Der demokratische Tod
Thomas Manns »Jahrhundertroman« Der Zauberberg
von Jörg Auberg
»Der Faschismus ist greisenhaft und böse, in jeglicher Gestalt.«
Hans Mayer1
Rückblicke auf den Zauberberg
IIm Herbst 1924 erschienen die beiden Bände des Romans Der Zauberberg, die – mit den Worten Thomas Manns in einer Einführung des Werkes für Studenten an der Princeton University im Jahre 1939 – »aus der der Konzeption der short story entstanden waren« und ihren Autor »zwölf Jahre in den Bann gehalten hatten«.2 Ursprünglich sollte der Text »nichts weiter sein als ein humoristisches Gegenstück zum ›Tod in Venedig‹, ein Gegenstück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas ausgedehnte short story«.3
Die »Arbeitszeit« an diesem Werk war durchaus notwendig, da sowohl Autor als auch intendiertes Lesepublikum eine schockhafte Entwicklung zu absolvieren hatten, wie Walter Benjamin 1936 die Erfahrung der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschrieb: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.«4 In der Diktion Thomas Manns hieß es: Es seien »Erlebnisse nötig gewesen, die der Autor mit seiner Nation gemeinsam hatte, und die er beizeiten in sich hatte kunstreif machen müssen, um mit seinem gewagten Produkt, wie einmal schon, im günstigsten Augenblick hervorzutreten.« 5 Die »Probleme« des Romans seien nicht »massengerecht« gewesen, konzedierte der Dichter der Nation, »aber sie brannten der gebildeten Masse auf den Nägeln, und die allgemeine Not hatte die Rezeptivität des breiten Publikums genau jene alchimistische ›Steigerung‹ erfahren lassen, die das eigentliche Abenteuer des kleinen Hans Castorp ausgemacht hatte«.6 Noch im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkrieges brüstete sich Thomas Mann damit, dass der Zauberberg »ein sehr deutsches Buch« sei, und insistierte Mann, dass »fremdländische Beurteiler seine Weltmöglichkeit vollkommen unterschätzten«.7 Sein Protagonist Hans Castorp sei ein »Gralssucher«, der den Gral der Humanität aufspüren möchte, die auf »Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen« beruhe, wie der Autor des Zauberbergs dunkel formuliert.8
Einwände widerspenstiger Leser
Den Studenten (angesprochen als »Gentlemen«, da Princeton ein Männerhort des zukünftigen elitären Geistes war) empfahl der Dichterfürst eine mindest zweimalige Lektüre seines Werkes. »Wer aber mit dem ›Zauberberg‹ überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik kennen muß, um sie richtig zu genießen.« 9
Das Vergnügen stellte sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfrage der NDR-Kulturredaktion aus dem Jahre 1975 bezüglich des gegenwärtigen Interesses am Werk Thomas Manns antwortete Alfred Andersch: »Unlängst habe ich versucht, den ›Zauberberg‹ wieder zu lesen – leider mußte ich das Experiment abbrechen. Das allzu innige Behagen am Stilistischen ging mir einfach auf die Nerven.« In der gleichen Umfrage gab Ror Wolf zu Protokoll: »Das, was mich am meisten interessiert im Zusammenhang mit Thomas Mann, ist die Frage: warum er mich nie interessiert hat.«10
In einem Interview mit dem Autor Alain Elkann kategorisierte Alberto Moravia den Zauberberg als »Unterhaltungsroman« und stellte ihn in eine Reihe mit André Gides Die Falschmünzer (1925) und Aldous Huxleys Kontrapunkt des Lebens (1928): »drei Romane, die mir nicht gefielen und mir nichts sagten«, beschrieb Moravia seine Aversion gegen die Prätentiosität dieser »Unterhaltungsromane« der Moderne und fügte wenig später hinzu:
»Italo Calvino hat etwas Richtiges gesagt: daß Thomas Mann alles gesehen habe, aber von einem Balkon des 19. Jahrhunderts aus, wie alles zusammenstürzte. Ich halte das für eine gute und richtige Bemerkung. Thomas Mann hat geahnt, wie Europa enden würde, doch seine Perspektive war die einer inzwischen überholten bürgerlichen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wir dagegen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wirbel des Mahlstrom-Trichters stürzt.«11 |
Jenseits der Kritik
Selbst im »roten Jahrzehnt« der postfaschistischen Bundesrepublik Deutschland war Thomas Mann als »Dichter der Nation« über Kritik weitgehend erhaben. »Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill«, diagnostizierte Theodor W. Adorno in einem Beitrag für SDR im Mai 1969. »Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«12 Als Hanjo Kesting, der langjährige Leiter der NDR-Kulturredaktion, in einem kritischen Thesenartikel für den Spiegel Manns Verstricktheit in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus, seine elitäre Vorstellung von Demokratie und sein Misstrauen gegenüber dem Volk (das er in erster Linie als Masse und Mob wahrnahm) thematisierte und ihn als »Statthalter der bürgerlichen Kulturtradition« beschrieb, die längst verfault sei, echauffierte sich augenblicklich der zum absurden Klischee geronnene Phantombürger-Mob in den Leserbriefspalten des Spiegel, der den »Dichterfürsten« nicht von einem »Kritikaster« des notorischen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen wollte.13 Mittlerweile ist der »Rotfunk« abgewickelt, Hanjo Kesting seit 2006 im Ruhestand, und dem Autor der »polemischen Thesen« ist das »aufsässige Produkt« aus seiner »Sturm- und Drang-Zeit« peinlich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kesting im Vorwort zu seinem Buch Thomas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Verehrern des ›Zauberers‹.« Mittlerweile ist auch der ehemalige Kritiker Kesting zum »Verehrer« Thomas Manns konvertiert, auch wenn er nicht jeden Kritikpunkt widerrufen will. Doch erscheint ihm im Rückblick »das aus einem ödipalen Reflex entstandene Thesenpapier ziemlich unausgegoren«. 14
Schon wenige Jahre nach der Revolte und dem verkündeten Tod der Literatur verzwergten sich die »Schreibproduzenten« im Schatten des Riesen Thomas Mann. »Die Revolte ist vorüber, die Nostalgie geblieben«15, gab der linke Schriftsteller Gerhard Zwerenz 1979 zu Protokoll. Vier Jahre zuvor hatte Zwerenz in Rowohlts Literaturmagazin, dem Zentralorgan für die »Literatur nach dem Tod der Literatur«, den »Unterhaltungsschriftsteller« Thomas Mann als Vorbild für künftige Autor*innen der Literaturproduktion empfohlen. Von ihm sei zu lernen, insistierte Zwerenz, »wie man anschreibt gegen einen Vulgarismus, der die Welt zurückziehen« wolle. »Thomas Mann und der Faschismus waren unverträglich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwillig ausscheiden ließ. Wir können das Potential der Unverträglichkeit mit dem Faschismus durch Literatur vergrößern. Mehr können wir nicht. Aber ich halte das schon für sehr viel.«16 Selbst für den Marxisten Georg Lukács repräsentierte Thomas Mann im ideologischen Verfall der bürgerlichen Klasse noch »das Beste in der deutschen Bourgeoisie« und war in seinen Augen der »letzte große bürgerliche Autor«.17
Demokratie einer Elite
In seinem schmalen Band Zauberberge tituliert der Literaturwissenschaftler und Verlagslektor Thomas Sparr Thomas Manns Roman Der Zauberberg als »Jahrhundertroman«, wobei unklar bleibt, wodurch dieser Roman den Rang eines »Jahrhundertromans« erhält. »Was macht diesen Roman«, fragt Sparr in seinem Vorwort, »nach einhundert Jahren so zugänglich, vergangen und doch gegenwärtig, erschlossen und doch rätsel‑, ja zauberhaft?«18 Für Sparr ist »Demokratie« das »Schlüsselwort des Romans«, und der Zauberberg ist eine überdimensionierte Revokation von Manns antieuropäischen und antidemokratischen Suaden in den Zeiten des Ersten Weltkrieges, als beispielsweise US-amerikanische Autoren wie John Dos Passos gegen die Barbarei der modernen industriellen Staatsmaschinerie opponierten, die sowohl die Eroica-Symphonie als auch die Ruinen von Reims produziert hatte.19 »In den Jahren des Ersten Weltkriegs führt Thomas Mann einen Feldzug gegen die Moderne«, schreibt Sparr, »gegen die Demokratie, gegen das, was er mit Geringschätzung ›Civilisation‹ nannte, an ihrer Spitze den ›Civilisationsliteraten‹, das vagabundierende Literatentum.«20 Im Zauberberg erweise sich »die Diskussion, die Auseinandersetzung, das Für und Wider« als »Kernelement der Demokratie«, argumentiert Sparr und stellt die These auf, der Zauberberg lasse sich »als demokratischer, ja sozialdemokratischer Roman lesen«.21
Seltsam mutet Sparrs Verständnis von Demokratie an. Der Tod sei, behauptet er, »im Zauberberg das große demokratische Element, so wie der Roman auf die sozialen Unterschiede achtet.«22 Ist das Wesen der Demokratie, dass alle an Krankheit oder auf dem »Weltfest des Todes«23 sterben können? Im Zauberberg existiert allenfalls eine »Demokratie von Ehrentischen«24 für die solventen kranken Bürger jenseits des »Flachlandes«, wo die Kreaturen hausen, welche die Zeche für die Barbarei zu zahlen haben. Die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit, die den Roman durchzieht, ist von Beginn von verschleierten Klassenverhältnissen gezeichnet, als ein »einfacher junger Mensch« namens Hans Castorp, der realiter ein Abkömmling einer bürgerlichen hanseatischen Familie ist, sich mit seiner »krokodilslernden Handtasche« auf die Reise zum Zauberberg begibt.25 Gesundheit sei in diesem Roman »so etwas wie die leibliche Seite von Demokratie«, konstatiert Sparr, während Krankheit »immer als moralisches, seelisches, auch geistiges Defizit« erscheine: Gesundheit sei in den Bildern Thomas Manns »immer nur vorübergehend, ein Zustand voller Täuschungen, Selbsttäuschungen«, während die Krankheit, »die unausweichliche Enttäuschung«, das letzte Wort behalte.26
Wie der marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konstatierte, enthalte der Zauberberg den Querschnitt durch die bürgerliche Gesellschaft der Zeit um 1914, doch alle seien krank und verurteilt. »Die bürgerliche Demokratie weist zwar den Weg ins Freie, doch diese freie Ebene hat die Gestalt eines Schützengrabens angenommen«, resümiert Mayer. »Nun geht es darum, mag Castorp untergehen, daß neue Generationen, die nicht mehr krank sind, bewußte Parteigänger des Lebens werden, statt solcher Krankheit und der todessüchtigen Nacht.«27 Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte die Erinnerung an Manns Engagement gegen den Faschismus in seinem US-amerikanischen Exil, während seine Formulierung »Weltfest des Todes« im Zauberberg »beschwiegen« wurde.
Zumindest bei Kesting bestehen weiter Zweifel, ob Mann »die Realität des vier Jahre währenden großen Mordens auf den Schlachtfeldern Europas an sich herankommen ließ, als er seinen wütenden Geisteskampf austrug«28. Während der Schulabbrecher Mann, der sich als Künstler und Bürger in Personalunion inszenierte und für das »Negerfranzösisch«29 seiner Schulzeit schämte, das »Menschenmaterial« der industriellen Staatsmaschinerie ignorierte, lobte ihn Lukács als »Autor und Realist«, der nie »modern im dekadenten Sinne« gewesen sei.30 Die Koppelung von Moderne und Dekadenz als Gegenbild zum »Realismus« repetiert die Ranküne gegen das »vagabundierende Literatentum«, das sowohl dem Bürger als auch dem Bürokraten im Auftrag der Herrschaft suspekt ist. Das Gegenprogramm zur kranken Elitengesellschaft ist nicht die Utopie einer egalitär-demokratischen Gesellschaft, sondern das innerliche Strammstehen. »Wir sind wirklich etwas versimpelt«, erklärt Castorps soldatischer Vetter Joachim. »Aber man kann sich schließlich zusammenreißen.«31
Der geistige Dienst mit der Waffe
Das soldatische Verständnis war schon in der Figur des Gustav Aschenbach in der Novelle der Tod im Venedig (1912) angelegt (»auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen«32). Der »High-School-Dropout« Thomas Mann erwarb seine »deutsche Bildung«, wie der Mann-Biograph Hermann Kurzke schrieb, »autodidaktisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«33. Im Jahre 1914 führte die »deutsche Bildung« zu der Erkenntnis, dass der Krieg »Reinigung« und »Befreiung« darstelle. In dem Aufsatz »Gedanken im Kriege« (»Essay« hätte für den Nationalisten Thomas Mann vermutlich zu »fremdländisch« geklungen) wandte sich der bürgerliche Autor gegen den »gallischen Radikalismus«, der ihm als Sackgasse erschien, »an deren Ende es nichts als Anarchie und Zersetzung« gebe. »Deutschlands ganze Tugend und Schönheit« entfalte sich erst im Krieg, postulierte Mann, der als Literaturproduzent von dem Verlangen nach billigen Buchausgaben profitierte, die an die Frontsoldaten verschickt werden konnten. Im nationalistischen Fieber sah der Dichter der Nation sein Vaterland als Opfer eines bösen Europas: »Ihr wolltet uns umzingeln, abschnüren, austilgen, aber Deutschland, ihr sehet es schon, wird sein tiefes, verhaßtes Ich wie ein Löwe verteidigen, und das Ergebnis eures Anschlages wird sein, daß ihr staunend genötigt sehn werdet, uns zu studieren.«34
In seinem überbordenden Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (den er im US-amerikanischen Exil später als »ein mühseliges Werk der Selbsterforschung und des Durchlebens der europäischen und Streitfragen« und als »geistigen Dienst an der Waffe« 35 bezeichnete) ereiferte er sich in manisch-chauvinistischer Manier über den Typus des »Zivilationsliteraten« – ein Begriff, der nach der Zählung eines Rezensenten etwa 200 Mal in dem Werk auftaucht36. Ihm graute vor der Vorstellung, eine militärische Niederlage Deutschland hätte ein »Imperium der Zivilisation« zur Folge haben können. Das »Ergebnis wäre«, mutmaßte der deutschnationale Bürger Mann, »ein Europa gewesen, – nun, ein wenig drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein Europa, schon etwa allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa«, »ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte«.37 Die »Demokratisierung Deutschlands« liefe auf die »Entdeutschung« hinaus38, befürchtete Mann, ohne dass er mit seinem Essay diesen Prozess aufhalten konnte. »Das Erscheinen dieses antidemokratischen Buches«, konstatiert der Mann-Biograf Ronald Hayman, »fiel zusammen mit der Bildung einer demokratisch orientierten Regierung.«39
Wie Walter Boehlich in einem Argumentationsversuch gegen den Zeitgeist der Thomas-Mann-Idolatrie insistierte, gehörte das Buch »in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus«40 und war »der wortreiche Versuch, das politische Versagen des Bürgertums in seine eigentliche Tugend umzuschminken«. Die Betrachtungen hätten Furore gemacht, urteilte Boehlich, »und es ist gleichgültig, wie Thomas Mann selbst sie jeweils verstanden sehen wollte; nicht gleichgültig ist, wie sie gewirkt haben.« Das konservative Deutschland habe sie als »Rechtfertigungsschrift« verstanden.41 »Entschuldet« wird Thomas Mann – beispielsweise von dem Essayisten Erich Heller – mit dem Hinweis auf seinen Charakter als »ironischer Deutscher« und Künstler, der gegen »den Sozialmoralismus des Zivilisationsliteraten« mit einer »skeptischen Intelligenz« beharrt und in den Betrachtungen »ein quasi-politisches Traumbild der konservativen Phantasie« entworfen habe.42 Die Argumentation von konservativen Autoren wie Heller oder Marcel Reich-Ranicki bagatellisiert das politische Engagement Manns mit der Begründung, dass seine politischen Auffassungen amateurhaft gewesen seien und daher nicht ernst genommen werden müssten.43
Auf diese Weise wird der intellektuelle Ästhet vor dem politischen Kommentator gerettet. Für Sparr werden im Zauberberg »die Argumente für Humanität, für Maß und Mäßigung geschärft«44, ohne dass er selbst diese Argumente kritisch hinterfragt. Der »Politiker« Thomas Mann plädiere »für einen militanten Humanismus; Freiheit und Duldsamkeit hätten das Recht und die Pflicht, sich zu wehren«45. Mann verknüpft auf zweifelhafte Weise Humanität und Maskulinität. »Europa wird nur sein«, sagte er in einer Rede in Budapest im Juni 1936, »wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit selbst kein Freibrief ihrer Todfeinde und ihrer Mörder werden darf.«46 In den Ohren Sparrs klingen diese »Sätze wie aus der Gegenwart«, wobei das autoritär-regierte Ungarn von 1936 wie ein Spiegelbild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In dieser Vorstellung erscheint Politik stets nur als Wiederholung des Immergleichen, als käme der Faschismus wie ein unabwendbares Unheil aus dem Nichts. Thomas Mann mangelte es »an Konsequenz des Denkens«, insistierte Walter Boehlich. »Nichts wäre anders geworden, wenn er weniger bürgerlich, weniger konservativ gewesen wäre; er konnte nichts ändern.« Aber gerade deshalb sei er »zum Lieblingsschrifsteller der Deutschen« geworden.47 Vermutlich macht auch dies den Zauberberg zu einem »Jahrhundertroman«.
© Jörg Auberg 2024
Bibliografische Angaben:
Thomas Sparr.
Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos.
Berlin: Berenberg, 2024.
80 Seiten, 22 Euro.
ISBN: 978–3‑949203–82‑4.
Hanjo Kesting.
Thomas Mann: Glanz und Qual.
Göttingen: Wallstein, 2023.
400 Seiten, 28 Euro.
ISBN: 978–3‑8353–5413‑5.
Bildquellen (Copyrights) |
|
Foto Der Zauberberg |
© Foto H.-P.Haack — Quelle: «Erstausgaben Thomas Manns» (2011). Herausgeber: Antiquariat Dr. Haack D – 04105 Leipzig |
Foto Alberto Moravia |
© Paolo Monti, via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 |
Cover Thomas Mann: Glanz und Qual |
© Wallstein Verlag |
Cover Literaturmagazin 4 |
© Rowohlt Verlag |
Foto Thomas Mann in seinem Haus in München |
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 |
Cover Hans Mayer: Thomas Mann |
© Suhrkamp Verlag |
Szenenfoto All Quiet on the Western Front |
Archiv des Autors |
Cover Text + Kritik |
© edition text + kritik |
Foto Familie Mann am Strand von Los Angeles |
© Thomas-Mann-Archiv/ETH-Bibliothek Zürich |
Nachweise
- Hans Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S 170 ↩
- Thomas Mann, »Einführung in den Zauberberg für Studenten der Princeton Universität«, in: Mann, Der Zauberberg, Stockholmer Gesamtausgabe (Stockholm: Bermann-Fischer Verlag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hintergrund cf. Stanley Corngold, The Mind in Exile: Thomas Mann in Princeton (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2022), S. 186–189 ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xviii ↩
- Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 439 ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xxi ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xxi ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xxi ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xxix ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xxii ↩
- »Deutsche Schriftsteller über Thomas Mann«, in: Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, hg, Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩
- Alberto Moravia und Alain Elkann, Vita di Moravia: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hartmann (Freiburg: Beck & Glückler, 1991), S. 53 ↩
- Theodor W. Adorno, »Kritik«, in: Kulturkritik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Bd. 10, hg. Rolf Tiedemann et al. (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩
- Hanjo Kesting, »Thomas Mann oder der Selbsterwählte«, Spiegel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001-0000–000041521068; Spiegel-Hausmitteilung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001-0000–000041483678 Leserbriefe in der gleichen Ausgabe: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001-0000–000041483691 ↩
- Hanjo Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual (Göttingen: Wallstein, 2023), S. 8 ↩
- Gerhard Zwerenz, »Der Schock sitzt tiefer«, in: Nach dem Protest: Literatur im Umbruch, hg, W. Martin Lüdke (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), S. 41 ↩
- Gerhard Zwerenz, »Wir Zwerge hinter den Riesen: Über Thomas Mann und uns«, in: Literaturmagazin 4: Die Literatur nach dem Tod der Literatur – Bilanz der Politisierung, hg. Hans Christoph Buch (Reinbek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩
- Georg Lukács, Essays on Thomas Mann, übers. Stanley Mitchell (London: Merlin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩
- Thomas Sparr, Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos (Berlin: Berenberg, 2024), S. 8 ↩
- John Dos Passos, »A Humble Protest« (1916), in: John Dos Passos: The Major Nonfictional Prose, hg. Donald Pizer (Detroit: Wayne State University Press, 1988), S. 30–34 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 22–23 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 26, 28 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 27–28 ↩
- Mann, Der Zauberberg, S. 1022 ↩
- Mann, Der Zauberberg, S. 1009 ↩
- Mann, Der Zauberberg, S. 3 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 35 ↩
- Hans Mayer, »Der ›Zauberberg‹ als pädagogische Provinz« (1949), in: Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S. 131 ↩
- Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩
- Hermann Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk – Eine Biographie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩
- Lukács, Essays on Thomas Mann, S. 45 ↩
- Mann, Der Zauberberg, S. 79 ↩
- Thomas Mann, Der Tod in Venedig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩
- Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk, S. 38 ↩
- Thomas Mann, »Gedanken im Kriege«, in: Thomas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hayman, Thomas Mann: A Biography (London: Bloomsbury, 1997), S. 284 ↩
- Mann, »Einführung in den Zauberberg«, S. xix, xx ↩
- Florian Keisinger, Rezension von: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩
- Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg, Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩
- Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 75 ↩
- Hayman, Thomas Mann: A Biography, S. 309 ↩
- Walter Boehlich, »Zu spät und zu wenig: Thomas Mann und die Politik«, Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, S. 55 ↩
- Boehlich, »Zu spät und zu wenig: Thomas Mann und die Politik«, S. 53 ↩
- Erich Heller, Thomas Mann: Der ironische Deutsche (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970), S. 157, 192 ↩
- Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Biographers«, Journal of English and Germanic Philology, 96, Nr. 4 (Oktober 1997), S. 599 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 23 ↩
- Sparr, Zauberberge, S. 36 ↩
- Thomas Mann, »Der Humanismus und Europa«, in: Mann, An die gesittete Welt: Politische Schriften und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩
- Boehlich, »Zu spät und zu wenig: Thomas Mann und die Politik«, S. 60 ↩