Anatomie einer Metamorphose
John Dos Passos’ Odyssee durch das 20. Jahrhundert
von Jörg Auberg
in memoriam Lutz Schulenburg
(1953–2013)
»Das Leben hat nur eine Form: das Vergessen.«
Francis Picabia 1
Wie viele Autoren prägten mich die »besten Zeiten« von John Dos Passos. Nach Ernest Hemingway und Jack Kerouac und vor William S. Burroughs war seine USA-Trilogie mein Begleiter auf langen, dunklen Eisenbahnfahrten durch die niedersächsischen Einöden (oder wie sie Hans-Jürgen Krahl bezeichnete: die »finstere Provinz«) und trotz allen Pessimismus eine Hoffnung auf bessere Zeiten (auch wenn sie letztendlich trog).
An Dos Passos’ Odyssee durch das 20. Jahrhundert (mit all den — oft blutigen — Irrungen und Wirrungen) konnte man sich abarbeiten. Seine »amerikanischen Porträts«, die von Lutz Schulenburg in der Edition Nautilus in den 1980er Jahren in der Reihe »Nautilus Moderne« publiziert wurden, waren ein Teil dieser Auseinandersetzung.
Schulenburgs Zeitschrift »Die Aktion«, zu der ich noch als Student einige Texte beitrug, sollte später auch einen Dos-Passos-Artikel von mir enthalten, doch leider starb Lutz Schulenburg plötzlich, und mit ihm verschwand vieles.
Seinem Gedenken ist dieser Text gewidmet.
Als im Juni 1916 auf den europäischen Schlachtfeldern der Erste Weltkrieg tobte, verlieh ein zwanzigjähriger Harvard-Student namens John Dos Passos seiner ausgeprägten Aversion gegen die Herrschaft der Wissenschaft und die gewalttätige Maschinerie der industriellen Zivilisation Ausdruck. »Im Licht der Flammen brennender belgischer Städte blicken zivilisierte Menschen einander mit einem merkwürdigen neuen Entsetzen an«, schrieb er in der literarischen Monatszeitschrift der Harvard-Universität. »Ist es dies, wonach Menschen die Jahrhunderte hindurch gestrebt haben? Ist diese massige Selbstmordmaschine die Zivilisation?«2 Aus Dos Passos sprach weniger ein politischer Opponent des herrschenden Systems denn ein angewiderter Ästhet, der sich vor der Brutalität einer industriellen Maschine ekelte, die das Schöne und Wahre ausmerzte und verwüstete Landschaften des Grauens zurückließ. Seine politische Radikalisierung blieb in einer von revolutionärer Gewalt gezeichneten Phantasmagorie stecken. »Ich habe beschlossen«, schrieb er an einen Freund, »dass meine einzige Hoffnung in der Revolution liegt – in umfassenden Attentaten auf alle Staatsmänner, Kapitalisten, Kriegshetzer, Hurrapatrioten, Erfinder, Wissenschaftler – in der Zerstörung der gesamten Maschinerie der industriellen Welt, gleichermaßen fruchtlos in der Zerstörung wie im Aufbau.«3 Zwar besuchte er anarchistische und pazifistische Versammlungen, rühmte sich in seinen Memoiren, ein Paria der respektablen Gesellschaft gewesen zu sein, Tag und Nacht protestiert und den »schrillen Anklagen Emma Goldmans« zugestimmt zu haben, doch hielt dies ihn nicht davon ab, freiwillig als Ambulanzfahrer am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, der für ihn – wie er später in einem Interview sagte – zu seiner Universität wurde.4
Fünfzig Jahre später hatte er Anarchisten und Pazifisten gegen die amerikanischen Ultrakonservativen um Barry Goldwater und William F. Buckley getauscht, und der einstige Bewunderer Randolph Bournes rechtfertigte den Vietnamkrieg als Verteidigung gegen die kommunistische Maschinerie, als deren Teil er auch die Neue Linke betrachtete, und befürwortete die Invasion Kambodschas 1970 als den »ersten rationalen militärischen Schritt im ganzen Krieg«. Das Misstrauen gegenüber dem technologischen Fortschritt war einem eigenartigen Optimismus gewichen, der im Apollo-Programm einen Triumph der Technik über die bösen Mächte sah, die das Manhattan Project auf den historischen Plan gerufen hatte. In der Raumfahrttechnologie erblickte Dos Passos eine Leistung, die für die »Lösung hundert verschiedener Probleme« nutzbar sei.5
Eine rätselhafte Metamorphose
Diese Metamorphose, die bereits in den frühen 1930er Jahren mit Dos Passos’ Abkehr von der kommunistischen Linken begann, hat nicht nur seine einstigen Weggefährten, sondern auch späteren Historikern Rätsel aufgegeben. Zwar behauptete Dos Passos stets, dass er sich in all seinen Wandlungen treu geblieben sei, doch ist nicht zu übersehen, dass er in seinem späteren Leben genau das verteidigte, was er zuvor vehement attackiert hatte. Allerdings ist auch nicht zu bestreiten, dass bestimmte Grundmotive unverändert sein Leben durchzogen. Schon früh entwickelte eine tief verwurzelte Idiosynkrasie gegenüber jeglicher Form der Organisation, die er als tödliche Negation des Lebens und der Individualität betrachtete: »Organisation tötet«, notierte er 1918, als er die exterminierenden Exzesse der industriellen »Überorganisation« im Ersten Weltkrieg mit eigenen Augen angesehen hatte. Mit seinem anarchistischen Impuls, in dem er Freiheit und Individualität über alles stellte, nahm er jedoch den dialektischen Charakter von Organisation nicht wahr und negierte die Notwendigkeit gesellschaftlicher Organisation. »Desorganisation nicht Organisation ist das Ziel des Lebens«, zitierte er in einer Tagebuchaufzeichnung aus dem September 1918 einen Sozialisten in der Rekapitulation einer politischen Diskussion.6
Diese Aversion gegenüber der Organisation hielt ihn schließlich auch davon ab, sich politischen Gruppen, Bewegungen oder Parteien anzuschließen. Obwohl er sich als junger Mann – zumindest in seinen Briefen und Tagebucheinträgen – zum Revolutionär stilisierte, der zwar im Angesicht der »großen stupiden Masse Amerikas« zum Kampf gegen den Moloch bereit zu sein schien, aber nie auf einen zählbaren Erfolg hoffen wollte, blieb er realiter einer politischen Revolte fern. In den frühen 1920er Jahren habe er große Sympathie für die anarchistische Bewegung jener Zeit gehegt, behauptete er 1968 in einem Interview mit der Zeitschrift Paris Review, ohne dass sich dies politisch niedergeschlagen hätte. Gleichfalls führte ihn sein Kontakt mit Kommunisten in den späten 1920er Jahren nicht in die Arme der Kommunistischen Partei. Auch als er später mit der »Neuen Rechten« paktierte, war er trotz allem kein Parteigänger der Republikaner. »Ich bin kein Konservativer«, behauptete er noch 1959, und tatsächlich schien sein »libertärer Konservatismus« wenig mit den autoritären Tendenzen der »Neuen Rechten« gemein zu haben. Zugleich hinderte ihn seine im militanten Antikommunismus des Kalten Krieges begründete ideologische Verblendung, andere Allianzen zu suchen, wie sie etwa die libertär-pazifistische Zeitschrift Liberation bot, die mit ihrem Eintreten für Dezentralisation und demokratische Partizipation zentrale Themen der Neuen Linken antizipierte. Doch da Dos Passos nach seiner Metamorphose in einem mechanistischen Reflex alles »Linke« mit dem sowjetischen »Reich des Bösen« identifizierte, blieb ihm dieser Weg versperrt.7
Von Beginn an war Dos Passos – wie der Historiker Daniel Aaron treffend bemerkte – eher ein Beobachter denn ein »geselliger Typ«. Niemals gehörte er vollkommen dazu. Er wurde zu spät geboren, um Teil der »lyrischen Linken« zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sein, und während andere Linke nach dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Hitler-Stalin-Pakt mit dem organisierten Kommunismus brachen, hatte sich Dos Passos schon in den frühen 1930er Jahren von der kommunistischen Linken abgewandt. Eine Zelle zu seinem Universum schloss Jean-Paul Sartre auf, der den Menschen bei Dos Passos als Zwitterwesen charakterisierte, das zugleich drinnen und draußen sei: »Wir sind bei ihm, in ihm, erleben mit ihm sein flackerndes individuelles Bewusstsein, bis es plötzlich versagt, schwach wird, sich im kollektiven Bewusstsein auflöst.« Das kritische Bewusstsein des Autors entzündete sich an den Auswüchsen des industriellen Kapitalismus und verlosch, als Dos Passos sich restlos der amerikanischen Gesellschaft, wie sie war, überantwortete. So war der »größte Schriftsteller unserer Zeit« (als den ihn Sartre 1938 titulierte) mit frühzeitigem Verfall gezeichnet und weste als Zerrbild seiner selbst in der amerikanischen Kulturlandschaft fort.8
Die kurze Hoffnung
Für den jungen Dos Passos war Spanien ein Fluchtpunkt in einem Zeitalter der Barbarei. Aus Furcht, sein Sohn könnte im Fall eines Kriegseintritts der USA zum Militärdienst eingezogen werden, schickte ihn sein Vater, ein angesehener Anwalt portugiesischer Herkunft, im Oktober 1916 an die Universität von Madrid, wo er sich auf seinen künftigen Beruf als Architekt vorbereiten sollte. Doch war dieses Studium für Dos Passos eher von untergeordneter Relevanz. Zuvörderst hatte für ihn die Begegnung mit der spanischen Kultur, Literatur und Lebensart eine besondere Bedeutung für seine Entwicklung. In den Augen des jungen Studenten war Spanien eine Zufluchtsstätte der Utopie eines zukünftig Besseren, ein Ort der Erinnerung an eine ungebändigte, impulsive, sich schrankenlos bewegende Freiheit, ein Chaosmal inmitten der kapitalistischen Weltordnung, die »klassische Heimat des Anarchisten«, wie Dos Passos in einem seiner Essays über Spanien schrieb, die 1922 unter dem Titel Rosinante on the Road Again in Buchform publiziert wurden. Vor allem faszinierte ihn der starke Individualismus, der sich aus den isolierten Dorfgemeinschaften, den pueblos, speiste und von keiner Revolution ausgelöscht werden konnte. Eine Invasion nach der anderen habe diese Landschaft heimgesucht, an der Oberfläche Sitten und Arten des Denkens und der Sprache verändert, doch habe sich der »unveränderliche iberische Geist« als resistent und allen Widrigkeiten zum Trotz überlebensfähig erwiesen.9
Unverfälscht und kompromisslos artikulierte sich dieser Geist in den Werken Pío Barojas, dessen »starker Realitätssinn« großen Eindruck auf Dos Passos machte. Ging er durch die rasselnden Straßen Madrids, so trug er nicht allein das obligate Wörterbuch unter dem Arm, sondern auch Barojas 1904 publizierte Trilogie La lucha por la vida (dt. Spanische Trilogie, 1948), die ihm als Stadtführer diente. Sie bot ihm die Schlüssel zu jeder Gasse und jedem Weingeschäft, berichtete Dos Passos später, zu den eisenbeschlagenen Türen, die hinaus auf halsbrecherische Treppen führten, über denen der Geruch verbrannten Olivenöls hing, zu Mietshäusern, Hinterhöfen und Trödelmärkten. Für Dos Passos war sie »der wahre Baedeker zu diesem brodelnden Labyrinth des rebellischen, lausgebissenen, hochfliegenden Lebens« von Madrid. Diese Welt, in der ein grausamer Kampf ums Überleben geführt wurde und Profitgier, Hass, Bosheit, Betrug und Heuchelei zum Tagesprogramm gehörten, beschrieb niemand besser als Baroja, der das Elend seiner Charaktere nachempfand und dem die tägliche Missachtung der einfachsten menschlichen Grundrechte unausstehlich war. Doch auch wenn aus seinen Werken der utopische Zorn des revolutionären Anarchismus sprach, konnte Baroja (wie Dos Passos später) keinen »konstruktiven« Beitrag liefern. Die einzige Rolle, die ein Mann der Mittelschicht in der Reorganisation der Gesellschaft spielen könne, sei destruktiv, hatte Dos Passos in einem Buch Barojas gelesen. Seine Aufgabe sei es, die bestehenden Institutionen auf Herz und Nieren zu prüfen und ihnen die Schleier zu entreißen. Der Autor sollte, schrieb Dos Passos später in einer Rezension von Barojas Mala hierba (dt. Das Giftkraut), ein Vorhutagent der Revolution zu sein, der ausmaß und beschrieb, was zu zerstören war. Baroja sei ein Pessimist, und nur gelegentlich, meinte Dos Passos, erlaube er sich die Hoffnung, etwas Besseres könne aus dem Aufruhr dieses Zeitalters des Übergangs entstehen. 10
Auch Dos Passos’ Optimismus hielt sich in Grenzen. Obgleich er mit den »revolutionären Klassen« sympathisierte, befürchtete, dass eine angesichts der Korruption und Unfähigkeit der Politiker, des schreienden Elends und der großen Not der Massen offenbar bevorstehende Revolution die »vielen Spanien« zu einer modernen zentralisierten Nation vereinigen, dem zentrifugalen Land eine unnatürliche Ordnung aufzwingen und den vitalen Individualismus zerstören könnte. Das Problem sei, führte er aus, ob den Spaniern die Möglichkeit bleibe, lokal, sich anarchisch und dezentral zu entwickeln und neue Lebensweisen zu erarbeiten, oder »ob sie in den schwärenden Tumult eines Europas gezogen werden, wo das sterbende System nur stark genug ist, in seinen Todeskrallen jeden neuen Schössling zu töten, in dem Hoffnung für die Zukunft wäre«11.
Als Dos Passos im August 1919 nach seinem Sanitätsdienst im Ersten Weltkrieg für knapp acht Monate nach Spanien zurückkehrte, um an seinem Roman Three Soldiers (dt. Drei Soldaten, 1921) zu schreiben, fand er Madrid als amerikanisierte Stadt mit Untergrundbahn und Wolkenkratzern wieder. Barojas Trilogie konnte er nicht länger als Stadtführer benutzen; sie hatte sich in ein Dokument der Vergangenheit und ein Kunstwerk verwandelt. Spanien hatte für Dos Passos seine historische Besonderheit verloren: Letzten Endes war es doch in den Strom des industriellen Lebens gerissen worden. Missmutig erinnerte sich Dos Passos, wie die Intellektuellen aus der Generation von 1898 während des Krieges in Amerika eine »glitzernde Fata Morgana unvergänglicher Schönheit« gesehen hatten. Sie hatten von sanitären Einrichtungen, Elektrizität, Hygiene und Gesetzen gegen die Kinderarbeit geschwärmt, gehofft, ein »strahlendes, polizeilich gut kontrolliertes, entlaustes und deodoriertes Spanien« zu erbauen, und waren voll des Lobes gewesen, was die USA nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg für Kuba, wie sie das Gelbfieber ausgemerzt und die Menschen gegen Typhus geimpft hatten. Der Kontakt mit der »großen jugendlichen Kraft« der USA sollte ein regenerativer Impuls für das alte träge Spanien sein. Nun hatten sie ihren Willen bekommen: Die Wurzeln der Vergangenheit wurden ausgerissen, und auf der asphaltierten Straße hatte die industrielle Tyrannei freie Bahn.12 Auch wenn sich die Welt in eine riesige urbane Maschine verwandelte, in der das Individuum nichts zählte und fortwährend von einer Niederlage zur nächsten stolperte, hielt Dos Passos in den kommenden Jahren an seiner romantischen, pastoralen Vision des spanischen Anarchismus fest.
Die Amerikanisierung zweier Anarchisten
Die »Roaring Twenties«, die mit der Inhaftierung von linken Dissidenten wie Eugene V. Debs oder radikalen Gewerkschaftern wie den Mitgliedern der Industrial Workers of the World (IWW; auch »Wobblies« genannt) begann, verbrachte Dos Passos wie viele seiner Schriftstellerkollegen auf Reisen in Europa, ohne sich um politische Verhältnisse in den USA zu kümmern. Die staatliche Hetzjagd auf Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten (die unter der Bezeichnung »Red Scare« in die Geschichtsbücher einging) nahm Dos Passos zunächst kaum wahr. Auch als die beiden italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti in einem aufsehenerregenden Prozess wegen der Beteiligung an einem Überfall auf eine Schuhfabrik in South Braintree in Massachusetts im April 1920 zum Tode verurteilt wurden, beteiligte er sich nicht an den Protesten, die weltweit stattfanden.
Erst als sieben Jahre später die Hinrichtung unmittelbar bevorstand, wurde er zu einem vehementen Verteidiger der beiden Anarchisten. In seiner Verteidigungsschrift Facing the Chair (die den ironischen Untertitel The Story of the Americanization of Two Foreignborn Workmen) beschrieb Dos Passos Sacco und Vanzetti als Archetypen der Immigranten, welche mit ihrem »Schweiß und Blut« die Industrien und den Reichtum der USA aufgebaut hätte, ohne dass sie dafür einen gerechten Gegenwert erhalten hätten.13 Aus seiner spanischen Erfahrung betrachtete er das von staatlichen Behörden und Medien heraufbeschworene Schreckgespenst der Anarchie nicht als reale Gefahr, sondern als ideologisches Konstrukt, wobei die dunkle Gestalt des anarchistischen Bombenwerfers aus dem späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert in den Jahren nach der Oktoberrevolution mit der Figur des »hinterlistigen, stinkenden kommunistischen Juden« verschmolz, die Wohlstand und Anständigkeit durch von Moskau gelenkte Geheimorganisationen unterminierte.14 Viele italienischen Immigranten projizierten auf »Amerika« ihr Ideal einer perfekten Stadt und sozialen Ordnung, schrieb Dos Passos, doch diese Utopie scheiterte an den grimmigen kapitalistischen Realitäten, die ihre Hoffnungen auf eine menschenwürdige Existenz zunichte machten: Unter den Augen der Polizei und Justiz verkamen die Immigranten aus Europa zu einem gewalttätigen extremistischen Mob von Terroristen, der ausgelöscht werden musste, um die Existenz des herrschenden Systems nicht zu gefährden.15
Das Engagement für Sacco und Vanzetti markierte für Dos Passos die Ankunft bei der radikalen Linken, die zur kritischen Antriebskraft für seine große Trilogie U.S.A. (1930–36) werden sollte. Die beiden italienischen Anarchisten wurden zu Ikonen des »Klassenkrieges«: Selbst die kommunistischen Organisationen in den USA als auch in Europa warfen sich für die beiden Eingekerkerten in die Bresche, während in der Sowjetunion Anarchisten zum großen Pulk der politischen Gefangenen und »Aussätzigen« gehörten und sie in den tagespolitischen und ideologischen Auseinandereinsetzungen zu den »Todfeinden«, deren Einfluss ausgemerzt werden sollte.16 Angesichts seiner Sympathie für den Anarchismus und seiner libertären, anti-etatistischen Grundeinstellung bleibt seine Hinwendung zur kommunistischen Linken nach 1926 rätselhaft, denn bereits in diesen Jahren war der autoritäre Charakter des kommunistischen »Projekts« evident.17
Der Grund mochte einerseits in der Ermangelung einer linken Alternative liegen (Sozialisten wie Anarchisten hatten in den 1920er Jahren kaum Einflussmöglichkeiten); andererseits boten ihm Medien wie die von Mike Gold redigierte Kulturzeitschrift New Masses (in der auch befreundete Intellektuelle wie Edmund Wilson und John Howard Lawson publizierten) die Möglichkeit, seiner radikalen Perspektive Ausdruck zu verschaffen und aus der Isolation des vereinzelten Schriftstellers auszubrechen. Das Verhältnis zu anderen Linksintellektuellen in den USA war nie einträchtig (Gold bezeichnete Dos Passos verächtlich als »bürgerlichen Intellektuellen«, und Dos Passos beharrte in einer Replik auf seinem »kritischen Skeptizismus« gegenüber dem »fundamentalistischen« Kurs der Kommunisten).18 Dennoch beteiligte er sich an Kampagnen wie den Textilarbeiterstreik in Passaic in New Jersey (1926) oder den Bergarbeiterstreik in Harlan County in Kentucky (1931), die unter Federführung der Kommunistischen Partei geführt wurden.
Den Bruch mit den Kommunisten vollzog Dos Passos 1934, als im Februar jenes Jahres eine Protestveranstaltung der Sozialistischen Partei im New Yorker Madison Square Garden gegen den faschistischen Putsch in Österreich von 5000 Kommunisten, die Stalins »Sozialfaschismusthese« verinnerlicht hatten, angegriffen und tumultuös aufgelöst wurde. In einem offenen Brief verurteilten Intellektuelle wie Dos Passos und Edmund Wilson das Vorgehen der Partei, das deren Niedergang im intellektuellen Milieu einläutete.19 Es war der Anfang vom Ende. »Hier war das Ende einer geschichtlichen Periode«, resümierte später Herbert Marcuse das Desaster der 1930er Jahre, »und der Schrecken der kommenden kündigte sich an in der Gleichzeitigkeit des Bürgerkriegs in Spanien und der Prozesse in Moskau.«20
Der Niedergang der alten Republik
In die Jahre zwischen dem Zusammenbruch des US-amerikanischen Kredit- und Aktienmarktes 1929 und dem stetigen Triumph autoritärer und totalitärer Systeme in den 1930er Jahren fiel Dos Passos‘ produktivste Phase, die den Beginn seiner großen historischen Panoramen einläutete, wobei schließlich der kreative Autor hinter dem Historiker und Ideologen verschwand. Die USA-Trilogie – bestehend aus den Romanen The 42nd Parallel (1930; dt. Der 42. Breitengrad), 1919 (1932; dt. Neunzehnhundertneunzehn) und The Big Money (1936; dt. Die Hochfinanz) – beschreibt die Entwicklungen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus den Perspektiven mehrerer Protagonisten (des proletarischen Wanderarbeiters Mac, der kleinbürgerlichen Sekretärin Janey Williams und ihres unsteten Bruders Joe, des PR-Unternehmers J. Ward Moorehouse und seines Kompagnons Richard Ellsworth Savage, der Architektin Eleanor Stoddard und ihrer Freundin Eveline Hutchins, des Flugzeugtechnikers und Unternehmers Charley Anderson, des jüdischen Kommunisten Ben Compton, des Starlets Margo Dowling und der linken Intellektuellen Mary French, deren politische und private Ambitionen an den realen Herrschaftsverhältnissen scheitern. Am Ende der Trilogie trampt ein junger Mann namens Vag durch den Kontinent, während die Wohlhabenden in Flugzeugen über ihm ihre Kreise ziehen und die Geschicke des Landes bestimmen.
Kontrastiert werden diese konventionell-realistischen Erzählpassagen mit »Newsreels«, in denen im Stile der Kino-Wochenschauen Schlagzeilen, populäre Liedzeilen und Zitaten aus verschiedenen Kontexten montiert sind, und subjektiven, als »Camera Eye« betitelten Erzählerkommentaren, die den Verlauf der historischen Ereignisse aus einer dezidiert persönlichen Perspektive beschreiben. Darüber hinaus werden in das große Konvolut kurze prägnante Biografien von sozialistischen Kämpfern wie Eugene Debs, William D. Haywood, Joe Hill, oder Wesley Everest, Kapitalisten wie Andrew Carnegie, Thomas Edison, J. P. Morgan, Frederick Winslow Taylor, Henry Ford und William Randolph Hearst, Politikern wie Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson, kritischen Intellektuellen wie Randolph Bourne und Thorstein Veblen, Künstlern wie Isadora Duncan und Rudolph Valentino.
Zwar gehört Dos Passos‘ USA-Trilogie noch immer (neben The Scarlet Letter, Moby-Dick, The Great Gatsby, Gravity’s Rainbow und vielen Faulkner-Romanen) in den Vorschlagskatalog für den »großen amerikanischen Roman«21, doch hat er inzwischen Patina angesetzt. Wie Michael Denning zu Recht konstatierte, verlor sich Dos Passos‘ einstige moderne Avanciertheit im »Museum der Moderne«: Während Dos Passos‘ Reputation schwand, wuchs die Bedeutung William Faulkners in der modernen Literatur nach 1945 (trotz seiner fragwürdigen Verwurzelung in den rassistischen Strukturen des amerikanischen Südens).22 Nichtsdestotrotz ist die Trilogie in ihrer genauen Beschreibung der US-amerikanischen Verhältnisse, der Zerrissenheit und permanenten Gewalt durch Staatsorgane und hysterisierte Kleinbürgerbanden, der vorherrschenden Ungleichheit und Ungerechtigkeit von beklemmender Aktualität. Dos Passos beschwört die »alten Worte der Immigranten« – Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit – wie aus einer paradiesischen Vergangenheit, die in der Gegenwart von den »Mächtigen« – den Industriekapitänen, den Politikern und den Medienmanipulateuren – korrumpiert wurden. »America our nation has been beaten by strangers«, heißt es im vorletzten »Kamera-Auge«, »who have turned our language inside out who have taken the clean words our fathers spoke and made them slimy and foul«.23
In dieser vielzitierten Passage offenbart sich nicht allein Dos Passos‘ politische Vorstellung einer »amerikanisch« begründeten Freiheit, die vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wie in einer edenhaften Vergangenheit in der alltäglichen Praxis existiert hätte. Auch wenn Dos Passos die »linke Linie« nach 1934 verließ, blieb U.S.A. (wie Michael Denning schrieb) der »Ur-Text der Volksfront«: Noch 1937 wählte der zweite Kongress der amerikanischen Autoren The Big Money zum besten Roman des Jahres, vermutlich weil er – gemäß der kommunistischen Parteilinie – mit einem »Amerikanismus« linker Prägung konform ging.24 Dass das US-amerikanische Staatswesen seit dem 18. Jahrhundert auf Unrecht, Ausbeutung und Extermination gegründet war, wurde in Dos Passos‘ Trilogie ausgespart: Indianische Amerikaner, Afroamerikaner oder Lateinamerikaner kommen bei ihm als Protagonisten nicht vor. Kleine und große Betrüger wie Doc Bingham oder J. Ward Moorehouse streifen durch die Landschaften, während apokalyptische Pandemien wie die »Spanische Grippe« in den Jahren 1918–19 oder die ökologischen Folgen der Stadt- und Industrieentwicklung bei Dos Passos keine Rolle spielen (seine Helden sind Architekten und Industrielle wie Frank Lloyd Wright und Charley Anderson). In einem mysteriösen verschwörungstheoretischen Szenario wird die historische Schuld »Fremden« angelastet, die wie ein bösartiges Virus über die reinen amerikanischen Landschaften hergefallen seien. »Freiheit« degeneriert dabei zu einem Konstrukt individueller Autonomie »libertärer« Konservativer, die gegen die Einflussnahme des Staates opponieren und sich vor einer vulgären Massengesellschaft ekeln.25
Seine Trilogie stellt nicht allein eine Kritik der US-amerikanischen Politik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dar, die in der Kontrastierung der politischen und ökonomischen Kräfte (in Person von Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson, Andrew Carnegie, Thomas Edison, J. P. Morgan, Frederick Winslow Taylor, Henry Ford und William Randolph Hearst) mit der radikalen Opposition (repräsentiert von Eugene Debs, William D. Haywood, Joe Hill oder Emma Goldman) sich manifestiert, sondern auch eine Attacke auf das »verdinglichte Bewusstsein« der US-amerikanischen Kulturindustrie, wie sie in der Beschreibung Hollywoods als des »großes Schwachsinnszentrum der Welt« zum Ausdruck kam. 26 Für die Porträtierung der Schauspielerin Margo Dowling und des Regisseurs Sam Margolies nahm sich Dos Passos das Paar Marlene Dietrich und Josef von Sternberg als Vorbild, wobei er auf die »naturalistische« Verkommenheit der Existenz im US-amerikanischen Kapitalismus auf die »klassische« Konstellation von »Hure« und »Zuhälter« rekurriert (wie sie bereits Theodore Dreiser im Paar Carrie und Hurstwood in seinem Roman Sister Carrie präsentierte).
Die Kritik der »Kulturindustrie« wie des politischen und ökonomischen Personals des Staatsapparats beschränkt sich bei Dos Passos auf die persönlichen Unzulänglichkeiten der Protagonisten, während der historische Prozesscharakter außen vor bleibt. Dos Passos‘ Geschichtstheorie bleibt nicht nur in der USA-Trilogie, sondern in seinem gesamten Romanwerk statisch: Während die Agenten der ökonomischen Ausbeutung durchgängig die erfolgreichen historischen Akteure sind, scheitern die radikalen Opponenten wie Mac, Mary French oder Ben Compton an subjektiven und strukturellen Komponenten der Geschichte.27 Wie Lionel Trilling in einer frühen Rezension der Trilogie anmerkte, war Dos Passos weniger ein Gesellschaftshistoriker (als der er häufig bezeichnet wurde) denn ein romantischer Moralist, dessen Figuren vom Beginn der Geschichte an auf der Route des Scheiterns unterwegs waren: Nicht was sie unternahmen, sondern wie sie es unternahmen, war für Dos Passos entscheidend.28 Seine Geschichtspanoramen (von der USA-Trilogie über District of Columbia [1952] bis zu Midcentury [1961]) stellen eine »Litanei des Scheiterns«29 dar (um einen treffenden Ausdruck Stanley Corkins zu bemühen): Im Stile der Verzweiflung beschwor Dos Passos immer aufs Neue das individualistische Paradies der Wobblies vor dem Einbruch des Industrialismus und der Kulturindustrie, des Taylorismus und des Fordismus, wiederholte mit jedem Buch die immergleiche Litanei gegen die industrielle Entwicklung der USA und die Etablierung der ideologischen Bürokratien der Parteien, Gewerkschaften und Unternehmen, die keine »libertäre« Entfaltung des freien Kapitals zuließen.
Epitaph der amerikanischen Moderne
In den Augen Richard H. Pells‘ lehnte Dos Passos in seiner Elegie des Verfalls, die mit dem Aufstieg der USA zur kapitalistischen Weltmacht einherging, Kapitalisten und Sozialisten gleichermaßen ab, weil sie ähnliche Vorstellungen eines repressiven Kollektivismus vertraten, den Dos Passos als Signum der Verderbtheit und des Verrats des 20. Jahrhunderts ansah.30 Die Trilogie bot keine Perspektive für die Gegenwart noch Hoffnung für die Zukunft, sondern war eine Totenehrung von Dos Passos‘ Kindheit zu Beginn des Jahrhunderts.31 Auch in ihrer scheinbaren modernistischen Ausrichtung wies sie keinen Weg nach vorn: In seinem Rekurrieren auf die Tradition des pikaresken Romans, in dem der »Trickster« Doc Bingham aus den ersten Jahren des Jahrhunderts als Kapitalist in den 1920er Jahren wieder auftaucht, stumpft die Kritik der kapitalistischen Entwicklung ab und verharmlost den Aufstieg autoritärer und faschistischer Kräfte jener Zeit.32 Obwohl die Trilogie nach Ansicht Lionel Trillings als »der wichtige amerikanische Roman der Dekade« herausragte und »befriedigender als alles andere« sei, was die amerikanische Literatur hervorgebracht habe, markierte das Werk nicht einen Aufbruch zu neuen Ufern, sondern stellte einen »Epitaph für ein Amerika«, das nicht länger existiert, wie Michael Denning bemerkte. Anders als Moby-Dick oder The Great Gatsby wirft U.S.A. keinen Funken oder Aufblitzen der Zukunft; stattdessen ist nur das ablaufende Ticken der Todesuhr für Sacco und Vanzetti zu hören.33
Dos Passos begriff die Rolle des Autor als die eines Technikers, der seine Fertigkeiten der Sprache und des historischen Bewusstseins in der Verteidigung der Freiheit gegen die Übergriffe von Gesellschaft und Bürokratie einsetzen sollte, und vor allem in dieser technischen Funktion übte Dos Passos eine nachhaltige Wirkung auf Autoren späterer Generationen wie Eyvind Johnson, Günter Grass oder E. L. Doctorow aus, doch sein mangelndes Bewusstsein für die ökologischen und psychologischen Kosten der Eroberung der Verhältnisse in den USA durch eine weiße, prädominant männlich bestimmte Klasse lässt vieles in seinen groß angelegten historischen Chroniken obsolet, wenn nicht reaktionär erscheinen.34 Am Ende seines Lebens, als er gegen die »sinistren Heranwachsenden« wie James Dean oder die Neue Linke wetterte, allenthalben linke Verschwörungen am Werke sah und in rechten Zeitschriften wie der National Review Propaganda für das Regime »alter weißer Männer« wie Barry Goldwater, Richard Nixon und Ronald Reagan betrieb, definierte er das Altwerden als einen Prozess des Verwelkens der Illusionen.35 Aber vermutlich hätte es der Begriff der Demenz besser getroffen.
Momentan findet Dos Passos in seinem deutschen Verlag Rowohlt neue Aufmerksamkeit: Nachdem sein klassischer Stadtroman Manhattan Transfer 2016 in einer Neuübersetzung von Dirk van Gunsteren erschien, liegt nun auch die USA-Trilogie in einer neuen Fassung der beiden renommierten Übersetzer Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren vor. In einer ausführlichen Rezension im Deutschlandfunk resümierte der Autor Eberhard Falcke: »Die neue Übersetzung der USA-Trilogie bietet ausgezeichnete Voraussetzungen zur Auseinandersetzung mit diesem im Übrigen auch spannend-unterhaltsamen Roman, der zu den literarischen Gründungsdokumenten der amerikanischen Moderne gehört. Und wer wissen will, wie die USA zu dem wurden, was sie heute sind, liest dieses Werk ebenfalls mit größtem Gewinn.«36
Dabei unterschlägt Falcke jedoch, dass Dos Passos‘ Trilogie keineswegs am Beginn der US-amerikanischen Moderne stand noch dass sie»eine literarische Selbstentdeckung der USA« war.37 Auch von einem Feuilletonisten wäre eine Literaturkritik zu erwarten, die nicht allein der Verlagspublicity zuarbeitet, um ein Verlagsprodukt kapitalträchtig zu vermarkten. »Die ›USA-Trilogie‹ ist so ziemlich alles, was ein Roman sein kann«, behauptet Falcke. Es sei »Gesellschafts- und Zeitroman, ein Pionierstück literarischer Innovationen, zugleich aber auch eine breit angelegte kritische Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen, Versprechungen und Wirklichkeiten der machtvoll aufstrebenden Nation, auf die Generationen von Einwanderern ihre Hoffnungen setzten.«38, Dass in Dos Passos »breit« angelegter kritischer Auseinandersetzung Ureinwohner, Afroamerikaner oder Einwanderer aus Lateinamerika nicht vorkommen, verschweigt Falcke geflissentlich, da solche Einwände vermutlich den angedachten ROI in Frage zögen. Der Rezensent beschwört ein historisches USA-Terrain, »als es dort noch Proletarier, Gewerkschafter und Marxisten gab«, ohne dass er realiter eine Beziehung zu heutigen Verhältnissen herstellen möchte.
Im Gegensatz zu der »alten« Übersetzung Paul Baudischs wird die »Zeitgemäßheit« der neuen Übersetzung hervorgehoben. Doch worin besteht die »Zeitgemäßheit« der neuen Übersetzung? In der alten Übersetzung wurde »dementia« mit dem veralteten Begriff »Dementia Praecox« wiedergegeben, während in der neuen Übertragung der heute übliche Terminus »Demenz« verwendet wird.39 Dagegen findet auch die Stingl-/van Gunsteren-Übertragung keinen adäquaten Ausdruck für den Titel des »Schurkenporträts« Woodrow Wilsons, der im Original als »Meester Veelson« bezeichnet wird: Baudisch beschränkte sich auf »Mister Wilson«, während sich Stingl und van Gunsteren für »Miister Wiilson« entscheiden, doch auch diese Bezeichnung gibt nicht in Gänze die Verachtung wieder, die Dos Passos für diesen Verräter der »alten Worte« empfand.40 Mit dem Versprechen einer »neuen Freiheit« aufgebrochen, stürzte er als Präsident die Nation in die Gemetzel des Ersten Weltkrieges und hatte die Einkerkerung von Oppositionellen, Gewerkschafter, Journalisten und Intellektuellen sowie die gravierende Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten zu verantworten.41 Im Gegensatz zur alten Ausgabe fügten die Übersetzer dem Kompendium knapp fünfzig Seiten Anmerkungen hinzu, die kurze Erläuterungen zu den historischen Personen oder Übersetzungen fremdsprachiger Redewendungen liefern. Die Chronologien über den Autor und der im Text zitierten Ereignisse, die in der von Daniel Aaron und Townsend Luddington edierten Ausgabe in der Library of America (die der Übersetzung als Grundlage diente) fehlen allerdings. Zudem erscheint die Umbenennung der »Camera Eye«-Passagen von »Kamera-Auge« in »Das Auge der Kamera« überaus fragwürdig, denn damit wird der Einfluss des sowjetischen Montagefilms eliminiert: Das »Kamera-Auge« (in den 1920ern auch als »Kinoki« bezeichnet) montierte aus den aufgezeichneten Sinneseindrücken der Außenwelt eine eigene Wahrnehmung der Realität (wie sie beispielsweise in den Kurzfilmen, Reportagen und »Wochenschauen« des Filmemacher Dziga Vertov zum Ausdruck kam).42
Obwohl Dos Passos auch in seinen späten Jahren den Einfluss des sowjetischen Montagefilms auf sein literarisches Werk einräumte und trotz seiner harschen Kritik der Studentenbewegung bei jungen Radikalen den Status eines literarischen Heroen einnahm43, blieb immer eine eingebrannte Abneigung gegen den Industrialismus das Wahrzeichen seines Werkes. Wie Thorstein Veblen (den er gegen die mächtigen und übermächtigen Kräfte des US-amerikanischen Kapitalismus als intellektuelle Persönlichkeit ins Spiel brachte) wollte er den »Schutt der Kultur« forträumen, das Urgestein bloßlegen, wie Theodor W. Adorno in den Prismen schrieb, um selbst der Verblendung zu verfallen.44
Wie John Patrick Diggins schrieb, blieb die USA-Trilogie in Ermangelung einer kohärenten Gesellschafts- und Geschichtsanalyse das Bekenntnis einer radikalen Agonie, hinter der sich ein konservatives Verständnis verbarg.45 Daher ist es nicht verwunderlich, dass zu Dos Passos‘ fünfzigstem Todestag die konservative National Review seinen Nachruf von 1970 noch einmal nachdruckt und ihn als amerikanisches Musketier der »Gang of Four« (neben Sinclair Lewis, Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway) feiert, während William Faulkner oder spätere Autoren wie William Gass, Thomas Pynchon oder John Barth in dieser Wahrnehmung nicht vorkommen (von nicht-weißen oder weiblichen Autorinnen ganz zu schweigen).46 Der Satz »wir sind besiegt Amerika«47 hat eine reale Berechtigung, doch muss die Niederlage nicht endgültig sein. Le combat continue.
© Jörg Auberg 2020
Bibliografische Angaben:
John Dos Passos.
USA-Trilogie:
Der 42. Breitengrad / 1919 / Das große Geld.
Übersetzt von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren.
Hamburg: Rowohlt, 2020.
1648 Seiten, 50 Euro.
ISBN: 978–3‑498–09560‑4.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Die Aktion | © Edition Nautilus |
Foto John Dos Passos in den 1960er Jahren | © George Cserna/Andre Deutsch |
Cover Liberation | © Bill Davis |
Cover Travel Books and Other Writings |
© Library of America |
Porträt Pío Baroja (Kohlezeichnung von Ramón Casas) | © Wikimedia (Public domain) |
Postkarte Sacco & Vanzetti | © Wikimedia |
Cover Facing the Chair |
Archiv des Autors |
Foto John Dos Passos als Demonstrant für Sacco & Vanzetti | Archiv des Autors |
Trailer Sacco e Vanzetti | YouTube-Video |
Plakat John Dos Passos Conference | © University of Tennessee |
Cover U.S.A. (Library of America) | © Library of America |
Cover Amerikanische Porträts |
© Edition Nautilus |
Foto USA-Trilogie (Rowohlt, 1979) | © Jörg Auberg |
Foto John Dos Passos (ca. 1955) | © Mondadori Portfolio/Library of America |
Cover USA-Trilogie (Rowohlt, 2020) |
© Rowohlt Verlag |
Trailer The Man With the Movie Camera (Dziga Vertov, 1929) | BBC Four/YouTube-Video |
Cover der Erstausgabe von U.S.A. (Modern Library) | © Wikimedia (Public domain) |
Nachweise
- Francis Picabia, Aphorismen, übers. Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt (Hamburg: Nautilus/Nemo Press, 1988), S. 17 ↩
- John Dos Passos, »A Humble Protest« (Juni 1916), in: John Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, hg. Donald Pizer (Detroit: Wayne State University Press, 1988), S. 34 ↩
- Dos Passos, zitiert in: Daniel Aaron, Writers on the Left: Episodes in American Literary Communism (1961; rpt. New York: Columbia University Press, 1992), S. 346 ↩
- Dos Passos, The Best Times: An Informal Memoir (London: Andre Deutsch, 1968), S. 45–46; David Sanders, »The Art of Fiction No. 44: John Dos Passos«, Paris Review, Nr. 46 (1969), rpt. in: The Major Nonfictional Prose, S. 242. Bezeichnenderweise deklariert Dos Passos in seinen Memoiren die Jahre von 1896 bis 1937 als die »besten Zeiten«. Offenbar kam danach nur noch die »Nachgeschichte«. ↩
- Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 263–267, 300; Dos Passos, The Fourteenth Chronicle: Letters and Diaries of John Dos Passos, hg. Townsend Luddington (Boston: Gambit, 1973), S. 640; Dos Passos, Century’s Ebb: The Thirteenth Chronicle (Boston: Gambit, 1975), S. 467 ↩
- Dos Passos, The Fourteenth Chronicle, S. 213, 210; Townsend Luddington, John Dos Passos: A Twentieth-Century Odyssey (New York: Carroll & Graf, 1980), S. 253 ↩
- Dos Passos, The Fourteenth Chronicle, S. 180; Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 289; John P. Diggins, Up From Communism: Conservative Odysseys in American Intellectual Development (New York: Columbia University Press, 1994), S. 350, 357; Robert C. Rosen, John Dos Passos: Politics and the Writer (Lincoln: University of Nebraska Press, 1981), S. 134. Zur Geschichte von Liberation siehe Andrew E. Hunt, David Dellinger: The Life and Times of a Nonviolent Revolutionary (New York: New York University Press, 2006), S. 112–116 ↩
- Aaron, Writers on the Left, S. 345; Jean-Paul Sartre, »À propos de John Dos Passos et 1919«, in: Situations I, hg. Arlette-Elkaïm-Sartre (Paris: Gallimard, 2010), S. 31. Der Ausdruck »lyrische Linke« stammt von John P. Diggins, The Rise and Fall of the American Left (New York: W. W. Norton, 1992), S. 93–143. ↩
- Dos Passos, »Rosinante to the Road Again«, in: Dos Passos, Travel Books and Other Writings 1916–1941, hg. Townsend Luddington (New York: Library of America, 2003), S. 44, 24–26; Jörg Auberg, »Das Ende der Straße: John Dos Passos und die spanische Utopie«, Tranvia, Nr. 23 (Dezember 1991), S. 5–7. Die folgenden Passagen beruhen im Wesentlichen auf diesem Text. ↩
- Dos Passos, »Rosinante to the Road Again«, S. 39–48; Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 69–70, 73–74 ↩
- Dos Passos, »Rosinante to the Road Again«, S. 30 ↩
- Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 54–55, 73 ↩
- John Dos Passos, Facing the Chair: The Story of the Americanization of Two Foreignborn Workmen (1927; rpt. New York: DaCapo Press, 1970), S. 45. Zum anarchistischen Hintergrund des Sacco-Vanzetti-Falles siehe Paul Avrich, Sacco and Vanzetti: The Anarchist Background (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1991), und Antonio Senta, Luigi Galleani: The Most Dangerous Anarchist in America, übers. Andrea Asali und Sean Sayers (Chico: AK Press, 2019), S. 98–189 ↩
- Dos Passos, Facing the Chair, S. 56 ↩
- Dos Passos, Facing the Chair, S. 57 ↩
- Siehe beispielsweise Paul Avrich, The Russian Anarchists (1967; rpt. Oakland, CA: AK Press, 2005), S. 204–254; Victor Serge, Memoirs of a Revolutionary, übers. Peter Sedgwick (New York: New York Review Books, 2012), S. 184–449; Alice Wexler, Emma Goldman in Exile: From the Russian Revolution to the Spanish Civil War (Boston: Beacon Press, 1989). Zu den »Paradoxien des amerikanischen Kommunismus« siehe Michael Kazin, American Dreamers: How the Left Changed a Nation (New York: Knopf, 2011), S. 155–208. Zur individuellen Erfahrung der »Dos-Passos-Immigranten« siehe Vivian Gornick, The Romance of American Communism (1977; rpt. London: Verso, 2020), S. 59–66 ↩
- Möglicherweise folgte Dos Passos in einem »Herdeninstinkt« seinen intellektuellen Freunden, die im »kommunistischen Projekt« auch ein Medium im praktischen Vorwärtskommen in den »medienpolitischen« Apparaten (Presse, Verlage oder Filmgesellschaften) sahen. Die »Herde unabhängiger Geister« (die Harold Rosenberg eher beschwor denn analysierte) ließ sich in einer Stampede mal in die eine, mal in die andere Richtung lenken. Siehe Harold Rosenberg, The Tradition of the New (1960; rpt. New York: DaCapo Press, 1994), S. 209–285 ↩
- Melvin Landsberg, Dos Passos‘ Path to U.S.A.: A Political Biography, 1912–1936 (Boulder, CO: Colorado Associated University Press, 1972), S. 125–126; Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 81–82 ↩
- Fraser M. Ottanelli, The Communist Party of the United States: From the Depression to World War II (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1991), S. 56–57. Zum Verhältnis von Intellektuellen und der Kommunistischen Partei siehe auch Irving Howe und Lewis Coser, The American Communist Party: A Critical History (New York: Praeger, 1962), S. 273–318 ↩
- Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft I (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1965), S. 11 ↩
- Lawrence Buell, The Dream of the Great American Novel (Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 2014), S. 389–422 ↩
- Michael Denning, The Cultural Front: The Laboring of American Culture in the Twentieth Century (London: Verso, 1997), S. 167; James Baldwin, »Faulkner and Desegregation«, in: Baldwin, Collected Essays, hg. Toni Morrison (New York: Library of America, 1998), S. 209–214 ↩
- John Dos Passos, U.S.A. (New York: Library of America, 1996), S. 1157 ↩
- Denning, The Cultural Front, S. 166; Donald Pizer, Dos Passos‘ U.S.A.: A Critical Study (Charlottesville: University Press of Virginia , 1988), S. 37–38. In der Volksfront-Periode bezeichnete der KP-Generalsekretär Earl Browder den Kommunismus als den »Amerikanismus des 20. Jahrhunderts«: siehe Irving Howe und Lewis Coser, The American Communist Party: A Critical History, S. 339–340 ↩
- Mike Davis, The Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu (New York: The New Press, 2005), S.24 ↩
- Stanley Corkin, »John Dos Passos and the American Left: Recovering the Dialectic of History«, Criticism, 34:4 (Herbst 1992):593. Corkin sieht Dos Passos in der Tradition des hegelianischen Marxismus, wie sie von dem jungen Georg Lukács und Theodor W. Adorno vertreten wurde (ebd., S. 591). Die Bezeichnung Hollywoods als »the world’s great bullshit center« stammt aus: Virginia Spencer Carr, Dos Passos: A Life (1984; rpt. Evanston, IL: Northwestern University Press, 2004), S. 329 ↩
- Chip Rhodes, Structures of the Jazz Age: Mass Culture, Progressive Education, and Racial Disclosures in American Modernism (London: Verso, 1998), S. 75 ↩
- Lionel Trilling, »The America of John Dos Passos« (1938), in: Trilling, The Moral Obligation to Be Intelligent: Selected Essays, hg. Leon Wieselier (Evanston, IL: Northwestern University Press, 2000), S. 7 ↩
- Corkin, »John Dos Passos and the American Left«, S. 599 ↩
- In den 1930er und 1940er Jahren entbrannte bei der Diskussion um Faschismus und Stalinismus auch ein Streit um das Konstrukt des »bürokratischen Kollektivismus«, der vor allem in trotzkistischen Zirkeln, aber auch im Kreise der New Yorker Intellektuellen geführt wurde. Siehe beispielsweise die Rezension Josef Soudeks, der die einschlägigen Werke von Bruno Rizzi und James Burnham unter die Lupe nahm (Studies in Philosophy and Social Science, 9:2, 1941, S. 336–340). Zur Bedeutung dieser These für die »Deradikalisierung« vieler ehemaliger »Linkssektierer« im trotzkistischen Milieu siehe Maurice Isserman, If I Had a Hammer …: The Death of the Old Left and the Birth of the New Left (New York: Basic Books, 1987), S. 35–75 ↩
- Richard H. Pells, Radical Visions and American Dreams: Culture and Social Thought in the Depression Years (1973; rpt. Urbana, IL: University of Illinois Press, 1998), S. 235–237 ↩
- Siehe Michael Joseph Roberto, The Coming of the American Behemoth: The Origins of Fascism in the United States, 1920–1940 (New York: Monthly Review Press, 2018) ↩
- Trilling, »The America of John Dos Passos«, S. 3; Denning, The Cultural Front, S. 199 ↩
- Dos Passos, »The Writer as Technician« (1935), in: The Major Nonfictional Prose, S. 169–172; Buell, The Dream of the Great American Novel, S. 428 ↩
- Dos Passos, Midcentury: A Contemporary Chronicle (Boston: Houghton Mifflin, 1961), S. 479; Robert C. Rosen, John Dos Passos: Politics and the Writer, S. 143; Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, 272 ↩
- Eberhard Falcke, »John Dos Passos‘ bahnbrechende USA-Trilogie neu übersetzt«, Deutschlandfunk, 27. September 2020, https://www.deutschlandfunk.de/romanzyklus-aus-den-1920ern-john-dos-passos-bahnbrechende.700.de.html?dram:article_id=483775 ↩
- Zur »amerikanischen Moderne«, die Anfang des 20. Jahrhunderts begann, siehe Alan Antliff, Anarchist Modernism: Art, Politics, and the First American Avant-Garde (Chicago: University of Chicago Press, 2001), und Richard H. Pells, Modernist America: Art, Music, Movies, and the Globalization of American Culture (New Haven: Yale University Press, 2011) ↩
- Eberhard Falcke, »John Dos Passos‘ bahnbrechende USA-Trilogie neu übersetzt«, Deutschlandfunk, 27. September 2020 ↩
- Dos Passos, U.S.A. (Library of America), S. 937; Dos Passos, USA-Trilogie 3: Die Hochfinanz, übers. Paul Baudisch (Reinbek: Rowohlt, 1979), S. 219; Dos Passos, USA-Trilogie, übers. Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren (Hamburg: Rowohlt, 2020), S. 1205 ↩
- Dos Passos, U.S.A. (Library of America), S. 564; Dos Passos, USA-Trilogie 2: Neunzehnhundertneunzehn, übers. Paul Baudisch (Reinbek: Rowohlt, 1979), S. 280; Dos Passos, USA-Trilogie, übers. Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren, S. 720 ↩
- David L. Vanderwerken, »U. S. A.: Dos Passos and the ›Old Words‹«, Twentieth Century Literature, 23:2 (Mai 1977): 205–206 ↩
- Siehe Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov, hg. Annette Michelson, übers. Kevin O’Brien (Berkeley: University of California Press, 1984); Justin Edwards, »The Man with a Camera Eye: Cinematic Form and Hollywood Malediction in John Dos Passos’s The Big Money«, Literature/Film Quarterly, 27:4 (1999):245–254. Mit seiner »kinematografischen Montagetechnik« übte Dos Passos offenbar auch eine Rückwirkung auf die sowjetische Filmarbeit in den frühen 1930er Jahren aus: cf. Jay Leyda: Kino: A History of the Russian and Soviet Film (London: Allen & Unwin, 1960), S. 288 ↩
- Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S.247. Symptomatisch ist hierfür ein Interview von Studenten im Oktober 1968, zu denen auch Ken Kobland gehörte, der später u. a. den Film The Communists Are Comfortable machte. Siehe Dos Passos, The Major Nonfictional Prose, S. 276–292 und die Homepage von Ken Kobland: http://www.kenkoblandfilms.com/projects/communists.html ↩
- Dos Passos, U.S.A. (Library of America), S. 845–855; Dos Passos, USA-Trilogie, übers. Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren, S. 1084–1097; Theodor W. Adorno, Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 80 ↩
- John P. Diggins, Up From Communism, S. 115 ↩
- John Chamberlain, »Dos Passos: Last of the Big Four«, National Review, 28. September 2020 (zuerst erschienen: 20. Oktober 1970), https://www.nationalreview.com/2020/09/dos-passos-last-of-the-big-four/ ↩
- Dos Passos, USA-Trilogie, übers. Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren, S. 1490 ↩