In einer Welt der ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen
George Orwells Reportagen aus deutschen Ruinenlandschaften
In seinem letzten »Brief aus London«, den er im Sommer 1945 an die Redaktion der New Yorker Zeitschrift Partisan Review schrieb, verlieh George Orwell seiner Verwunderung Ausdruck, dass in den zurückliegenden Jahren die ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen – »Säuberungen, Deportationen, Massaker, Hungersnöte, Einkerkerung ohne Gerichtsverfahren, Angriffskriege, gebrochene Verträge« – weder die Öffentlichkeit erregten noch einen Niederschlag in der Diskussion fanden, wenn sie nicht dem jeweiligen politischen Zeitgeist willfahrten. Orwell echauffierte sich über die fehlende Empörung über »Dachau, Buchenwald etc.«, doch in den Reportagen aus dem Frühjahr 1945, die nun in dem schmalen Band Reise durch Ruinen erstmals auf deutsch erscheinen, fehlt auch bei Orwell der Hinweis auf die Extermination der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. 1945 war Buchenwald die Synekdoche für die Extermination durch die Nazis, eine Metapher für die Übel des 20. Jahrhunderts, ehe später Auschwitz zum Synonym für das kaum begreifbare Grauen wurde.
In den journalistischen Texten, die in der liberalen Tageszeitung Observer und in der sozialistischen Zeitschrift Tribune erschienen, beschreibt Orwell die Zustände in der zerbombten Ruinenlandschaft Deutschlands, über die bereits der ideologische Nebel des Kalten Krieges (zwischen »Russophilie« und »Russophobie«) wabert. »Nach diesem jahrelangen Krieg ist es ein eigenartiges Gefühl«, beoachtet Orwell, »jetzt endlich auf deutschem Boden zu stehen. Das Herrenvolk ist überall um einen herum, bahnt sich seinen Weg auf Farrädern durch die Trümmerberge oder rennt mit Kannen und Eimern zum Wasserwagen.« Trotz aller Verbrechen in den letzten Jahren läge in den Augen Orwell kein Vorteil darin, »Deutschland in ein agrarisches Elendsgebiet zu verwandeln«. Seine Gedanken liegen eher in der Zukunft – beim Aufbau einer neuen Zukunft – als in der Vergangenheit, um Frage von Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe zu verhandeln. So schrumpft die »monströse Gestalt« einer Nazi-Folterknechtes zu einem »kläglichen Wicht, der offensichtlich weniger eine Bestrafung brauchte als eine psychologische Behandlung«. Auch die Urheber der »ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen« wie »Göring, Ribbentropp und den Rest« interessieren Orwell nur peripher: »Die Bestrafung dieser Ungeheuer erscheint, sobald sie möglich ist, nicht mehr attraktiv. Wenn sie einmal hinter Schloss und Riegel sind, hören sie beinahe auf, Ungeheuer zu sein.«
Das Problem dieses kleinen Bandes ist die Dekontextualisierung: Ohne Orwells journalistische Texte in den historischen Zusammenhang – beispielsweise in seinem Engagement für den Krieg, wobei er Pazifisten als Helfershelfer des Faschismus verortete – zu setzen, verlieren sie sich im Ungefähren. Zwar gibt der Band vor, Orwells Reportagen aus den ersten Monaten im Jahre 1945 zu präsentieren, doch da sie nicht über sechzig Druckseiten hinauskommen, liefert der Verlag noch eine zweite Abteilung mit Artikeln aus der Zeit von 1940 bis 1945, in denen Orwell über Thomas Mann schreibt und ihn als Intellektuellen des 19. Jahrhunderts klassifiziert. Das Nachwort des Historikers und ZEIT-Journalisten Volker Ullrich verharrt ebenso im Ungefähren. Anders als die politischen Reportagen Simone Weils und Daniel Guérins aus den Jahren 1932/33, als der Faschismus in Deutschland triumphierte oder John Dos Passos’ Reportagesammlung Das Land des Fragebogens (die 1946 für die Zeitschrift Life produziert wurde und 1996 in einer Übersetzung Michael Kleebergs im Verlag Neue Kritik erschien), bleibt dieser Band ein dürftiger Abklatsch aus der Frühzeit des Kalten Krieges, der weit hinter die Erkenntnisse einer kritischen Forschung (wie sie bereits 1975 in der Orwell-Nummer der Modern Fiction Studies aufbereitet wurden) fallen.
© Jörg Auberg 2022 (2022–03-12)