Endstation Realismus
Richard Fords Pentalogie über die Mittelschichtsdämmerung
von Jörg Auberg
In seinem drei Jahre vor seinem selbstgewählten Tod erschienen Essay Was wird Literatur? im Jahre 2001 hielt der Literaturkritiker Lothar Baier der zeitgenössischen Literatur einen »quietistischen Biedersinn« vor. »Kritik im Sinn fundamentaler, von analytischem Verstand erhellter Unzufriedenheit mit dem Lauf der Dinge« sei die Sache der zeitgenössischen Schriftsteller*innen offensichtlich nicht. In erster Linie war dieses Urteil auf den deutschen Literaturbetrieb gemünzt, in dem Realismus als Synonym für die Indienstnahme konventionell realistischer Erzählformen fungierte. Im Zuge der Akademisierung der Kultur, wie sie Russell Jacoby Ende der 1980er Jahre in seinem Buch The Last Intellectuals (1989) kritisierte, zogen sich Autor*innen auf die »Campus-Industrie« der US-amerikanischen Universitäten zurück und betätigten sich als Professor*innen des Creative Writing. »Einige der auch in Europa bekannten US-amerikanischen Schriftsteller wie Joyce Carole Oates, Gilbert Sorrentino, Richard Ford und Robert Coover leben von solchen Professorengehältern«, beobachtete Baier.1
Literatur im Zeitalter der Plattformen
Ein knappes Jahrzehnt später diagnostizierte der Literaturwissenschaftler Mark McGurl in seiner Studie The Program Era (2009) eine vom literaturkapitalistischen Markt bestimmte Orientierung vom Experimentalismus der 1960er Jahre zum »literarischen Realismus« der 1980er Jahre, in der sich eine Abwendung vom »radikalen Experimentalismus« von Autoren wie Robert Coover, Thomas Pynchon, Donald Barthelme und John Barth zum »konventionellen Realismus« von Schriftstellern wie Raymond Carver, John Cheever und Richard Ford vollzog.2 In seiner Nachfolgestudie Everything and Less: The Novel in the Age of Amazon (2021) beschreibt McGurl die »Internet-Krake« Amazon nicht nur als »Fiction as a Service« eines erdumspannenden Cloud-Universums, sondern als dominierende Kraft eines global übermächtigen Publikationskonzerns, das unter dem Kürzel KDP (Kindle Direct Publishing) nicht allein die Veröffentlichung und Distribution von Inhalten in gedruckter und digitaler Form bestimmt, sondern auch die Ausdrucksformen der gegenwärtigen Literatur. Wie Ian Watt in seiner Studie der Entstehung des bürgerlichen Romans schrieb, war der Roman das »logische literarische Vehikel einer Kultur«, die in ihrem Vorwärtsstreben Originalität und Individualität betonte, während im letzten Stadium der Postmoderne Kriterien des ökonomischen und formalen Konventionalismus in der Literaturproduktion vorherrschen.3
Unlängst hob Kyle Chayka in der New Republic hervor, dass die universitären Programme des »kreativen Schreibens« nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie einen »literarischen Realismus« auf dem publizistischen Markt betonierte und Autor*innen wie Ken Kesey, Wendell Berry, Richard Ford, Michael Chabon, Rick Moody, and Tama Janowitz Reputation auf dem Marktplatz verschafften. Wie unterschiedlich sie auch in Stil und literarischer Herangehensweise sein mochten, einte sie doch ihr auf die oberflächliche Individualität fokussierter Subjektivismus, der sich mit einem ausgeprägten politischen Absentismus paarte. Daher rührte letztlich auch der auflagenstarke Profit ihrer Bücher.4
Dämmerung der weißen Mittelklasse
Symptomatisch für die Ära von Reagan bis Trump in der US-amerikanischen Literatur ist die Figur Frank Bascombe, die Richard Ford in seit den 1980er Jahren entwickelte, um einen distanzierten, betont stilisierten Blick auf eine »traurige, banale Welt« zu werfen, wie Malcolm Bradbury und Richard Ruland in ihrer Geschichte der spätmodernen US-amerikanischen Literatur schrieben.5 Im ersten Werk seiner Bascombe-Pentalogie – The Sportswriter (1986) – ist Bascombe ein gescheiterter Romanautor, der sich als Sportreporter neu erfinden will. Im Zentrum des Romans steht die Zerrüttung der kleinbürgerlichen Familienverhältnisse, die durch den Tod des Sohnes Ralph im Kindesalter (er starb an einer seltenen Krankheit, die unter dem Namen »Reye-Syndrom« firmiert) ausgelöst wurde und in der Scheidung mündete. In den Nachfolgeromanen – Independence Day (1995), The Lay of the Land (2006) und Let Be Frank With You (2014) – betätigt sich Bascombe als Immobilienmakler in New Jersey und stellt sich als Anhänger der Demokratischen Partei, wobei jedoch die politischen Hintergründe lediglich als verwaschene Kulissen einer entpolitisierten Kalikowelt dienen und die Namen der jeweiligen politischen Kandidaten – George Bush, George W. Bush, Michael Dukakis oder Al Gore – lediglich »Schall und Wahn« in einem mit privatistischer Biederkeit ausgefüllten Raum in der Dämmerung der weißen Mittelklasse an der US-amerikanischen Ostküste sind.6 Bascombe ist als Schriftsteller und Journalist gescheitert und verhökert als Immobilienmakler die letzten Träume der abgewirtschafteten Mittelklasse, für den allein zählt, »was man mit Geld kaufen kann«, wie Russell Jacoby in einem Nachwort zur Jubiläumsausgabe von C. Wright Mills’ Studie White Collar festhält: Nicht der Wert der Arbeit zählt, sondern allein schöne Immobilien, entspannende Ferien, versorgte Kinder und schicke Autos.7
Im bislang letzten Bascombe-Roman (Be Mine, dt. Valentinstag), der kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie spielt, ist der Protagonist 74 Jahre alt und hat seine Immobilienfirma in New Jersey an einen ehemaligen Mitarbeiter – Mike Mahoney, einen »amerikanisierten« Tibeter – verkauft. Die erste Ehefrau ist gestorben, und ihr überlebender Ehemann verstreut ihre Asche auf dem Grab des ersten Sohnes Ralph. Derweil arbeitet die zweite Ehefrau als internationale Trauerbegleiterin irgendwo in Tschetschenien. Wie schon Independence Day ist auch Valentinstag eine amerikanische Variation von Iwan Turgenjews Roman Väter und Söhne und dessen Kontemplation über die Suche nach Glück – vor allem in seiner privaten Ausprägung.8 Wie bei Turgenjew sind auch bei Ford die Mitstreiter des Glücks Misstrauen und Misslingen. Bascombes 47-jähriger Sohn Paul ist an ALS (amytropher Lateralsklerose, auch als Lou-Gehrig-Krankheit bekannt) erkrankt und hat nur noch wenige Monate zu leben. Wie zu seiner Tochter Clarissa hat Bascombe auch zu Paul ein schwieriges bis schlechtes Verhältnis, übernimmt aber doch seine Betreuung. Nach einem experimentellen Behandlungsprogramm in einer Klinik in Rochester (New York) bricht er mit seinem Sohn in einem alten Wohnmobil zu einer Reise zum Mount Rushmore in South Dakota auf, durch den Mittelwesten der USA, der von den Verwerfungen der Trump-Ära gezeichnet ist. Am Ende stirbt Paul irgendwo in Arizona bei seiner Schwester – nicht an den Folgen der ALS-Erkrankung, sondern vermutlich an Covid-19.
Für Bascombe geht es schließlich um die Frage: Weiterleben – aber wie? Als Vater überlebt er seine Söhne und versteht sich nicht mit seiner Tochter. Aber trotz allem nimmt er sich als Mensch wahr, der im existenzialistischen Sinne Albert Camus’ nach dem eigenen Glück strebte und in Erwartung eines glücklichen Todes fortleben kann. »Und so würde ich über den Daumen gepeilt schon sagen, ich bin glücklich gewesen«, gibt Bascombe in der Einleitung des Romans zu Protokoll. »Zumindest glücklich genug, dass ich Frank Bascombe bin und kein anderer. Bis vor kurzem hat das zum Weitermachen vollauf genügt.«9 Am Ende – nach der verknappten, verendenden Kommunikation im Carver-Stil (»Worüber reden wir gerade?«) – bekennt er, dass es befriedigend sei, »sich mit wenigen Nebensätzen auszudrücken«.10
Doch im Gegensatz zu Carvers Protagonisten aus dem Fundus des »Dirty Realism« einer abgehängten US-amerikanischen Mittelschicht geriert sich Fords Protagonist Bascombe als halbgebildeter Mann der Mittelklasse, der mit Zitaten von Martin Heidegger und Alexander Trollope auftrumpft und sein Wissen um die Popkultur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Hinweisen auf Jerry Lee Lewis, Roger Corman, den Dorsey-Brüdern, den Three Stooges oder Kirk Douglas nebst Erwähnung der Markenkulturen von John Deere, Toyota, Honda, Toshiba bis zu Starbuck’s präsentiert, um schließlich eine etwas einfältige Kritik des US-amerikanischen Kapitalismus im Angesicht des »Mais-Palastes« in Mitchell (South Dakota) vorzubringen:
Alle Schilder führen uns zum Maispalast. Mitten in einer Stadtlandschaft aus Mega-Wash, Kwik Phil-Tankstelle, der Mais-Treuhand-Bank und dem Siouxland-Kieferchirurgen geht es mir sofort besser. Der mitreißende Geschäftsgeist kurz vor St. Valentin – dem Feiertag, der dem Geschäftsgeist entsprungen ist.11
Ähnlich zäh wie Fords Roman nimmt sich auch die Lesung Christian Brückners aus. Anders als etwa bei Brückners Hörbuchfassung von Fords Roman Kanada (2012 bei Parlando erschienen) erscheint die Lesung weniger agil, passt sich der Zerfahrenheit und Larmoyanz der Erzählerstimme an oder versucht in einer theatralisierten Performance dem »brüchigen Falsett«12 von Pauls Stimme Ausdruck zu verleihen. »Wir ›spielen Republikaner‹«, heißt es im Roman, »und toppen uns gegenseitig mit Sprüchen, die kein vernünftiger Mensch ernst nehmen würde.«13 Angesichts der gegenwärtigen Gefahren für die US-amerikanische Demokratie, in der selbst Robert De Niro auf dem Stop Trump Summit der New Republic im Oktober 2023 vor dem »Möchtegern-Diktator« warnte14, ist solch ein »Spiel« verharmlosend und gefährlich und ist ein Indiz für Fords depolitisierende Indienstnahme von politischen Floskeln, in der sich der Immobilienmakler Bascombe als tumber Wiedergänger des Immobilienhändlers Babitt aus dem gleichnamigen Roman Sinclair Lewis’ decouvriert. Im Gegensatz zu Lewis ist Ford zur Gesellschaftskritik und Satire nicht fähig und verharrt mit seinem Protagonisten Bascombe in der Einfältigkeit des weißen, vom Südstaatendenken geprägten Mittelschichtsmann, dem die Vorzüge der Demokratie und die Gefahren des Faschismus letztlich gleichgültig sind, da er nur in Schwarzweiß-Rastern von »Demokraten« und »Republikanern« denkt, die keinen Platz für die Erfahrungen von nicht-weißen Amerikaner*innen lassen.
Das Elend der Kritik
Jegliche Kritik am Werk Richard Fords und seines »amerikanischen Jedermanns« prallt im deutschen Feuilletonbetrieb ab. In ihrer Literatur-Video-Kolumne Mehr lesen mit Elke Heidenreich auf Spiegel Online feiert Elke Heidenreich den Roman als post-hemingwayesken Ausdruck der Tapferkeit im Scheitern15, während ihre Vorgängerin im »Literarischen Quartett« Sigrid Löffler auf SWR Kultur zumindest die Absurdität der »patriotischen Wallfahrt« zu »zu einer uramerikanischen Kultstätte« zur Sprache bringt, wobei die Bezeichnung einer »uramerikanischen Kultstätte« angesichts des indigenen Widerstandes gegen die weiße Inbesitznahme des Lakota-Territoriums für ein monumentales Denkmal imperialer Repräsentanten des US-amerikanischen Staates überaus fragwürdig ist.16 In der US-amerikanischen Kritik war die Aufnahme von Fords Roman weitaus weniger euphorisch. In der New York Times beurteilte Dwight Garner dies vermutlich letzte Werk eines der »amerikanischen Elite-Autoren« als das »dünnste und am wenigsten überzeugende« der »Bascombe-Romane«.17
Noch verheerender nahm sich Claire Lowdons Rezension im Londoner Times Literatury Supplement aus, in der sie von der Lektüre des Romans abriet – nicht zuletzt auf Grund der rassischen und geschlechterspezifischen Stereotypen, die der »alte weiße Romancier« aus Mississipi bis ins Trump-Zeitalter in Gestaltung der vietnamesischen Masseurin und der stets als »schwarz« klassifizierten Rechtsanwältin transponiert.18 Lowdon erinnerte auch an das überaus seltsame Verhalten des weißen Romanciers aus dem US-amerikanischen Süden, der auf einer Literaten-Party dem afro-amerikanischen Schriftsteller Colson Whitehead ins Gesicht spuckte, weil er in der New York Times Fords Erzählband A Multitude of Sins (2000; dt. Eine Vielzahl von Sünden, 2012) stark kritisiert hatte.19 Daher sind die wohlfeilen Urteile des deutschen Feuilletons, die Fords Mischung aus vorgeblicher Humanität und Desperatheit loben20 mit Vorsicht zu genießen.
© Jörg Auberg 2023
Bibliografische Angaben:
Richard Ford.
Be Mine:
A Frank Bascombe Novel.
New York: HarperCollins/Ecco, 2023.
352 Seiten, 30,00 US-$ (Hardcover), 13,99 US-$ (Ebook).
ISBN: 978–0‑061–69208‑6 (Hardcover)
ISBN: 978–0‑063–26792‑3 (Ebook).
Richard Ford.
Valentinstag.
Übersetzt von Frank Heibert.
Berlin: Hanser Berlin, 2023.
384 Seiten, 28,00 Euro (Hardcover), 20,99 Euro (Ebook).
ISBN: 978–3‑446–27732‑8 (Hardcover).
ISBN: 978–3‑446–27890‑5 (Ebook).
Richard Ford.
Valentinstag.
Gelesen von Christian Brückner.
Berlin: Argon Verlag, 2023.
MP3-CD, Laufzeit: 14:33 Stunden, 30 Euro.
ISBN: 978–3‑7324–2086‑5.
Bildquellen (Copyrights) |
|
Cover Be Mine | © HarperCollins |
Cover Valentinstag (Roman) |
© Hanser Berlin |
Cover Valentinstag (Hörbuch) |
© Argon Hörbuch |
Nachweise
- Lothar Baier, Was wird Literatur? (München: Verlag Antje Kunstmann, 2001), S. 131 ↩
- Mark McGurl, The Program Era: Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2009), S. 35–36 ↩
- Mark McGurl, Everything and Less: The Novel in the Age of Amazon (London: Verso, 2021), S. 45, 48–51; Ian Watt, The Rise of the Novel: Studies in Defoe, Richardson and Fielding (London: Hogarth Press, 1987), S. 13 ↩
- Kyle Chayka, »The Platform Era: Has Amazon Changed Fiction?«, New Republic, Oktober 2021, S. 59–61 ↩
- Malcolm Bradbury und Richard Ruland, From Puritanism to Postmodernism: A History of American Literature (New York: Penguin Books, 1991), S. 393 ↩
- Zur »Dämmerung der Mittelklasse« siehe Andrew Hoberek, The Twilight of the Middle Class: Post-World War II American Fiction and White-Collar Work (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2005) ↩
- Russell Jacoby, Nachwort zu: C. Wright Mills, White Collar: The American Middle Classes, Fiftieth Anniversary Edition (New York: Oxford University Press, 2002), S. 373 ↩
- Siehe Ganna-Maria Braungardt, »Nachwort: Von Fröschen und Zottelköpfen und der ewigen Suche nach dem Glück«, in: Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, herausgegeben und übersetzt von Ganna-Maria Braungardt (München: dtv, 2017), S. 290–300 ↩
- Richard Ford, Valentinstag, übers. Frank Heibert (Berlin: Hanser Berlin, 2023), S. 10 ↩
- Ford, Valentinstag, S. 220, 221 ↩
- Ford, Valentinstag, S. 241 ↩
- Ford, Valentinstag, S. 283 ↩
- Ford, Valentinstag, S. 216 ↩
- »Robert De Niro Rips Donald Trump: He’s ›Evil‹«, https://newrepublic.com/post/176175/robert-de-niro-trump-isnt-just-bad-guy-hes-evil ↩
- Elke Heidenreich, »Scheitern – und trotzdem tapfer sein«, https://www.spiegel.de/kultur/literatur/elke-heidenreich-ueber-valentinstag-von-richard-ford-scheitern-und-trotzdem-tapfer-sein-a-17ea3f49-32cb-40eb-8b92-c824a74f526e ↩
- Sigrid Löffler, »Richard Ford – Valentinstag«, SWR Kultur, 20. August 2023, https://www.swr.de/swr2/literatur/swr2-lesenswert-magazin-20230820–1705-02-richard-ford-valentinstag-100.html; cf. Pekka Hämaläinen, Lakota America: A New History of Indigenous Power (New Haven: Yales University Press, 2019), S. 424 ↩
- Dwight Garner, »In Richard Fords’ New Novel, One More Trip for Old Times’ Sake«, New York Times, 5. Juni 2023 ↩
- Claire Lowdon, »Stuck in Traffic: Richard Ford’s Bascombe quintet grinds to a halt«, Times Literary Supplement, Nr. 6272 (16. Juni 2023) ↩
- Colson Whitehead, »The End of the Affair«, New York Times, 3. März 2002; Claire Armitstead, »Richard Ford should swallow his pride over Colson Whitehead’s bad review«, The Guardian, 14. Juni 2017, https://www.theguardian.com/books/booksblog/2017/jun/14/richard-ford-pride-colson-whitehead-bad-review ↩
- Cf. die Rezensionsnotizen im Betriebsportal Perlentaucher, https://www.perlentaucher.de/buch/richard-ford/valentinstag.html ↩