. Wie kaum eine andere Figur symbolisiert Goldman Stansells Triptychon von Reden, Schreiben und Sex innerhalb der New Yorker Boheme, die schließlich an den harten Realitäten zerschellte.
Mit dem Eintritt der USA in den Krieg 1917 begann ein Kreuzzug gegen den Radikalismus, der auch das Ende der New Yorker Boheme einläutete. Linke Kriegsgegner wurden inhaftiert, »ausländische Radikale« wie Emma Goldman nach Russland deportiert, und einst populäre Journalisten wie John Reed oder Randolph Bourne aus dem publizistischen »Diskurs« ausgeschlossen und marginalisiert. Nach dem Krieg emigrierten viele Bohemiens nach Europa, sodass von dem einstigen Fieber in Politik, Kunst und Leben in New York nicht viel übrig blieb – von den Memoiren der verstreuten Überlebenden abgesehen. Das Verdienst Stansells ist es, die Modernität dieser frühen Avantgarde in einer adäquaten, komplexen, aber erfrischend unakademischen Erzählung vor Augen zu führen und Aufschlüsse über die Versprechen und Verwirrungen einer widersprüchlichen Moderne zu geben.
Bibliografische Angaben:
Christine Stansell.
American Moderns:
Bohemian New York and the Creation of a New Century.
Princeton, NJ: Princeton University Press, 2010.
420 Seiten, 37,50 US-Dollar.
ISBN: 978–0‑691–14283‑8.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover American Moderns | © Princeton University Press |
Fotos von Berenice Abbott aus der Serie Changing New York | © New York Public Library |
Zuerst erschienen in satt.org, März 2010
© Jörg Auberg 2010/2019