Axel Schildt — Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik

A

Fatale Kontinuitäten

Über Axel Schildts Studie der »Medien-Intellektuellen« in der Bonner Republik

 

von Jörg Auberg

 

»Der Intel­lek­tu­el­le ist ein para­do­xes Wesen.«
Pierre Bour­dieu 1

Olym­pia SM9 Schreib­ma­schi­ne von 1967 

Im Som­mer 1974 erstand Paul Aus­ter nach sei­ner Rück­kehr aus Frank­reich in die USA von einem Freund eine gebrauch­te Olym­pia-Rei­se­schreib­ma­schi­ne, da sei­ne vor­he­ri­ge Her­mes-Maschi­ne die Rei­se nicht über­stan­den hat­te. Die Olym­pia war in West­deutsch­land her­ge­stellt wor­den, einem ver­schwun­de­nen Land (wie Aus­ter unter­strich). Die Bun­des­re­pu­blik ist unter­ge­gan­gen, doch das Relikt aus einer fer­nen Zeit über­leb­te das Ver­schwin­den. Die Alter­na­ti­ve wäre eine elek­tri­sche Schreib­ma­schi­ne gewe­sen, erin­ner­te sich Aus­ter, doch er moch­te den Lärm sol­cher Appa­ra­te nicht: das per­ma­nen­te Sum­men des Motors, das Brum­men und Ras­seln der losen Tei­le, den zap­peln­den Puls des Wech­sel­stroms, der unter den Fin­gern vibrier­te. »Ich zog die Stil­le mei­ner Olym­pia vor«.2

Wil­liam S. Bur­roughs: The Wri­ter and His Typewriter

Für den His­to­ri­ker Axel Schildt (1951–2019) war dage­gen die elek­tri­sche Schreib­ma­schi­ne »das tech­ni­sche Instru­ment des Struk­tur­wan­dels in den 1960er Jah­ren«, wie er in sei­ner groß ange­leg­ten, aber unvoll­endet geblie­be­nen Stu­die Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik schrieb: »Der Über­gang zur elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne in den 1960er Jah­ren beschleu­nig­te und erleich­ter­te […] den Her­stel­lungs­pro­zess von Manu­skrip­ten enorm.« In sei­ner Ein­schät­zung berief sich Schildt auf einen Brief des tech­nik­be­geis­ter­ten Hans Magnus Enzens­ber­ger, der zur Anschaf­fung von elek­tri­schen Schreib­ma­schi­nen aus Grün­den der Arbeits­er­leich­te­rung auf­rief. 3 Ob jedoch der mensch­li­che »Denk­ap­pa­rat« sich dem Tem­po und der Effi­zi­enz angleicht und »bes­se­re« Gedan­ken in redu­zier­ten »Denkt­ak­ten« unter dem Dik­tat der Tech­ni­fi­zie­rung pro­du­ziert, hat­te schon Theo­dor W. Ador­no 1945 in Abre­de gestellt. »Blei­stift und Radier­gum­mi nüt­zen dem Gedan­ken mehr als ein Stab von Assis­ten­ten«4, resü­mier­te er sei­ne ame­ri­ka­ni­sche Erfah­rung. Ihn ließ der Gedan­ke erschau­dern, dass der Geist – in den Pro­zes­sen der Tech­ni­fi­zie­rung und »Pro­fes­sio­na­li­sie­rung« – an vul­gä­re Geschäfts­in­ter­es­sen ver­scha­chert wurde.

Weder Ador­no noch Aus­ter reprä­sen­tie­ren mit ihren Vor­be­hal­ten gegen­über der Tech­ni­fi­zie­rung der intel­lek­tu­el­len Pra­xis die »Medi­en-Intel­lek­tu­el­len«, die Schildt ins Zen­trum sei­ner Stu­die rückt. In Abgren­zung zu Wis­sen­schaft­lern, poli­ti­schen Funk­tio­nä­ren, Künst­lern und Schrift­stel­lern, Orga­ni­sa­to­ren und Mana­gern oder Jour­na­lis­ten defi­nier­te Schildt die »Medi­en-Intel­lek­tu­el­len« als einen Berufs­stand, der Redak­tio­nen besetz­te, Zeit­schrif­ten grün­de­te, Bil­dungs­pro­gram­me der öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk­sen­der gestal­te­te oder Buch­rei­hen von Ver­la­gen wie Rowohlts deut­sche Enzy­klo­pä­die (rde) oder Edi­ti­on Suhr­kamp (es) redi­gier­ten. Ursprüng­lich als Intel­lek­tu­el­len-Geschich­te der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Medi­en von 1945 bis 1989 kon­zi­piert, konn­te Schildt sein lang­jäh­ri­ges Buch­pro­jekt auf­grund einer Krebs­er­kran­kung nicht voll­enden: Das Kapi­tel »Die Intel­lek­tu­el­len in der Spät­pha­se der alten Bun­des­re­pu­blik«, das die 1970er und 1980er Jah­re umfas­sen soll­te, kam über das Expo­sé-Sta­di­um nicht hin­aus, da die Krank­heit sei­ne Zeit weg­fraß. Die Ver­öf­fent­li­chung des Buches ver­dankt sich den bei­den Herausgeber:innen, Schildts lang­jäh­ri­ger Lebens­part­ne­rin Gabrie­le Kandz­o­ra und dem His­to­ri­ker Det­lef Sieg­fried, die das Manu­skript für die Ver­öf­fent­li­chung bear­bei­te­ten, als auch dem Wall­stein-Ver­lag, der trotz der sper­ri­gen, nicht unbe­dingt »markt­gän­gi­gen« Mate­rie die­ses Buch der kri­ti­schen Öffent­lich­keit zugäng­lich machte.

Auf Basis vie­ler Archiv­ma­te­ria­li­en wie Kor­re­spon­den­zen, Tage­bü­cher, Reden, Inter­views und Auto­bio­gra­fien sowie Publi­ka­tio­nen in Tages­zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten ana­ly­siert Schild die intel­lek­tu­el­le Pra­xis in den 1950er und 1960er Jah­ren, rekon­stru­iert minu­ti­ös intel­lek­tu­el­le Dis­kus­sio­nen und Ver­schrän­kun­gen in den Medi­en­ap­pa­ra­ten, legt zuwei­len befremd­li­che Durch­läs­sig­kei­ten zwi­schen »Links­in­tel­lek­tu­el­len« wie Alfred Andersch und rechts­na­tio­na­len und faschis­ti­schen Ange­stell­ten des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen »Geis­tes­be­trie­bes« (per­so­ni­fi­ziert durch Fried­rich Sieburg, Hans Egon Hol­thusen, Ernst Jün­ger und Armin Moh­ler) offen, die naht­los von der NS-Publi­zis­tik in den demo­kra­ti­schen Markt über­wech­sel­ten. Auch in Ver­la­gen wie Rowohlt, die schon vor 1933 ihr Geschäft für »Natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re« geöff­net hat­ten, setz­te sich der »deut­sche Geist« unter dem Deck­man­tel der Kul­tur fort und blieb Bar­ba­rei. »Der Gedan­ke«, notier­te Ador­no im Herbst 1944, »daß nach die­sem Krieg das Leben ›nor­mal‹ wei­ter­ge­hen oder gar die Kul­tur ›wie­der­auf­ge­baut‹ wer­den könn­te – als wäre nicht der Wie­der­auf­bau von Kul­tur allein schon deren Nega­ti­on –, ist idio­tisch. Mil­lio­nen Juden sind ermor­det wor­den, und das soll ein Zwi­schen­spiel sein und nicht die Kata­stro­phe selbst. Wor­auf war­tet die­se Kul­tur eigent­lich noch?«5 Aber trotz allem ging es wei­ter: Wäh­rend sich in »Tri­zo­ne­si­en« neue intel­lek­tu­el­le Zen­tren jen­seits der alten Reichs­haupt­stadt Ber­lin bil­de­ten und die wie­der­auf­ge­bau­ten Medi­en­ap­pa­ra­te in den Berei­chen Print und Radio sowohl »wen­de­fä­hi­ge« NS-Publi­zis­ten als auch lin­ke Autoren aus der prä­fa­schis­ti­schen Zeit wie Kurt Hil­ler oder Axel Egge­brecht inte­grier­ten, ver­such­te man in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne in einer Retro­ma­nie die alte Welt­büh­ne zu bele­ben, als hät­te es den Zivi­li­sa­ti­ons­bruch nie gegeben.

Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik (Wallstein, 2020)
Axel Schildt: Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik (Wall­stein, 2020)

Dank einer detail­lier­ten Beschrei­bung wer­den Wider­sprü­che und fata­le Kon­ti­nui­tä­ten deut­lich, etwa im unter­schwel­li­gen Anti­se­mi­tis­mus der Grup­pe 47 oder in den »Kol­la­bo­ra­tio­nen« von Links­in­tel­lek­tu­el­len wie den Produzent:innen und Autor:innen von Zeit­schrif­ten wie Frank­fur­ter Hef­te, Mer­kur oder Tex­te und Zei­chen, die im Mythos des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Wie­der­auf­baus als Leucht­tür­me der demo­kra­ti­schen Rekon­struk­ti­on gel­ten, mit Reprä­sen­tan­ten der rechts­na­tio­na­len oder völ­ki­schen Intel­lek­tu­el­len­zir­kel, wäh­rend Schildt mit sei­ner akri­bi­schen Archiv­re­cher­che belegt, dass es vie­len »Medi­en-Intel­lek­tu­el­len« weni­ger um die Eta­blie­rung von Frei­heit und Demo­kra­tie denn um die Beset­zung und Ver­tei­di­gung von Macht- und Kom­man­do­po­si­tio­nen ging. Zwar spricht Schildt auch von »intel­lek­tu­el­ler Grup­pen­bil­dung« oder von »Lob­by­is­ten in eige­ner Sache«6, doch dis­ku­tiert er an kei­ner Stel­le, inwie­weit die Pro­duk­ti­ons- und Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se in den Medi­en­ap­pa­ra­ten zu Racket-For­ma­tio­nen führ­ten, in denen die Zuge­hö­rig­keit zu kon­kur­rie­ren­den Rackets einen höhe­ren Stel­len­wert besaß als das Enga­ge­ment für Demo­kra­tie und Ega­li­tät. Damit wur­de der »Gegen­satz zwi­schen innen und außen« (wie Max Hork­hei­mer das Prin­zip der Herr­schaft beschrieb) his­to­risch fort­ge­führt. »Bis­her hat das Racket allen gesell­schaft­li­chen Erschei­nun­gen sei­nen Stem­pel auf­ge­prägt«, notier­te Hork­hei­mer in den 1940er Jah­ren, »es hat geherrscht als Racket des Kle­rus, des Hofs, der Besit­zen­den, der Ras­se, der Män­ner, der Erwach­se­nen, der Fami­lie, der Poli­zei, des Ver­bre­chens, und inner­halb die­ser Medi­en selbst in Ein­zel­ra­ckets gegen den Rest der Sphä­re.«7

Burroughs and the Typewriter
Wil­liam S. Bur­roughs: The Type­wri­ter Against the Writer

Da Schildt »Medi­en­ge­schich­te« pri­mär als »Intel­lek­tu­el­len­ge­schich­te« begriff, in der kon­ti­nu­ier­lich Ideen und Posi­tio­nen aus­ge­tauscht, dis­ku­tiert, hin­ter­fragt und kri­ti­siert wur­den, blie­ben poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Kom­po­nen­ten einer kri­ti­schen His­to­rio­gra­phie außen vor. Wäh­rend er sich eher mit dem Gegen­satz »Soli­tär« und »Netz­wer­ker« beschäf­tig­te oder (in der Nach­fol­ge Pierre Bour­dieus) das »medi­en­in­tel­lek­tu­el­le Feld« erforsch­te, ver­zich­te­te er sowohl auf eine medi­en- und tech­no­lo­gie­kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung als auch eine Ana­ly­se der poli­ti­schen, sozia­len und kul­tu­rel­len Bedin­gun­gen, unter denen Intel­lek­tu­el­le nicht als Indi­vi­du­en, son­dern als »tech­ni­sche Intel­li­genz« oder »neue Klas­se« (wie der Sozio­lo­ge Alvin W. Gould­ner sie klas­si­fi­zier­te) agier­ten.8 Sym­pto­ma­tisch ist schließ­lich auch, dass er die Ereig­nis­se um das Jahr 1968 im Schluss­teil sei­ner Stu­die auf eine »intellec­tu­al histo­ry« redu­zie­ren möch­te und mit einer kri­ti­schen Dis­kus­si­on des Buches Die Trans­for­ma­ti­on der Demo­kra­tie von Johan­nes Agno­li und Peter Brück­ner abbricht.

Mit die­ser Ver­en­gung auf eine »Intel­lek­tu­el­len­ge­schich­te« als Maß aller Din­ge depo­li­ti­siert Schildt his­to­ri­sche Pro­zes­se und blen­det nicht-intel­lek­tu­el­le Kul­tu­ren und Erfah­run­gen aus (wie sie bei­spiels­wei­se in der Under­ground­sze­ne oder in urba­nen Sub­kul­tu­ren jen­seits des poli­ti­schen Spek­trums zum Aus­druck kamen, das Schildt als rele­vant für die Bun­des­re­pu­blik erach­te­te).9 Doch trotz die­ser Ein­wän­de zeigt Schildts »Mikro-Geschich­te« der »Medi­en-Intel­lek­tu­el­len« in der Bon­ner Repu­blik eine »Struk­tur des his­to­ri­schen Uni­ver­sums« auf (wie Sieg­fried Kra­cau­er schrieb10), die in ihrer Detail­liert­heit und Viel­falt ver­mut­lich lan­ge ein­zig­ar­tig sein wird.

© Jörg Auberg 2021

Bibliografische Angaben:

Axel Schildt.
Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bundesrepublik.
Her­aus­ge­ge­ben und mit einem Nach­wort ver­se­hen von Gabrie­le Kandz­o­ra und Det­lef Siegfried.
Göt­tin­gen: Wall­stein Ver­lag, 2020.
896 Sei­ten, 46 Euro.
ISBN: 978–3‑8353–3774‑9.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Bild Olym­pia SM9 © Wiki­me­dia Commons
Cover Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bundesrepublik
© Wall­stein Verlag
Col­la­ge Wil­liam S. Burroughs
Archiv des Autors
Foto Wil­liam S. Burroughs
Archiv des Autors
 
 
 

Nachweise

  1. Pierre Bour­dieu, »Der Kor­po­ra­ti­vis­mus des Uni­ver­sel­len: Die Rol­le des Intel­lek­tu­el­len in der moder­nen Welt«, in: Bour­dieu, Die Intel­lek­tu­el­len und die Macht, hg. Ire­ne Döl­ling (Ham­burg: VSA Ver­lag, 1991), S. 41
  2. Paul Aus­ter, »The Sto­ry of my Type­wri­ter«, in: Aus­ter, Coll­ec­ted Pro­se (New York: Pica­dor, 2005), S. 291
  3. Axel Schildt, Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2020), S. 11
  4. Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 169
  5. Ador­no, Mini­ma Mora­lia, S. 65
  6. Schildt, Medi­en-Intel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik, S. 204, 466
  7. Max Hork­hei­mer, »Die Rackets und der Geist«, in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, hg. Gun­ze­lin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1985), S. 291
  8. Alvin W. Gould­ner, The Dialec­tic of Ideo­lo­gy and Tech­no­lo­gy: The Ori­g­ins, Grammar and Future of Ideo­lo­gy (Lon­don: Macmil­lan, 1976), S. 138–166; Alvin W. Gould­ner, Against Frag­men­ta­ti­on: The Ori­g­ins of Mar­xism and the Socio­lo­gy of Intellec­tu­als (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 1985), S. 39–41; Jörg Auberg, »Despe­ra­do Blues: Mar­gi­na­li­en über Intel­lek­tu­el­le«, Schwar­zer Faden, Nr. 31 (1989):41–46
  9. Sie­he bei­spiels­wei­se Hol­ger Jen­rich, Anar­chis­ti­sche Pres­se in Deutsch­land 1945–1985 (Gra­fen­au: Trotz­dem-Ver­lag, 1988), und Roman Dany­luk, Blues der Städ­te: Die Bewe­gung 2. Juni – eine sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­re Geschich­te (Boden­burg: Edi­ti­on AV, 2019)
  10. Sieg­fried Kra­cau­er, Geschich­te – Vor den letz­ten Din­gen, übers. Kars­ten Wit­te (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1973), S. 125–126

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