Die Maschinerie der Verblendung
Aufstieg und Niedergang der Zeitschrift »Filmkritik«
von Jörg Auberg
In einem programmatischen Artikel zur gesellschaftlichen Rolle des Filmkritikers konstatierte Siegfried Kracauer wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, der »Filmkritiker von Rang« sei »nur als Gesellschaftskritiker denkbar«. Die Mission dieses Kritikers sei es, »die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen«.1 Diese emphatische Betonung der kritischen Funktion des professionellen Filmjournalisten stand im fundamentalen Widerspruch zur »Deprofessionalisierung« des Kritikers zum bloßen Claqueur der Unterhaltungs- und späteren Kulturindustrie, wie sie – mit den Worten des Historikers Richard J. Evans – Joseph Goebbels in seiner stromlinienförmigen Programmatik der »Mobilisierung des Geistes« in die mediale Praxis (die sich auf Agitation und Propaganda beschränkte) umsetzte.2
Wie deutsch ist es
Kritik sei aller Demokratie wesentlich, insistierte Theodor W. Adorno 1969 in einem seiner »Kritischen Modelle«, das vom Alp der Vergangenheit gezeichnet ist. »Daß Goebbels den Begriff des Kritikers zu dem des Kritikasters erniedrigen und mit dem des Meckerers hämisch zusammenbringen konnte«, schrieb Adorno, »und daß er die Kritik jeglicher Kunst verbieten wollte, sollte nicht nur freie geistige Regungen gängeln.«3 Für Adorno waren die »deutsche Kritikfeindschaft« und die »Rancune gegen den Intellektuellen« (als Transporteur der Kritik) Teil des autoritären, obrigkeitsstaatlichen Systems, das sich in den 1930er Jahren durchsetzte und in jüngerer Vergangenheit in Form neofaschistischer und autokratischer Tendenzen gegen kritisches Denken neuerlich formiert. Adorno, der »Remigrant« (wie die aus dem erzwungenen Exil zurückgekehrten Emigranten nach 1945 bezeichnet wurden), hielt den Finger in die Wunde, »das beschädigte deutsche Verhältnis zur Kritik«, das – mit einem Wort Ulrich Sonnemanns – im »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« in der Folgenlosigkeit verendete.4
Filmkritik als oppositionelle Praxis
Für den einstigen Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, war die 1957 gegründete Zeitschrift Filmkritik ein linkes Oppositionsorgan gegen das restaurative Nachkriegsdeutschland5. In einer Geschichte der »Frankfurter Schule« charakterisiert der Historiker Jörg Später die Zeitschrift als »ein Seminar, das in Frankfurt hätte angesiedelt sein können«.6 In dem von Rolf Aurich und Michael Wedel herausgegebenen Band Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien wird weniger die Geschichte der Zeitschrift (die in der »Wendezeit« der Bundesrepublik nach längerem Siechtum 1984 verscharrt wurde) aufbereitet, als die Rollen einzelner Mitarbeiter (in der Männerwirtschaft war einzig die Filmpublizistin Frieda Grafe präsent) in den Medienmaschinen der Bundesrepublik auszuleuchten, die damals noch ausschließlich öffentlich-rechtlich organisiert und strukturiert waren (in erster Linie WDR, NDR, SFB, SWF und ZDF).
Im eröffnenden Essay über den Filmkritik-Begründer Enno Patalas (1929–2018) – neben Ulrich Gregor (geb. 1932) einer der Doyens der bundesrepublikanischen Filmgeschichtsschreibung – rekurriert Claudia Lenssen auf die opulente, aber unvollendet gebliebene Studie Medienintellektuelle in der Bundesrepublik des Historikers Axel Schildt, in der Intellektuelle, die sich mit Film beschäftigten, außen vor blieben. »Die ›Medien‹ werden ausschließlich als Plattformen für ihre publizistische Textproduktion betrachtet«, kritisiert Lenssen, »sind jedoch nicht Gegenstand der Reflexion.«7 Selbst Alexander Kluge – der als Filmemacher, Autor, Intellektueller und Medienproduzent zwischen den verschiedenen Bereichen der intellektuellen Produktion wandelte – wird als »Medienintellektueller« bei Schildt nur einmal in einem Zitat erwähnt.8 Obwohl die Filmkritik sich in der Tradition von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer begriff und die Kritik der Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung in ihren Seiten fortführte, haftete dem Film noch immer der Ruch des Verkommenen und der Verblödung an. Auch wenn Adorno später Kluge und andere »Medienintellektuelle« protegierte, blieb doch sein Urteil aus den Minima Moralia präsent: »Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus.«9
Politik vs. Ästhetik
Von Beginn an durchzog die Redaktion der Zeitschrift ein Riss zwischen einer »ästhetischen Linken« (repräsentiert von Enno Patalas, Helmut Färber u. a.) und einer »politischen Linken« resp. der »Kracauer-Fraktion« (in Person von Ulrich Gregor, Theodor Kotulla u. a.), der nicht nur das anfänglich gemeinsam von Patalas und Gregor betriebene Projekt Geschichte des Films (1962) zum Ein-Mann-Unternehmen machte10, sondern auch nach 1969 zu einer grundsätzlichen neuen Ausrichtung unter der Ägide der »ästhetischen Linken« führte, da die »politische Linke« der Zeitschrift den Rücken gekehrt hatte.11 Zunächst aber setzten Autoren wie Theodor Kotulla (1928–2001) und Gerhard Schoenberner (1931–2012), die ihre publizistische Arbeit als Zeitschriftenredakteure mit einer praktischen Film- und Fernseharbeit verbanden, Akzente im Sinne Kracauers und der »Kritischen Theorie« nach 1945, indem sie einerseits das Verdrängte in der Gegenwart in einem kritisch-realistischen Ansatz thematisierten und zum anderen die »Nachhaltigkeit« des Nationalsozialismus – sowohl im institutionalisierten Denken als auch in der nahezu bruchlosen Fortführung von NS-Karrieren in der bundesrepublikanischen Kulturindustrie in Personen wie Alfred Weidenmann, Herbert Reinecker und Wolfgang Liebeneiner vor Augen führten, wie es beispielsweise Schoenberner in seiner zwölfteiligen WDR-Reihe Film im Dritten Reich: Exkurse zur propagandistischen Massenführung aus dem Jahre 1969 demonstrierte.
Wie viele Filmemacher aus dem Filmkritik-Umfeld war auch Kotulla (der bis 1968 für die Filmkritik schrieb und 1988 einen Schimanski-Tatort mit Götz George inszenierte) von Jean-Luc Godard und Robert Bresson geprägt. »Theodor Kotulla kam zur ›Filmkritik‹, weil er aufbgehrte gegen die Traditionen des zeitgenössischen Feuilletons, und er ging zum Fernsehen, obwohl er die dort vorherrschenden Konventionen ablehnte«, schreibt Anna Kokenge in ihrem Kotulla-Essay. »Die ›Filmkritik‹ war seine Schule und wenngleich sie keine gute Einkommensquelle gewesen sein mag, so war sie für seine spätere Arbeit doch unbezahlbar.«12 Die Strenge der Filmkritik-Publizistik sah auch Ulrich Gregor in Kotullas bekanntestem Film – Aus einem deutschen Leben (1977) – fortwirken: In diesem Film porträtierte Götz George einen KZ-Kommandanten, der auf der historischen Person Rudolf Höß basierte. »Die Film war intelligent strukturiert und mit bressonhafter Strenge gemacht«, lobte Gregor. Die »manchmal gespenstische Kühle der Bilder, der ruhige Rhythmus der Dramaturgie unterstreichen die didaktisch-aufklärerische Wirkung des Films«, der eine methodischer Gegenentwurf zur US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust war.13 »Dass Kotulla seine Gegen-Geschichte als Kritiker der ›Kulturindustrie‹ stets im Massenmedium erzählte«, schreibt Kokenge, »mag widersinnig erscheinen, kann aber ebenso als die empfundene Verantwortung gedeutet werden, gerade dort ›gesellschaftlichen Sinn für Realität‹ mitzugestalten.«14
Diesen »gesellschaftlichen Sinn für Realität« lassen andere Beiträge des Bandes vermissen. So verliert sich Gary Vanisian in der Analyse von Ulrich Gregors Beiträgen unter dem Titel Film kritisch (die zwischen 1967 und 1970 unter der Regie von Michael Strauven im NDR und SFB entstanden) in detaillierten Analysen über die medienstrukturelle Repräsentation des Gesehenen und Gehörten, während die kritische Form verloren geht. Raunend wird ein Disput zwischen Gregor und dem Filmpublizisten Reinhold E. Thiel über das Projekt der »Freunde der Deutschen Kinemathek« in West-Berlin zur Sprache gebracht, ohne dass der Autor jegliche Hintergrundinformation liefert. Erst in einem späteren Artikel wird das Rätsel aufgelöst.15
Niedergang und Ende
In den 1970er und 1980er Jahren verlor die Zeitschrift – trotz Mitarbeiter wie Harun Farocki (1944–2014)16 – zunehmend an Bedeutung, da die Autoren der Zeitschrift sich für wichtiger nahmen als die kritische Analyse. Symptomatisch für diese Tendenz war Wolf-Eckart Bühler (1945–2020), der in den späten 1970er-Jahren Protagonisten des »anderen Amerikas« wie Leo T. Hurwitz, Abraham Polonsky, Irving Lerner und Sterling Hayden für sich entdeckte. Im Gegensatz zu anderen internationalen Zeitschriften wie Jump Cut, Film Quarterly, Sight & Sound, Cahiers du Cinéma oder Positif (die zur gleichen Zeit auf die linke Gegenkultur der 1930er und 1940er Jahre stießen17) blieben die Film-Essays Bühlers zumeist in der Verklärung der »roten Helden« der Vergangenheit stecken und betrieben eine »Ästhetisierung des Politischen«, in der politische Mythen in ein historisches Kontinuum eingegraben wurden, während die Konstruktion einer konkreten politischen Utopie außen vor blieb. In den späteren kritischen Abhandlungen über Hayden und Polonsky fanden sie keine Erwähnung.18 Im Gegensatz zu Kotulla und anderen »Medienarbeitern« des Betriebes wird Bühler (WEB) von dem Kultur-Feuilletonisten Alf Mayer19 zum Maquisard gegen den bürgerlichen Kulturbetrieb stilisiert, ohne dass er zu einer kritischen Selbstreflexion innerhalb des Betriebes fähig wäre. »Kracauers Ideologiekritik, auf die Patalas & Co sich gerne beriefen«, gibt das Betriebssprachrohr zum Besten, »ist für WEB bloße Agentin des Zeitgeistes, ›nicht des Geistes‹, ist überkommenes Instrument, rein retrospektiv, nicht nach vorne, in die neue Zeit gerichtet …«20 Diese intellektuelle Armseligkeit ließ auch die Filmkritik verdientermaßen auf der Müllhalde der Geschichte verenden. Oder mit Adorno gesprochen: »Der totale Zusammenhang der Kulturindustrie, der nichts ausläßt, ist eins mit der totalen gesellschaftlichen Verblendung.«21
© Jörg Auberg 2024
Bibliografische Angaben:
Rolf Aurich und Michael Wedel (Hg.).
Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien.
München: edition text + kritik, 2024.
290 Seiten, 29 Euro.
ISBN: 978–3‑96707–925‑8.
Bildquellen (Copyrights) |
|
Porträt Siegfried Kracauer |
Archiv des Autors |
Cover How German Is It |
© New Directions |
Cover Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien |
© edition text + kritik |
Cover Filmkritik |
Archiv des Autors |
Foto Wolf-Eckart Bühler und Abraham Polonsky |
© Edition Filmmuseum München |
Nachweise
- Siegfried Kracauer, »Über die Aufgabe des Filmkritikers« (1932), in: Kracauer, Werke, Bd. 6:3: Kleine Schriften zum Film, 1932–1961, hg. Inka Mülder-Bach (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004), S. 63 ↩
- Cf. Richard J. Evans, The Third Reich in Power, 1933–1939 (London: Penguin, 2006), S. 129–133; und Evans, Hitler’s People: The Faces of the Third Reich (London: Allen Lane, 2024), S. 177–178 ↩
- Theodor W. Adorno, »Kritik« (1969), in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩
- Adorno, »Kritik«, S. 791; Ulrich Sonnemann, »Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten: Deutsche Reflexionen(1963/85)«, in: Sonnemann, Schriften, Bd. 4, hg, Paul Fiebig (Springe: zu Klampen, 2014), S. 101–118 ↩
- Rolf Aurich und Michael Wedel, Einleitung zu: Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien, hg. Aurich und Wedel (München: edition text + kritik, 2024), S. 14; hiernach zitiert als FZM ↩
- Jörg Später, Adornos Erben: Eine Geschichte aus der Bundesrepublik (Berlin: Suhrkamp, 2024), S. 102 ↩
- Claudia Lenssen, »Lebensthema Kino und Publizistik: Enno Patalas und die Medien«, in: FZM, S. 16 ↩
- Axel Schildt, Medienintellektuelle in der Bundesrepublik, hg. Gabriele Kandzora und Detelef Siegfried (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 537 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 21; zur differenzierten Analyse von Adornos Verhältnis zum Kino cf. Miriam Bratu Hansen, »Introduction to Adorno, ›Transperencies on Film‹ (1966)«, New German Critique, Nr. 24–25 (Herbst-Winter 1981–82), S. 186–198 ↩
- Siehe Ulrich Gregors Vorwort zu: Geschichte des Films ab 1960 (Reinbek: Rowohlt, 1983), S. 9 ↩
- Rolf Aurich, »Der Publizist: Reinhold E. Thiel zwischen Filmkultur, Filmkritik und Medien«, FZM, S. 158 ↩
- Anna Kokenge, »Das Schreiben als Schule: Theodor W. Kotullas Weg von der Filmkritik zum Fernsehfilm«, FZM, S. 87 ↩
- Gregor, Geschichte des Films ab 1960, S. 149 ↩
- Kokenge, »Das Schreiben als Schule«, S. 88 ↩
- Gary Vanissian, »Medium des persönlichen Ausdrucks: Die Fernsehbeiträge von Ulrich Gregor«, FZM, S. 96; Aurich, »Der Publizist«, S. 158–159 ↩
- Cf. Volker Pantenburg, »Film-Praxis und Text-Praxis: Harun Farocki und die Filmkritik«, in: Harun Farocki, Schriften, Bd. 4, hg. Volker Pantenburg (Berlin: Neuer Berliner Kunstverein, 2019), S. 449–466 ↩
- Cf. Russell Campbell, »Film and Photo League: Radical Cinema in the 30s – Introduction«, Jump Cut, Nr. 14 (1977), S. 23–25, https://ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC14folder/FilmPhotoIntro.html; Max Pearl, »Cameras for Class Struggle«, Art in America, März-April 2021, https://www.artnews.com/art-in-america/features/cameras-for-class-struggle-workers-film-and-photo-league-1234590463/) ↩
- Cf. Philippe Garnier, Sterling Hayden – L’Irrégulier (Paris: La Rabbia, 2019); Paul Buhle und Dave Wagner, A Very Dangerous Citizen: Abraham Lincoln Polonsky and the Hollywood Left (Berkeley: University of California Press, 2001); Abraham Polonsky: Interviews, hg, Andrew Dickos (Jackson: University Press of Mississippi, 2013); Larry Ceplair und Steven Englund, The Inquisition in Hollywood: Politics in the Film Community, 1930–1960 (Berkeley: University of California Press, 1983); Jörg Auberg, »Aufrecht gehen: Abraham Polonsky, Hollywood und die Schwarze Liste«, TheaterZeitSchrift, Nr. 27 (Frühjahr 1989), S. 120–133 ↩
- Zur Selbstdarstellung cf. https://culturmag.de/author/alf-mayer ↩
- Alf Mayer, »›Dabeisein heißt gehorchen‹: Zum Werk von Wolf-Eckart Bühler«, FZM, S. 252 ↩
- Adorno, Minima Moralia, S. 275 ↩