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Frankfurter Buchmesse 2025

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Es geht (vielleicht doch) um das Buch

Nachträgliche Miszellen zur Frankfurter Buchmesse 2025

In alten Über­lie­fe­run­gen erschei­nen die frü­he­ren Zei­ten der Frank­fur­ter Buch­mes­se oft gla­mou­rös, dra­ma­tisch und aben­teu­er­lich, als wäre die Jagd nach Lizen­zen und Buch­ver­trä­gen aus über­dreh­ten Screw­ball-Komö­di­en abge­kup­fert. In sei­nen Remi­nis­zen­zen an den legen­dä­ren Ver­le­ger Hein­rich Maria Ledig-Rowohlt berich­te­te Fritz J. Rad­datz, wie das Rin­gen um die deut­schen Rech­te am doku­men­ta­ri­schen Bericht über die Ermor­dung John F. Ken­ne­dys des US-His­to­ri­kers Wil­liam Man­ches­ter (der zu einem Best­sel­ler wer­den soll­te) zwi­schen den Ver­la­gen Rowohlt und Fischer wegen einer »Grip­pe« Ledig-Rowohlts (der ohn­mäch­tig unter dem Tele­fon in sei­nem Zim­mer im Grand­ho­tel »Hes­si­scher Hof« lag) zuguns­ten von Fischer aus­ging. »Auf der Mes­se«, resü­mier­te Rad­datz in sei­nen Erin­ne­run­gen, »haben immer alle die Grip­pe – das ist eine Krank­heit, die aus den Fol­gen von Auf­re­gung, zu viel Ziga­ret­ten, zu viel Reden, zu viel Alko­hol und zu wenig Schlaf besteht. Sie ist anste­ckend.«1

Der Buchhandel in der Krise

Mitt­ler­wei­le herrscht weit­aus weni­ger Auf­re­gung. Die Buch­han­dels­kri­se zeigt ihre Aus­wir­kun­gen: Nach­dem der Suhr­kamp-Ver­lag die tra­di­ti­ons­um­weh­te Unseld-Vil­la in der Frank­fur­ter Klet­ten­berg­stra­ße ver­hö­ker­te, kön­nen es sich Kritiker*innen beim Sekt­emp­fang nicht mehr auf dem Sofa bequem machen, auf dem schon Samu­el Beckett saß. »Kaum Par­tys gro­ßer Ver­la­ge, die Büfetts dürf­tig«, nör­gel­te ein Kri­ti­ker, wäh­rend es doch – wie die Kurt-Wolff-Stif­tung als Inter­es­sen­ver­tre­tung unab­hän­gi­ger deut­scher Ver­la­ge jedes Jahr unter­streicht – »um das Buch« gehen soll­te.2

Im Edi­to­ri­al des Kata­logs der Stif­tung wird die Bedeu­tung des gedruck­ten Buches in einem Zeit­al­ter der »elek­tri­schen Implo­si­on« und »tech­no­lo­gi­schen Aus­deh­nung« (wie es Mar­shall McLuhan in 1960er-Jah­ren aus­drück­te3) noch ein­mal hervorgehoben: 

»In einer Welt, in der die sozia­len Medi­en und das Inter­net zuneh­mend von Algo­rith­men und KI geprägt sind, laden Bücher ein zur dif­fe­ren­zier­ten und reflek­tier­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit The­men und kon­tro­ver­sen Mei­nun­gen. Bücher ent­füh­ren in frem­de Wel­ten, ermög­li­chen das Begrei­fen unbe­kann­ter Sach­ver­hal­te, sor­gen für Unter­hal­tung und Span­nung. Immer wie­der über­rascht die Bücher­welt in ihrer uner­schöpf­li­chen Gen­re-Viel­falt – von Pro­sa über Essay, Lyrik, Kri­mi, Thea­ter­stück, Gra­phic Novel bis zu Sach- und Kin­der­buch – mit krea­ti­ven Ideen, Inhal­ten und For­ma­ten4

Auch wenn Kri­ti­ker mit Blick »auf all­ge­gen­wär­ti­ge Ess­stän­de, Tom­bo­las und Insta­gram-taug­li­che Foto­wän­de« die »Even­ti­sie­rung« der Buch­mes­se bemän­gel­ten5, erklär­te die uner­schüt­ter­li­che Mes­se­lei­tung im Rah­men ihres abschlie­ßen­den Hee­res­be­richts, dass es im Wes­ten außer Erfol­ge nichts Neu­es zu ver­mel­den gebe. Mit den Wor­ten des Buch­mes­sen­di­rek­tors Juer­gen Boos: 

»Wir schau­en zurück auf fünf erfolg­rei­che und inten­si­ve Tage. Die Frank­fur­ter Buch­mes­se bleibt auf Wachs­tums­kurs. Wir haben erneut mehr Besu­che­rin­nen und mehr Aus­stel­ler als im Vor­jahr. Unse­re Stär­ke ist, dass in Frank­furt Buch­pro­fis und Lite­ra­tur­lieb­ha­ber aus aller Welt zusam­men­kom­men. Wir ver­ei­nen Markt­platz und Fes­ti­val der Lite­ra­tur.«6

KI als Bedrohung und Utopie

Auf dem Jahr­markt der Eitel­kei­ten und fort­schrei­ten­den »Kapi­ta­li­sie­rung des Geis­tes«7 (um einen Begriff Georg Lukács’ zu ver­wen­den) domi­nier­te das tech­no­lo­gi­sche The­ma der »Künst­li­chen Intel­li­genz« (KI), wobei das Spek­trum von Bedro­hung und Abwehr, Skep­sis und wohl­wol­len­der Neu­gier bis zu Eupho­rie und uto­pi­scher Schwär­me­rei reichte. 

In einem Vor­trag über die Ent­wick­lung der »künst­li­chen Intel­li­genz« im Publi­shing-Bereich lote­te Stef­fen Mei­er, Her­aus­ge­ber des Online-Por­tals Digi­tal Publi­shing Report, Rea­li­tä­ten und Mög­lich­kei­ten des KI-Ein­sat­zes im Ver­lags­we­sen aus, wobei die Argu­men­ta­ti­on etwas an Hans Magnus Enzens­ber­gers Medi­en­theo­rie der 1970er-Jah­re erin­ner­te: Statt im »Schwan­ken zwi­schen Angst und Ver­fal­len­heit« schließ­lich zu erstar­ren, soll­ten Beschäf­tig­te im Ver­lags­we­sen die neue »mobi­li­sie­ren­de Kraft« der KI für sich und ihre Arbeits- und Pro­zess­ge­stal­tung nut­zen.8

Wäh­rend Mei­er den KI-Sprach­mo­del­len die Fähig­keit zu »ech­ter krea­ti­ver Intel­li­genz« abspricht, ist Nadim Sadek – Grün­der des Unter­neh­mens »Shimmr AI«, das auf auto­ma­ti­sier­te Wer­bung für Buch­ver­la­ge und Musik-Labels spe­zia­li­siert ist und KI-betrie­be­nes Mar­ke­ting für »ver­nach­läs­sig­te« Titel betreibt – weit­aus eupho­ri­scher über den KI-Ein­satz im Publi­shing-Bereich. Die Grund­the­se sei­nes Buches Qui­ver, don’t Qua­ke ist, dass »künst­li­che Intel­li­genz« ein Instru­ment zur Eman­zi­pa­ti­on mensch­li­cher Krea­ti­vi­tät sei. Es gäbe acht Mil­li­ar­den Men­schen auf der Erde, und davon habe die Mehr­heit nie­mals die Mög­lich­keit gehabt, ihre Krea­ti­vi­tät aus­zu­drü­cken, obwohl jeder ein­zel­ne Mensch eine krea­ti­ve Vor­stel­lung, eine Erkennt­nis, einen Traum besit­ze. Zu die­sem schöp­fe­ri­schen Aus­druck befä­hi­ge sie die »künst­li­che Intel­li­genz« als »Part­ner« einer »kol­la­bo­ra­ti­ven Krea­ti­vi­tät«.9

Vie­les in die­ser eupho­ri­schen, wenn nicht hys­te­ri­schen Pro­pa­gan­da für die »künst­li­che Intel­li­genz« erin­nert an die Begeis­te­rung für die Indienst­nah­me der Tech­nik für eine schein­ba­re pro­gres­si­ve Fort­ent­wick­lung der Mensch­heit, etwa die glo­ba­le Elek­tri­fi­zie­rung oder die Besei­ti­gung der Käl­te. Die Uto­pie war bei­spiels­wei­se ein »Sibi­ri­en ohne Eis«10. Als »Kon­sum­psy­cho­lo­ge« erscheint Sadek wie ein kapi­ta­lis­ti­scher Wie­der­gän­ger Leo Trotz­kis, der 1923 über die »psy­chisch-phy­si­sche Selbst­er­zie­hung« des Men­schen »bis zur höchs­ten Leis­tungs­fä­hig­keit« schwa­dro­nier­te. Das Ziel war: »Der durch­schnitt­li­che Mensch wird sich bis zum Niveau eines Aris­to­te­les, Goe­the oder Marx erhe­ben.«11

Bezeich­nen­der­wei­se fokus­sier­te sich die Dis­kus­si­on über die »künst­li­che Intel­li­genz« auf die Aus­wir­kun­gen in der Pro­duk­ti­on und Pro­zess­ge­stal­tung im Publi­shing-Bereich oder auf die Fra­ge, in wel­chem Maße KI-pro­du­zier­te Tex­te die »Buch­han­dels­welt« ver­än­dern oder wor­in die Ver­än­de­rung der Pro­fi­tra­te besteht. Kaum ein Blick wur­de auf die »Para­do­xien des Fort­schritts«, die öko­lo­gi­schen, ethi­schen und mora­li­schen Kos­ten der »Tech­no­lo­gi­sie­rung des Geis­tes« ver­wen­det.12 Die »schö­ne, neue Welt« der KI – als Modell eines digi­ta­len Post-For­dis­mus – rekur­riert auf die »uni­ver­sa­le Welt­ener­gie«, die Andrej Pla­to­nov in 1920er-Jah­ren beschwo­ren hat­te: »Die Elek­tri­fi­zie­rung ist der Anfang der mensch­li­chen Befrei­ung vom Joch der Mate­rie, vom Kampf gegen die Natur um die Ver­än­de­run­gen ihrer For­men: von den schäd­li­chen und unbrauch­ba­ren zu den nütz­li­chen und schö­nen.«13

Die Kos­ten der Elek­tri­fi­zie­rung, die Pla­to­nov in den 1920er-Jah­ren für die jun­ge Sowjet­uni­on vor­schweb­ten, sind – selbst in den Fan­ta­sien für die Abschaf­fung der Käl­te in Sibi­ri­en – »Pea­nuts« im Ver­gleich zu den Sum­men, wel­che Hi-Tech-Fir­men wie Nvi­dia, Ope­nAI, Micro­soft, Goog­le und ande­re für die Ent­wick­lung und den Betrieb von hoch­leis­tungs­fä­hi­gen Daten­zen­tren auf­wen­den. Ein ein­zel­nes Daten­zen­trum ver­wen­det so viel Strom wie eine US-ame­ri­ka­ni­sche Groß­stadt wie Phil­adel­phia, und der Ver­brauch wird stei­gen, je mehr die alte Gene­ra­ti­on der Inter­net-Werk­zeu­ge wie Goog­le und Bing ihre jün­ge­re Kund­schaft an die KI-Brow­ser wie ChatGPT oder Per­ple­xi­ty/Comet ver­lie­ren wird.14

Wie bereits Mur­ray Book­chin in den 1960er-Jah­ren unter­strich, muss in der Ver­wen­dung neu­er Tech­no­lo­gien – sol­len sie zur Eman­zi­pa­ti­on von stumpf­sin­ni­gen Pro­zes­sen in der Lebens- und Arbeits­ge­stal­tung ein­ge­setzt wer­den (die sowohl Stef­fen Mei­er als auch Nadim Sedeck pro­pa­gie­ren) – die­ser Ein­satz in einem »syn­the­ti­schen Envi­ron­ment« öko­lo­gisch aus­ba­lan­ciert sein: Allein die »Mach­bar­keit« der Pra­xis »künst­li­cher Intel­li­genz« recht­fer­tigt kei­ne »tech­no­lo­gi­sche Ratio­na­li­tät« ver­selbst­stän­dig­ter Appa­ra­te in Sys­te­men der Herr­schaft, Anpas­sung und Will­fäh­rig­keit, wie sie Her­bert Mar­cu­se zu Beginn der 1940er-Jah­re beschrieb.15

Der bibliophile Heiligenschein

Sympto­ma­tisch ist die Abwe­sen­heit von Medi­en- und Tech­no­lo­gie­kom­pe­tenz vor allem in der 50+-Generation (wie noch ein­mal die »Ham­bur­ger Woche der Pres­se­frei­heit 2025« unter­strich16) prä­sent. Gegen die Her­aus­for­de­run­gen der »künst­li­chen Intel­li­genz« wer­den alte Vor­ur­tei­le gegen die Gefah­ren neu­er Ent­wick­lun­gen mobi­li­siert, die der Sozio­lo­ge Oli­ver Nachtwey vor Jah­ren unter dem Begriff »melan­cho­li­sche Retro­nor­ma­ti­vi­tät« rubri­zier­te.17

Ana­log dazu ist die Sen­ti­men­ta­li­tät über das gedruck­te Buch auf der Buch­mes­se in Form von Mer­chan­di­sing oder Ver­an­stal­tun­gen per­ma­nent prä­sent. Ähn­lich wie beim Hype um den »tech­no­lo­gi­schen Impe­ria­lis­mus« der E‑Books vor Jah­ren auf Ver­an­stal­tun­gen und Prä­sen­ta­tio­nen der Frank­fur­ter Buch­mes­se ani­miert die Omni­prä­senz der KI-Tech­no­lo­gie Veranstalter*innen, Verleger*innen und Buchhändler*innen zu sakra­len Mes­sen zum »Blei­be­recht der Bücher«18 (über das Jurek Becker in einer sei­ner Frank­fur­ter Vor­le­sun­gen aus dem Jah­re 1989 mit fei­ner Iro­nie doziert hat­te). In sei­nem Vor­trag erzähl­te Becker von einem Freund, der sei­ne »Biblio­thek« in Kar­tons ver­staut und in den Kel­ler gebracht hät­te. Wäh­rend Becker sich über »die ver­schwun­de­ne Bücher­pracht« ent­täuscht zeig­te, insis­tier­te der Freund, dass es Zeit sei, »Bücher von dem Hei­li­gen­schein zu befrei­en, den sie in den Augen man­cher Leu­te hät­ten«. Der »Idio­ti­sie­rungs­pro­zess« (Lukács bezeich­ne­te es als »Zur-Ware-Wer­den der Lite­ra­tur«19 im Zeit­al­ter von Bal­zac) habe die Lite­ra­tur und ihr Medi­um – das Buch – ent­zau­bert. »Eine zuneh­mend debi­li­sier­te Gesell­schaft erzwin­ge eine zuneh­mend debi­li­sier­te Lite­ra­tur, nicht umge­kehrt«, lau­tet das Resü­mee des Freun­des.20

Wäh­rend die Buch­mes­se weni­ger der Erkun­dungs­ort für »Lite­ra­tur­lieb­ha­ber« denn für »Buch­pro­fis« ist und zuvör­derst sich über Berei­che wie »New Adult«, Comics, Audio­books und Event-Kul­tur mit Pro­mi­nen­ten-Zir­kus auf blau­en und roten Sofas defi­niert, bleibt für den wider­stän­di­gen Besu­cher nur das Resis­tance-Pro­gramm, das László Kraszn­ahor­kai (mit der Unter­stüt­zung von Her­man Mel­ville und Mal­colm Lowry) vor dem »Ein­tritt in den Wahn der ande­ren« for­mu­lier­te, u. a. »Resist wha­te­ver seems ine­vi­ta­ble«.21 Die Buch­mes­se ist ein Spek­ta­kel, das die Ware »Buch«, »auch wenn die Ein­bän­de vor Häß­lich­keit schrill­ten«22 (wie es bei Becker heißt), unter gro­ßem Brim­bo­ri­um aus­stellt, wäh­rend die meis­ten Exem­pla­re bereits weni­ge Wochen spä­ter als Remit­ten­den enden. Letzt­lich ist das Buch weni­ger – wie von Apologet*innen der Buch­in­dus­trie behaup­tet – ein »Kul­tur­gut«, son­dern vor allem ein »Spe­ku­la­ti­ons­ob­jekt des Lite­ra­tur-Kapi­ta­lis­mus«23, wie Lukács unterstrich.

Das Leiden am Buch

I n sei­nen Glos­sen »Biblio­gra­phi­sche Gril­len« kon­sta­tier­te Theo­dor W. Ador­no: »Ohne die schwer­mü­ti­ge Erfah­rung der Bücher von außen wäre kei­ne Bezie­hung zu ihnen, kein Sam­meln, schon gar nicht die Anla­ge einer Biblio­thek mög­lich.«24 Die Erfah­rung, die Bücher ver­mit­teln, nivel­liert die Buch­mes­se in ihrer Zur­schau­stel­lung der Bücher, wie sie ekla­tant in der Show »Stif­tung Buch­kunst« zum Aus­druck kommt (die auch als »Her­bert­stra­ße des Buch­kunst­hand­wer­kes« in Minia­tur­form ver­kauft wer­den könn­te). Bei Kraszn­ahor­kai heißt es: »Die Rea­li­tät ist kein Hin­der­nis.«25 Das Direk­to­ri­um kennt nur die Gegen­wart des Pro­fits, muss aber einen abge­schot­te­ten Bereich bie­ten, in dem die Erin­ne­rung an bes­se­re Zei­ten auf­recht­erhal­ten wird. Dar­in soll das Unbe­schä­dig­te der Biblio­phi­len kon­ser­viert wer­den. Für Boos & Com­pa­ny ist alles nur Ver­kauf; das Wesen des Buches haben sie jedoch nie begrif­fen. »Leid ist ist die wah­re Schön­heit an den Büchern; ohne es wird sie zur blo­ßen Ver­an­stal­tung kor­rum­piert.«26

In der »ande­ren« Geschich­te des Bör­sen­ver­eins sucht man aller­dings eine kri­ti­sche Geschichts­auf­ar­bei­tung ver­ge­bens. Die Fusio­nie­rung von Lite­ra­tur­kri­tik und Mar­ke­ting wird eben­so beju­belt wie die Toli­no-Alli­anz gegen die Ama­zon-Kind­le-Über­macht (wäh­rend unab­hän­gi­ge Lösun­gen wie die E‑Book-Rea­der von InkPad und ande­ren Her­stel­lern kei­ne Erwäh­nung fin­den). Selbst eine kri­ti­sche Auf­ar­bei­tung der Öff­nung der Frank­fur­ter Buch­mes­se für rechts­extre­me Ver­la­ge im Jah­re 2017 fin­det in die­ser »ande­ren Geschich­te« nicht statt: Lin­ke und Rech­te sind in die­ser His­to­rio­gra­fie Pole des glei­chen bös­ar­ti­gen Extre­mis­mus. »Am Ende kann man sagen, dass alle gemein­sam auf Kos­ten der Mes­se ihre Publi­ci­ty bekom­men haben.«27 Unter­schla­gen wird bei die­sem »Bericht«, dass Achim Berg­mann (1943–2018), der damals 74-jäh­ri­ge Ver­le­ger des lin­ken Tri­kont-Ver­lags, von einem neo­fa­schis­ti­schen Schlä­ger ver­prü­gelt wur­de, ohne dass die Mes­se­lei­tung oder die Pha­lanx patrouil­lie­ren­der Secu­ri­ty-Kräf­te ein­schritt.28

Das Sterben der Buchhändler

Anläss­lich des hun­dert­jäh­ri­gen Bestehens des »Bör­sen­ver­eins der Deut­schen Buch­händ­ler« hielt Tho­mas Mann am 8. Novem­ber 1925 eine Anspra­che zur Eröff­nung der Mün­che­ner Buch­wo­che, in der er sich gegen die Idee des Füh­rer­tums und für eine Euro­päi­sie­rung des »Buch­we­sens« posi­tio­nier­te. »Das Leben als Geist, als Wort und Gebil­de muß dem mate­ri­el­len, dem soge­nann­ten ›wirk­li­chen‹ Leben vor­an­ge­hen, damit es sich zum Bes­se­ren und Guten gestal­te«, insis­tier­te Mann. »Wie soll­te aus sol­cher Ein­sicht der Mitt­ler des Geis­tes, der Buch­händ­ler, nicht jenes beruf­li­che Pathos zie­hen, von dem ich sprach, und jenen Glau­ben, der sei­nen Buch­fes­ten, die­sen sei­nen wer­ben­den Ver­an­stal­tun­gen zugrun­de liegt!«29

In der Herr­schafts­zeit des Nazis­mus erwies sich der Bör­sen­ver­ein – mit einem Wort Her­mann Kurz­kes – als »hit­ler­gläu­big«, danach als »pro­fit­hö­rig«. Nahe­zu unkri­tisch fei­ert die »ande­re Geschich­te des Bör­sen­ver­eins« Groß­flä­chen­buch­hand­lun­gen wie die 1979 in Mün­chen eröff­ne­te Buch­hand­lung Hugen­du­bel mit »groß­zü­gig bemes­se­nen Prä­sen­ta­ti­ons­flä­chen« sowie »Sitz­ecken oder Lese­inseln« als »Buch­tem­pel«. Von Buchhändler*innen als »Mitt­ler des Geis­tes«, vom »beruf­li­chen Pathos« blieb in die­ser mons­trö­sen Archi­tek­tur der Zur­schau­stel­lung der Ware wenig übrig. Die Unter­neh­men waren nicht – trotz übli­cher Mar­ke­ting-Losun­gen – an Lese­rin­nen, son­dern an Konsument*innen und Käufer*innen inter­es­siert. »Die Kun­den soll­ten ent­spannt ver­wei­len kön­nen, sie soll­ten natür­lich aber auch kau­fen«, heißt in der »ande­ren Geschich­te des Bör­sen­ver­eins«. Schließ­lich muss­ten »die mit die­sen gro­ßen Ein­zel­han­dels­flä­chen ver­bun­de­nen hohen Kos­ten« durch »ent­spre­chend hohe Umsät­ze wie­der ein­ge­spielt wer­den«.30

Auf die­sem Bücher­um­schlags­platz sind Buchhändler*innen rea­li­ter auf den Ange­stell­ten­mo­dus ohne jeg­li­ches »beruf­li­ches Pathos« her­un­ter­ge­bro­chen, die – wie Sieg­fried Kra­cau­er bereits über die Ange­stell­ten­kul­tur der Wei­ma­rer Repu­blik schrieb – »unun­ter­bro­chen bana­le Funk­tio­nen« aus­üben und in eine »Aura des Grau­ens« gehüllt sind: »Sie strömt von den ver­wes­ten Kräf­ten aus, die inner­halb der bestehen­den Ord­nung kei­nen Aus­weg gefun­den haben.«31 Die Erin­ne­run­gen Geor­ge Orwells an sei­ne Zeit als Ange­stell­ter in einer Buch­hand­lung sind eher ernüch­ternd. Mas­sen von fünf- bis zehn­tau­send Büchern stie­ßen ihn eher ab. »Der süße Geruch von ver­rot­ten­dem Papier spricht mich nicht mehr an«, lau­te­te sein Resü­mee. »Er ist in mei­nem Geist zu eng mit para­no­iden Kun­den und toten Schmeiß­flie­gen ver­bun­den.«32

Archive des Widerspruchs

Um die­se Mis­zel­len nicht dem alten Wer­ner-Enke-Spruch »Das wird böse enden«33 zu beschlie­ßen, sei noch auf eine der weni­gen ver­blie­be­nen lin­ken Buch­hand­lun­gen in der Bun­des­re­pu­blik ver­wie­sen: Im letz­ten Jahr leg­te die Buch­hand­lung »Bücher­kis­te« in Sie­gen eine Doku­men­ta­ti­on ihrer fünf­zig­jäh­ri­gen Pra­xis in Form einer »poli­tisch-lite­ra­ri­schen Inven­tur« vor, wobei sie sich nicht allein auf nost­al­gi­sche Rück­bli­cke ihrer Mitarbeiter*innen beschränk­te, son­dern in der Tra­di­ti­on der längst ver­bli­che­nen Zeit­schrift Frei­beu­ter auch den »Blick zurück nach vorn« wag­te. Die Doku­men­ta­ti­on ent­hält auch einen Text zur Zukunft der »Bücher­kis­te«, der von dem KI-Tool ChatGPT erstellt wur­de. Ich habe den Anfra­ge­text vari­iert und an das KI-Tool Per­ple­xi­ty wei­ter­ge­lei­tet. Grund­la­ge war fol­gen­den­der Prompt: »Schrei­be bit­te einen län­ge­ren Blog-Text über die ›Bücher­kis­te‹ als eine Oase der lin­ken Dis­kus­si­on in einer mög­li­chen Zukunft in einem poli­tisch auf­ge­la­de­nen Deutsch­land im jour­na­lis­ti­schen Stil von Geor­ge Orwell34


Das Ergeb­nis war die­ser Text:

Die Bücherkiste – Archiv des Widerspruchs

Der Begriff »Archiv des Wider­spruchs« hät­te mög­li­cher­wei­se dem Buch­la­den-Ver­äch­ter Geor­ge Orwell gefallen.

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Bibliographische Angaben:

Chris­ti­ne Haug und Ste­pha­nie Jacobs (Hgg.).
Zwi­schen Zei­len und Zei­ten: Buch­han­del und Ver­la­ge 1825–2025.
Eine ande­re Geschich­te des Bör­sen­ver­eins.

Göt­tin­gen: Wall­stein, ²2025.
568 Sei­ten, 36 Euro.
ISBN: 978–3‑8353–5847‑8.

Ben­ja­min Bäu­mer et al.
Bücher­kis­te: Eine poli­tisch-lite­ra­ri­sche Inven­tur, 1974–2024.
Sie­gen: o. V., 2024.
224 Sei­ten, 25 Euro.
ISBN: 978–3‑00–079906‑8.

Nadim Sedek.
Qui­ver, don’t Qua­ke: How Crea­ti­vi­ty Can Embrace AI.
Lon­don: Mensch Publi­shing, 2025.
197 Sei­ten, 20 £.
ISBN: 978–1‑912914–89‑0.

Bilder-Copyrights

© Die Bild­rech­te lie­gen bei: Kurt-Wolff-Stif­tung (Leip­zig), S. Fischer (Frankfurt/Main), Wall­stein (Göt­tin­gen), Mensch Publi­shing (Lon­don), Bücher­kis­te (Sie­gen) sowie Jörg Auberg.

Nachweise

  1. Fritz J. Rad­datz, Jah­re mit Ledig: Eine Erin­ne­rung (Rein­bek: Rowohlt, 2015), ePub-Ver­si­on, S. 30
  2. Dirk Knipp­hals, »Suhr­kamp-Emp­fang auf der Buch­mes­se: Das Unglück zurück­schla­gen«, taz, 19.10.2025, https://taz.de/Suhrkamp-Empfang-auf-der-Buchmesse/!6120181/
  3. Mar­shall McLuhan, Under­stan­ding Media: The Exten­si­ons of Man (Ber­ke­ley: Gink­go Press, 2013), ePub-Ver­si­on, S. 8
  4. Kurt-Wolff-Stif­tung, Edi­to­ri­al zu: Es geht um das Buch: Kata­log der unab­hän­gi­gen Ver­la­ge 2025/26 (Leip­zig: o. V., 2025), ohne Pagi­nie­rung
  5. »Zwi­schen Jahr­markt und Bücher­schau: Die Frank­fur­ter Buch­mes­se 2025«, SWR, 19.10.2025, https://www.swr.de/kultur/literatur/frankfurter-buchmesse-2025-kein-groesseres-messe-podium-ohne-ki-debatte-100.html
  6. Pres­se­mit­tei­lung der FBM, 19.10.2025, »Frank­fur­ter Buch­mes­se wächst – und ver­bin­det die Welt der Lite­ra­tur«, https://www.buchmesse.de/presse/pressemitteilungen/2025–10-19-frankfurter-buchmesse-waechst-und-verbindet-die-welt-der
  7. Georg Lukács, Der his­to­ri­sche Roman (Neu­wied: Luch­ter­hand, 1965), S. 474
  8. Cf. Hans Magnus Enzens­ber­ger, Pala­ver: Poli­ti­sche Über­le­gun­gen (1967–1973) (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1974), S. 92
  9. Nadim Sadek, Qui­ver, don’t Qua­ke: How Crea­ti­vi­ty Can Embrace AI (Lon­don: Mensch Publi­shing, 2025), S. vii, 210
  10. Andrej Pla­to­nov, Frü­he Schrif­ten zur Pro­le­ta­ri­sie­rung 1919–1927, hg. Kon­stan­tin Kamin­ski und Roman Wid­der, übers. Maria Rajer (Wien: Turia + Kant, 2019), S. 176
  11. Leo Trotz­ki, »Lite­ra­tur und Revo­lu­ti­on«, in: Trotz­ki, Denk­zet­tel: Poli­ti­sche Erfah­run­gen im Zeit­al­ter der per­ma­nen­ten Revo­lu­ti­on, hg. Iss­ac Deut­scher et al., übers. Har­ry Maòr (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 372–373
  12. Cf. Mur­ray Book­chin, The Phi­lo­so­phy of Social Eco­lo­gy: Essays on Dialec­tal Natu­ra­lism (Chi­co, CA: AK Press, 2022), S. 69; und Isa­bel Far­go Cole, Das Zen­on­zän: Para­do­xien des Fort­schritts (Ham­burg: Edi­ti­on Nau­ti­lus, 2025), S. 141–159
  13. Andrej Pla­to­nov, Dshan oder Die ers­te sozia­lis­ti­sche Tra­gö­die, hg. und übers. Micha­el Leetz (Ber­lin: Quin­tus, 2019), S. 174; Pla­to­nov, Frü­he Schrif­ten zur Pro­le­ta­ri­sie­rung 1919–1927, S. 138)
  14. Ste­phen Witt, »Insi­de the Data Cen­ters That Train A.I. and Drain the Elec­tri­cal Grid«, New Yor­ker, 27. Okto­ber 2025, https://www.newyorker.com/magazine/2025/11/03/inside-the-data-centers-that-train-ai-and-drain-the-electrical-grid
  15. Mur­ray Book­chin (als »Lewis Her­ber«), Our Syn­the­tic Envi­ron­ment (1962; rpt. East­ford, CT: Mar­ti­no Fine Books, 2018); Book­chin, »Towards a Libera­to­ry Tech­no­lo­gy« (1965), in: Book­chin, Post-Scar­ci­ty Anar­chism (Oak­land, CA: AK Press, 2004), S. 63–64; Her­bert Mar­cu­se, »Eini­ge gesell­schaft­li­chen Fol­gen moder­ner Tech­no­lo­gie« (1941), in: Mar­cu­se, Schrif­ten, Bd. 3 (Sprin­ge: zu Klam­pen, 2004), S. 290–293
  16. https://www.ndr.de/hamburger-woche-der-pressefreiheit-gemeinsam-gegen-gezielte-desinformation,pressefreiheit-206.html
  17. Oli­ver Nachtwey, Die Abstiegs­ge­sell­schaft: Über das Auf­be­geh­ren in der regres­si­ven Moder­ne (Ber­lin: Suhr­kamp, 2016), S. 17
  18. Jurek Becker, Ende des Grö­ßen­wahns (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1996), S. 85–107
  19. Lukács, Der his­to­ri­sche Roman, S. 474
  20. Becker, Ende des Grö­ßen­wahns, S. 100
  21. László Kraszn­ahor­kai, Im Wahn der Ande­ren, übers. Hei­ke Flem­ming (Frankfurt/Main: Fischer, ²2025), S. 139
  22. Becker, Ende des Grö­ßen­wahns, S. 87
  23. Lukács, Der his­to­ri­sche Roman, S. 474
  24. Theo­dor W. Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 355
  25. Kraszn­ahor­kai, Im Wahn der Ande­ren, S. 53
  26. Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, S. 356
  27. Mat­thi­as Ulmer, »Kra­wal­le auf der Mes­se«, in: Zwi­schen Zei­len und Zei­ten: Buch­han­del und Ver­la­ge 1825–2025: Eine ande­re Geschich­te des Bör­sen­ver­eins, hg. Chris­ti­ne Haug und Ste­pha­nie Jacobs (Göt­tin­gen: Wall­stein, ²2025), S. 523
  28. Cf. https://moleskinblues.net/2017/10/23/frankfurter-buchmesse-2017/
  29. Tho­mas Mann, »Das deut­sche Buch«, in: Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Her­mann Kurz­ke, GFKA, Bd. 15.1 (Frankfurt/Main: Fischer, 2002), S. 1051; und Kom­men­tar, GFKA, Bd. 15.2, S. 733; sie­he auch Cor­ne­li­us Poll­mer, »Toter Mann über Bord«, in: Zwi­schen Zei­len und Zei­ten, S. 219–220
  30. Ernst-Peter Bie­sal­ski, »Der Buch­tem­pel«, in: Zwi­schen Zei­len und Zei­ten, S. 450–451
  31. Sieg­fried Kra­cau­er, Die Ange­stell­ten (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1971), S. 68
  32. Geor­ge Orwell, Essays (Lon­don: Pen­gu­in, 1994), S. 29
  33. Der deut­sche Film, Bd. 7, 1960–1969, hg. Rai­ner Rother et al. (Ber­lin: Hat­je Cantz Ver­lag, 2024), S. 68
  34. Kon­stan­tin Aal, »Die ›Bücher­kis­te‹ Oase des lin­ken Dis­kur­ses im poli­tisch auf­ge­la­de­nen Deutsch­land von 2073«, in: Bücher­kis­te: Eine poli­tisch-lite­ra­ri­sche Inven­tur, 1974–2024, hg. Ben­ja­min Bäu­mer et al. (Sie­gen: o. V., 2024), S. 210

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Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher