Mörderische Gier
David Cesaranis grosse Studie zur nationalsozialistischen Politik der Vernichtung der Juden
Von Jörg Auberg
»Die Hoffnung der Juden, die sich an den zweiten Weltkrieg heftet, ist armselig. Wie er auch enden mag, die lückenlose Militarisierung führt die Welt weiter in autoritär-kollektivistische Lebensformen hinein.«1
Max Horkheimer, »Die Juden und Europa« (1939)
In der frei flutenden Imagination ihres Wahns nahmen die nationalsozialistischen Täter Juden lediglich als Ungeziefer wahr. So betrachteten sie denn auch ihren antisemitischen Vernichtungsfeldzug als Dienst an der Menschheit. »Juden sind ja keine Menschen«, konstatierte Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront, im Jahre 1942. »Jeder müßte sich allmählich abgewöhnt haben, sie als solche zu sehen. Daß wir ein Insekt totschlagen, das uns piesackt, ist uns allen etwas ganz Natürliches. Nichts anderes bedeutet es, wenn wir uns eines Juden entledigen.«2 Welche Rolle der Antisemitismus in diesem Versuch einer globalen »Entjudung« spielte, ist in der Holocaust-Forschung strittig. In seiner frühen Studie des Nationalsozialismus zu Beginn der 1940er Jahre, Behemoth (1942; erw. 1944), hatte Franz Neumann die zentrale Verantwortung bürokratischer Apparate und Organisationen hervorgehoben, während er den Antisemitismus als Antrieb für die Vernichtungspolitik marginal einschätzte.
Eine ähnliche Argumentationslinie verfolgte auch der Neumann-Schüler Raul Hilberg in seinem Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden (1961), das bezeichnenderweise erst über zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA in dem kleinen Berliner Verlag Olle & Wolter erschien, ehe es später in der verdienstvollen, von Walter Pehle verantworteten »Schwarze Reihe« im Fischer-Verlag einen angemessenen Platz der Verbreitung fand. Für Hilberg lagen die Gründe für die »Erfolge« der Vernichtungspolitik weniger in antisemitischen Ressentiments der deutschen Mehrheitsbevölkerung denn in der bürokratischen Umsetzung der Annihilation. »Im Grunde wurde die Auslöschung des Judentums«, schrieb Hilberg in einem späteren Aufsatz, »von einem Heer von Funktionsträgern in staatlichen Behörden und privaten Unternehmen umgesetzt, die Maßnahmen einleiteten, eine nach der ander anderen, die größtenteils bürokratischer Natur waren und auf Gewohnheit, Routine und Tradition beruhten.«4 Eine zentrale Rolle in der Vernichtung nahmen in Hilbergs Darstellung bürokratische Organisationen wie die Reichsbahn und die Ordnungspolizei ein. In späteren Argumentationen – wie in Zygmunt Baumans Modernity and the Holocaust (1989) – blieb der Antisemitismus gänzlich außen vor: Dort lief die nazistische Mordmaschine lediglich im Kontext der industriellen Moderne in einem »Autopilot«-Modus, bei dem die Besonderheit des Holocaust – die Extermination aller Juden in Europa – in einer generalisierten Geschichte von Rassismus und Auslöschung getilgt wurde.5
Dieser Argumentation widerspricht der englische Historiker David Cesarani (1956–2015) in seinem posthum veröffentlichten Magnum opus Final Solution: The Fate of the Jews 1933–49 (dt. »Endlösung«: Das Schicksal der Juden 1933–1948). Für ihn ist der Holocaust keineswegs primär ein bürokratisches, industrielles und technologisches Unternehmen, sondern beruhte in erster Linie auf brutaler Gewalt, die von Gier und Hass angetrieben wurde und sich in Demütigungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen und Massenerschießungen ausdrückte. Cesarani, der in den 1990er Jahren die Londoner Wiener Library, eine der renommiertesten Einrichtungen der internationalen Holocaust-Forschung, leitete, trieb ein Unbehagen mit der vorherrschenden Gedenkkultur an. »Es ist zum Glaubenssatz geworden«, heißt es in seiner Einleitung, »dass der systematische Einsatz staatlicher Macht, moderne bürokratische Verfahren, wissenschaftliches Denken sowie nach dem Vorbild industrieller Produktionssysteme gestaltete Tötungsmethoden den Holocaust kennzeichnen.«6 Dem hält er entgegen, dass nicht eine zielstrebige Politik des Antisemitismus in den Holocaust führte. Vielmehr seien Gier und Habgier wesentliche Antriebskräfte der »Entjudung« zunächst in Deutschland und später auf dem europäischen Kontinent gewesen, wobei die »gewöhnlichen Männer und Frauen« als Profiteure des antisemitischen Systems zuvörderst am größtmöglichen Anteil der Beute interessiert waren, der erst bei der Vertreibung und später der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung für sie abfiel.
In seiner Erzählung des Unsagbaren und Unvorstellbaren bleibt Cesarani stets klar und ernst, »die Stimme des klassischen Realismus«7, wie Nicholas Stargadt in der New York Times bemerkte. Trotz der Millionen von Opfern verliert er nie die Empathie für die jüdischen Individuen, die von Einzeltätern ermordet wurden. Indem er über die lange Strecke der Erzählung von der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis zur vollkommenen Zerstörung des europäischen Kontinents zahllose Quellen und Zeugnisse der Ermordeten einbezieht, hält er die Erinnerung an jeden Einzelnen wach, der auf diese Weise nicht in der Masse der Toten verschwindet.
Besonders eindrücklich schildert Cesarani die Ereignisse in Wien nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938, als unter dem Hohngelächter der Wiener Bürger Juden mit Bürsten die Gehsteige schrubben mussten. Die damaligen Ereignisse sind für Cesarani ein Beleg dafür, dass die antijüdische Politik keineswegs einem nationalsozialistischen Generalplan folgte, sondern dass viele Aktionen konfus, widersprüchlich und unausgegoren waren. Die rituellen Demütigungen und Erniedrigungen, denen Juden nach dem Einmarsch der Deutschen ausgesetzt waren, wurden nach Cesaranis Auffassung nicht von langer Hand geplant; vielmehr hatten seiner Ansicht nach die Deutschen die Lage nicht im Griff.
Ähnlich stellt sich für Cesarani die »Reichspogromnacht« vom 9. November 1938 nach dem Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris dar. Auch diese antijüdischen Aktionen waren in seinen Augen weit davon entfernt, planvoll und »exekutorisch« im Sinne des Regimes gegen die jüdische Bevölkerung vorzugehen. Allerdings erscheint der Versuch der Erklärung der Ereignisse in diesem Fall etwas seltsam. So zitiert er kommentarlos George Ogilvie-Forbes, den damals amtierenden Geschäftsträger der britischen Botschaft in Berlin mit den Worten: »Die Erklärung für diesen Ausbruch sadistischer Grausamkeit mag sein, dass sexuelle Perversionen, insbesondere Homosexualität, in Deutschland weit verbreitet sind. Mir scheint, dass massenhafte sexuelle Perversität eine Erklärung für diesen ansonsten unerklärlichen Ausbruch bieten könnte.«8 Diese Assoziation von Homosexualität und Perversion, die heute zum Repertoire der »Neuen Rechten« gehört, findet sich auch in zeitgenössischen kritischen Texten: Beispielsweise blendete Siegfried Kracauer in seiner Geschichte des Films der Weimarer Republik Homosexualität und Perversion ineinander über und setzte die sexuelle Deviation mit »Abnormität« und »Verkommenheit« gleich.9 Für das konservative Bürgertum war Berlin, die Hauptstadt der Weimarer Republik, vor allem ein »Sündenpfuhl«, in der neue Freiheiten einer Sexualität als bedrohlich empfunden wurden. Die Emanzipation sexueller Minderheiten in der Weimarer Republik, die später selbst der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer fielen, als »Perversion« zu denunzieren, während die Verantwortung der Mehrheitsbevölkerung für die herrschenden Zustände verschwiegen wurde, zeugt von einer äußerst verzerrten Wahrnehmung.10
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung zunehmend: Wie sich auch die Verhältnisse änderten – stets gehörten die Juden zu den Verlierern: »Wenn der Krieg für Deutschland gut lief, mussten die Juden als vermeintliche Anstifter mit Vergeltung rechnen«, resümiert Cesarani; »lief er schlecht, würde man sie für das Leid der Deutschen bezahlen lassen.«11 Im Krieg selbst tobte sich eine Brutalisierung gegenüber dem »jüdischen Feind« aus, die sich aus jahrelanger rassistischer Indoktrination nährte. Juden erschienen den deutschen Soldaten als »Bestien in Menschengestalt« mit »teuflischen Fratzen«, wobei diese Dämonisierung die »arischen Helden« nicht davon abhielt, jüdische Frauen zu vergewaltigen.12 Mit seiner detaillierten Beschreibung des massenhaften sexuellen Missbrauchs in den besetzten Gebieten Osteuropas demystifiziert er die deutsche Wehrmacht, die nach 1945 ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen zu kaschieren versuchte. Gleichfalls entschleiert er die Jämmerlichkeit der deutschen Zivilbevölkerung, die beispielsweise 1943 in Nürnberg die Vertreibung der Juden bedauerte: Hätte man sie als Geiseln behalten, lautete die Argumentation, verfügte man über ein wirksames Faustpfand.13
Nicht weniger unbarmherzig sind die Osteuropäer in Cesaranis Erzählung: Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto sah der Kommentator einer katholischen Untergrundzeitung die Tragödie als Chance der Juden zur Konversion: »Sie können im Angesicht der Zerstörung durch die Taufe und den wahren Glauben gerettet werden.«14 Auch auf den Transporten in die Vernichtungslager konnten die Deportierten kaum auf Unterstützung hoffen: »Die Mehrheit der Polen und Ukrainer nahm Juden nicht als Menschen in Not wahr, sondern betrachtete sie als Handelsware oder Einnahmequelle.«15 Auf der Seite der Alliierten hatte das Schicksal der Juden keine Priorität, sodass zwar militärische Ziele bombardiert wurden, aber nicht die Eisenbahnwege, die zu den Vernichtungslagern führten. »Hätte man der Rettung von Juden dieselbe Priorität wie der Kriegsführung gewährt«, kritisiert Cesarani, hätten Einwände bezüglich »der zu erwartenden Verluste und der erforderlichen Kräfte, die den vorrangigen Kampfeinsätzen entzogen worden wären«, keine Wirkung gehabt.16
In seinem Resümee hebt Cesarani die enge Verzahnung von Vernichtungs- und Kriegspolitik des nationalsozialistischen Regimes hervor. »Das Schicksal der europäischen Juden zwischen 1933 und 1948 wurzelte im Antisemitismus, wurde aber vom Krieg geformt«, konstatiert er. »Abneigung gegen Juden und Judenhass waren vor 1914 in Europa weitverbreitet, doch der Erste Weltkrieg schuf die Bedingungen, unter denen diese Feindseligkeit überhitzen konnte.«17 Leider bestehen diese Bedingungen weiter fort, sodass Cesaranis Buch, das der an Krebs erkrankte Autor dem Tod abrang, ein Vermächtnis im Kampf gegen den Antisemitismus darstellt. Leider hat die deutsche Übersetzung auf die Fotos der Wiener Library verzichtet, die der englischen Originalausgabe eine besondere Note der Eindringlichkeit verliehen. Dennoch bleibt zu hoffen, dass Cesaranis Werk ein breites Publikum finden wird.
Bibliografische Angaben:
David Cesarani.
Final Solution: The Fate of the Jews 1933–49.
London: Macmillan, 2016.
45 Abbildungen, 3 Karten.
1056 Seiten, £ 30,00.
David Cesarani.
»Endlösung«: Das Schicksal der Juden 1933–1948.
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
Berlin: Propyläen Verlag, 2016.
1104 Seiten, € 42,00.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Final Solution | © Macmillan |
Judenverfolgung Michael Siegel | Bundesarchiv via Wikimedia Commons |
Erschießungen in der Ukraine | Wikimedia Commons |
Cover »Endlösung« | © Propyläen Verlag |
© Jörg Auberg 2017 — überarbeitet 2022
Nachweise
- Max Horkheimer, »Die Juden und Europa«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Fischer, 1988), S. 327 ↩
- Robert Ley, zitiert in: Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945 (Frankfurt/Main: Fischer, 2005), S. 370 ↩
- Franz Neumann, Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, 1933–1944, hg. Gert Schäfer, übers. Hedda Wagner und Gert Schäfer (Frankfurt/Main: Fischer, 1984), S. 159 ↩
- Raul Hilberg, Anatomie des Holocaust: Essays und Erinnerungen, hg. Walter H. Pehle und René Schlott, übers. Petra Post und Andrea von Struve (Frankfurt/Main: Fischer, 2016), S. 71 ↩
- Zygmunt Baumann, Modernity and the Holocaust (Cambridge: Polity Press, 1989), S. 104–106 ↩
- David Cesarani. »Endlösung«: Das Schicksal der Juden 1933–1948, übers. Klaus-Dieter Schmidt (Berlin: Propyläen Verlag, 2016), S. 15 ↩
- Nicolaus Stargardt, »Two New Books Look at the Holocaust in Civic and Military Terms«, New York Times, 3. Januar 2017, https://www.nytimes.com/2017/01/03/books/review/final-solution-david-cesarini-why-explaining-holocaust-peter-hayes.html?_r=0 ↩
- George Ogilvie-Forbes, zitiert in: Cesarani. »Endlösung«, S. 252–253 ↩
- Siegfried Kracauer, »Von Caligari zu Hitler«, in: Schriften, Band 2.1, hg. Sabine Biebl (Berlin: Suhrkamp, 2012), S. 46, 57, 102 ↩
- Cf. Mel Gordon, Voluptuous Panic: The Erotic World of Weimar Berlin (Los Angeles: Feral House, 2006); Laurie Marhoefer, Sex and the Weimar Republic: German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis (Toronto: University of Toronto Press, 2015); Robert Beachy, Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity (New York: Alfred A. Knopf, 2014) ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 301 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 312, 346 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 707 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 737 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 773 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 886 ↩
- Cesarani, »Endlösung«, S. 941 ↩