Texte und Zeichen

Emma Goldman — Gelebtes Leben

E

Die heilige Emma von den Schlachthöfen

 

Emma Goldmans Autobiografie liegt in einer überarbeiteten Neuausgabe vor

 

Von Jörg Auberg

Als im Jah­re 1919 in den USA die Hys­te­rie gegen poli­tisch uner­wünsch­te Immi­gran­ten nach der rus­si­schen Revo­lu­ti­on eska­lier­te, brand­mark­te der spä­te­re Begrün­der des FBI J. Edgar Hoo­ver Emma Gold­man und Alex­an­der Berk­man als »die zwei­fels­oh­ne gefähr­lichs­ten Anar­chis­ten« in den USA. Um fünf Uhr am Mor­gen des 21. Dezem­ber 1919 war er im Hafen von New York per­sön­lich vor Ort, als Gold­man und ande­re »Aus­län­der« an Bord der Buford nach Russ­land depor­tiert wur­den, um sich von einem erfolg­rei­chen Abtrans­port der »uner­wünsch­ten Ele­men­te« zu überzeugen. 

Emma Gold­man: Living my Life (Pen­gu­in Clas­sics, 2006; gekürz­te Ausgabe)

Gold­man gehör­te zu den her­aus­ra­gen­den Akteu­rin­nen des klas­si­schen Anar­chis­mus, der in den acht­zi­ger Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts sei­nen Höhe­punkt hat­te und zum Schreck­ge­spenst in der ame­ri­ka­ni­schen Öffent­lich­keit wur­de, ehe er mit der Nie­der­la­ge der Anar­chis­ten im Spa­ni­schen Bür­ger­krieg 1939 ende­te. Nahe­zu sym­bo­li­schen Cha­rak­ter hat­te Gold­mans tra­gi­sches Ende im Jah­re 1940: Gezeich­net von einem Schlag­an­fall, konn­te sie, die sich zeit ihres Lebens in ers­ter Linie über das Spre­chen defi­niert hat­te, kein Wort mehr her­aus­brin­gen, und als sie wenig spä­ter starb, hat­te sie die Macht der Spra­che nicht wie­der­ge­win­nen kön­nen. Ihr Tod ver­sinn­bild­lich­te für vie­le den Nie­der­gang des Anar­chis­mus, der in der moder­nen indus­tri­el­len Welt (wo ange­sichts der mas­sen­haf­ten Men­schen­ver­nich­tung der indi­vi­du­el­le Akt der Revol­te bedeu­tungs­los gewor­den zu sein schien) sei­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung nicht mehr nach­wei­sen konnte. 

Mit dem Revi­val des Anar­chis­mus in den 1960er Jah­ren tauch­te aber auch Emma Gold­man aus dem his­to­ri­schen Orkus wie­der auf – nicht zuletzt als Iko­ne des radi­ka­len Femi­nis­mus. Das Inter­es­se an Gold­man wuchs, und Bio­gra­fen wie Richard Drin­non, Can­dace Falk oder Ali­ce Wex­ler beleuch­te­ten eine his­to­ri­sche Figur, die in ihrer Kom­ple­xi­tät nicht ein­fach zu grei­fen war. Die bür­ger­li­che Öffent­lich­keit stig­ma­ti­sier­te sie als Ver­rück­te oder geis­tig-mora­lisch Per­ver­se, als Hohe­pries­te­rin ter­ro­ris­ti­scher Gewalt, wäh­rend sie im Krei­se der radi­ka­len Lin­ken als anar­chis­ti­sche Jean­ne d’Arc ver­ehrt wur­de, die sich auf den Schlacht­hö­fen des Kapi­ta­lis­mus und Des­po­tis­mus der Ent­rech­te­ten und Geknech­te­ten im Sti­le einer Hei­li­gen ohne Rück­sicht auf eige­ne Ver­lus­te annahm. Doch selbst unter Anar­chis­ten besaß sie einen kon­tro­ver­sen Ruf, da sie als eine der Ers­ten das The­ma Homo­se­xua­li­tät öffent­lich ansprach und den Femi­nis­mus nicht dem »Klas­sen­krieg« unter­wer­fen wollte. 

Emma Goldman: Gelebtes Leben (Edition Nautilus, 2010)
Emma Gold­man: Geleb­tes Leben (Edi­ti­on Nau­ti­lus, 2010)

Vor allem scheu­te sie sich nicht, für ihre Über­zeu­gun­gen ins Gefäng­nis zu gehen, was zwi­schen 1893 und 1921 des Öfte­ren geschah. Mit »ihrer emo­tio­na­len Rhe­to­rik, ihrem enor­men Mut und ihrem selbst­lo­sen Ein­tre­ten für unpo­pu­lä­re Anlie­gen« gehö­re Gold­man, schrieb der kana­di­sche Lite­ra­tur­kri­ti­ker Geor­ge Wood­cock 1962 in sei­ner Geschich­te des klas­si­schen Anar­chis­mus, tat­säch­lich in einen grö­ße­ren Rah­men, als jenen, den ihr die anar­chis­ti­sche Bewe­gung zu geben ver­moch­te. Mit die­ser Ein­schät­zung folg­te Wood­cock letzt­lich dem Bild, das Gold­man von sich selbst in ihrer Auto­bio­gra­fie Living My Life gezeich­net hat­te, die erst­mals in deut­scher Über­set­zung 1978 im Karin Kra­mer Ver­lag erschien und nun in einer über­ar­bei­te­ten Fas­sung aus dem Hau­se der Edi­ti­on Nau­ti­lus vor­liegt. Als ihre Memoi­ren (die vom Ver­lag Alfred A. Knopf als eine Doku­men­ta­ti­on der Nie­der­la­ge bewor­ben wur­de) im Jah­re 1931 erschie­nen, war Gold­man zunächst depri­miert, weil die Ver­kaufs­zah­len nicht zuletzt wegen der Welt­wirt­schafts­kri­se gering blie­ben. Doch auf lan­ge Sicht schuf sie mit die­sem Werk die Grund­la­ge für ihr Bild in der Geschich­te, das in Grund­zü­gen von ihren Bio­gra­fen über­nom­men wur­de. Mit ihrer Auto­bio­gra­fie schrieb Gold­man das gro­ße ame­ri­ka­ni­sche weib­li­che Epos über die anar­chis­ti­sche Odys­see einer rus­si­schen Immi­gran­tin, die in den USA zur »gefähr­lichs­ten Frau« des Lan­des auf­stieg, ehe sie 1919 aus ihrem neu­en Hei­mat­land depor­tiert wur­de. Obwohl sie anfäng­lich begeis­tert über die revo­lu­tio­nä­ren Umwäl­zun­gen war, ver­lor sie schnell ihre Illu­sio­nen ange­sichts der bol­sche­wis­ti­schen Macht­pra­xis und ver­ließ das »Mut­ter­land des Sozia­lis­mus« 1921, um in den letz­ten Jah­ren als »Staa­ten­lo­se« durch Euro­pa und Kana­da zu wandern.

Bezeich­nen­der­wei­se beginnt Gold­mans Auto­bio­gra­fie mit ihrer Ankunft in New York, nicht mit ihrer Kind­heit in Russ­land oder ihrer Emi­gra­ti­on in die USA. In New York gelang es ihr, sich vom eng­stir­ni­gen rus­sisch-jüdi­schen Immi­gran­ten­mi­lieu zu eman­zi­pie­ren und über den Anar­chis­mus hin­aus eine uni­ver­sa­le Uto­pie zu ent­wi­ckeln, mit der sie ein brei­tes Publi­kum in den USA auf ihren aus­ge­dehn­ten Vor­trags­rei­sen quer durch das Land ansprach. Wie Chris­ti­ne Stan­sell in ihrer ori­gi­nel­len Stu­die der ame­ri­ka­ni­schen Moder­ne (Ame­ri­can Moderns: Bohe­mi­an New York and the Crea­ti­on of a New Cen­tu­ry, 2010) schrieb, erfand sich Gold­man als Anar­chis­tin, Frau, Femi­nis­tin und Lieb­ha­be­rin neu. Sie ver­band die Immi­gran­ten­ver­gan­gen­heit mit der neu­en Iden­ti­tät als ame­ri­ka­ni­sche, Eng­lisch spre­chen­de Radi­ka­le, wel­che die eng umzir­kel­te Welt der Immi­gran­ten in ihren sprach­li­chen und kul­tu­rel­len »Ghet­tos« hin­ter sich ließ und zu einer »natio­na­len Figur« in der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Arbei­tern und Kapi­tal, aber auch zwi­schen Frau­en und Män­nern wur­de. Häu­fig trat ihr ein bru­ta­ler Mob ent­ge­gen, der von den staat­li­chen und gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen in die Bah­nen der Gewalt geführt wur­de, was einem xeno­pho­ben und anti­se­mi­ti­schen Kli­ma in den USA jener Zeit geschul­det war.

Aber auch Gold­man war nicht frei von Wider­sprü­chen und Frag­wür­dig­kei­ten. Ihr Ver­hält­nis zum Ter­ro­ris­mus, wie er sich im Atten­tat ihres lebens­lan­gen Gefähr­ten Alex­an­der Berk­man auf den Indus­trie­ma­gna­ten Hen­ry Clay Frick wäh­rend des Stahl­ar­bei­ter­streiks in Homes­tead (Penn­syl­va­nia) 1892 oder im Anschlag des selbst­er­nann­ten Anar­chis­ten Leon Czol­g­osz auf US-Prä­si­dent 1901 aus­drück­te, blieb frag­wür­dig, und ihrer Posi­ti­on zwi­schen indi­vi­dua­lis­ti­schen und kol­lek­ti­vis­ti­schen oder kom­mu­nis­ti­schen Rich­tun­gen des Anar­chis­mus haf­te­te stets etwas Dif­fu­ses oder Unent­schlos­se­nes an. Ihr anar­chis­ti­sches Enga­ge­ment arti­ku­lier­te sich eher in der Hin­ga­be an den »Geist der Revol­te« im täg­li­chen Kampf gegen Unter­drü­ckung und Aus­beu­tung denn in der ela­bo­rier­ten Explo­ra­ti­on einer poli­ti­schen oder phi­lo­so­phi­schen Theo­rie des Anar­chis­mus, wie sie Berk­man in sei­nem Buch What is Com­mu­nist Anar­chism (1929) ausführte.

Emma Goldman BooksAuch hin­sicht­lich ihres Femi­nis­mus blieb eini­ges wider­sprüch­lich. Wäh­rend sie in der Öffent­lich­keit als Frau­en­recht­le­rin für die vor­be­halt­lo­se Eman­zi­pa­ti­on der Frau ein­trat, schwelg­te sie in den Brie­fen an ihren lang­jäh­ri­gen Lieb­ha­ber Ben Reit­man in der Beschwö­rung wil­der Lust und erging sich in ero­ti­scher Rhap­so­die. Als Anar­chis­tin pro­pa­gier­te sie einen radi­ka­len Ega­li­ta­ris­mus, hat­te aber ande­rer­seits star­ke Vor­be­hal­te gegen­über der sich her­aus­bil­den­den »Mas­sen­kul­tur« und begriff sich als Teil einer »demo­kra­ti­schen kul­tu­rel­len Eli­te«, die einem tra­di­tio­nel­len Kul­tur­ver­ständ­nis ver­haf­tet blieb. Die­se Wider­sprüch­lich­keit blen­de­te Gold­man in ihren Memoi­ren ver­ständ­li­cher­wei­se aus. Statt­des­sen prä­sen­tier­te sich als selbst­ge­wis­se Frau, die allent­hal­ben schnell und uner­bitt­lich den Stab über ande­re aus dem radi­ka­len Milieu brach. Selbst­zwei­fel arti­ku­lier­te sie nicht, und immer schon wähn­te sie auf der rich­ti­gen Sei­te der Geschich­te, ohne je zu hin­ter­fra­gen, war­um der Anar­chis­mus – obgleich er nach Gold­mans Auf­fas­sung alle Ant­wor­ten nach dem rich­ti­gen Leben parat zu haben schien – nie in der his­to­ri­schen Pra­xis reüs­sier­te. »Sie war sehr hart­ge­sot­ten und zu sehr fest über­zeugt von allem, was sie zu sagen hat­te«, kri­ti­sier­te der Ver­le­ger Albert Boni. Ein­wän­de von außen kan­zel­te sie recht­ha­be­risch ab.

Emma Goldman: Porträt von Robert Henri (Anarchist Studies 2018)
Emma Gold­man: Por­trät von Robert Hen­ri (Anar­chist Stu­dies 2018)

Die Kom­ple­xi­tät und Wider­sprüch­lich­keit fin­det in Ili­ja Tro­ja­nows Vor­wort kei­ner­lei Erwäh­nung. Statt­des­sen führt er Gold­man als rebel­li­sche Wie­der­gän­ge­rin von Theo­do­re Dreisers Roman­fi­gur Car­rie Mee­ber aus Sis­ter Car­rie vor und igno­riert voll­kom­men aktu­el­len Geschichts­be­zug von Immi­gra­ti­on, Gewalt, Xeno­pho­bie und Ver­zer­rung der gesell­schaft­li­chen Wahr­neh­mung durch eine von Vor­ur­tei­len und Herr­schafts­in­ter­es­sen bestimm­te Medi­en­rea­li­tät. Dass ein Vor­wort zu einer his­to­ri­schen Auto­bio­gra­fie mehr als nur einen unin­spi­rier­ten Vor­spann leis­ten kann, bewies John Wil­liam Wards Ein­lei­tung zur Aus­ga­be von Berk­mans Pri­son Memoirs of an Anar­chist: Dar­in beleuch­te­te der Autor nicht allein die Ent­wick­lung Berk­mans in sei­ner Gefäng­nis­zeit, nach­dem er nach sei­nem Atten­tat zu einer lang­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt wor­den war, son­dern stell­te den Gewalt­akt in den aktu­el­len his­to­ri­schen Kon­text des »Ame­ri­can way of vio­lence«. Lei­der ist Tro­ja­now an der Aktua­li­tät gänz­lich des­in­ter­es­siert, sodass er Gold­mann nur in einem künst­li­chen, muse­al abge­schlos­se­nen Raum ohne jeg­li­che Ver­bin­dung zur Gegen­wart auf­tre­ten las­sen kann. 

Trotz allem ist die­se Neu­aus­ga­be – nicht zuletzt wegen ihrer auf­wän­di­gen und gelun­ge­nen Auf­ma­chung (inklu­si­ve Zeit­ta­fel und Regis­ter) – ein über­aus begrü­ßens- und lobens­wer­tes Unter­fan­gen, das ein beein­dru­cken­des Werk wie­der einem grö­ße­ren Publi­kum zugäng­lich macht.

Bibliografische Angaben:

Emma Gold­man.
Geleb­tes Leben: Autobiografie
Über­setzt von Mar­len Breit­in­ger, Rena­te Ory­wa und Sabi­ne Vetter.
Vor­wort von Ili­ja Trojanow.
Ham­burg: Edi­ti­on Nau­ti­lus, 2010.
927 Sei­ten, 34,90 Euro.
ISBN: 978–3‑89401–731‑6.

 

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Living My Life © Pen­gu­in Books
Cover Geleb­tes Leben © Edi­ti­on Nautilus
Cover Anar­chist Studies © Law­rence & Wishart
Foto Bücher über Emma Goldman © Jörg Auberg

Zuerst erschie­nen in literaturkritik.de, Nr. 2 (Febru­ar 2011)
© Jörg Auberg 2011/2019

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