Der Club der roten Dichter
Philip Oltermann erzählt die seltsame Geschichte eines Stasi-Poeten-Zirkels
Wie aus grauer Vorzeit wabern diese Worte in die Gegenwart. »In einer Welt«, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1950, »in der die Gedanken mehr als je in Zweckzusammenhänge verflochten sind, genügt es nicht vom Frieden zu reden. Man muß fragen, wer vom Frieden redet, in wessen Auftrag und in welcher Funktion.« In propagandistischen Fantasiegemälden wurde die DDR wurde als Ort der »demokratischen Erneuerung Deutschlands« verherrlicht, als »Literaturgesellschaft«, in der Literatur und Poesie als entscheidende Triebkräfte einer höheren menschlichen Existenzform eingesetzt wurden.
In seinem Buch The Stasi Poetry Circle spürt Philip Oltermann, der Leiter der Berliner Guardian-Büros, einem seltsamen Zirkel von Angehörigen der DDR-Staatssicherheit nach, die ihre Aufgabe der »Landesverteidigung« (was die Abwehr äußerer Feinden als auch die Ausspähung innerer Saboteure der nationalen Ordnung beinhaltete) mit Versuchen in der Poesie zu verbinden suchten. Seit den frühen 1960er Jahren hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit einen erlauchten Kreisen von »schreibenden Tschekisten«, die in ihrer regulären Tagesarbeit mit einer uniformierten, gestanzten Sprache umgingen und in lyrischen Abendstunden sich in der Produktion jambischer Verskunst abmühten. Der Mentor dieses Zirkels war der Lyriker Uwe Berger (1928–2014), der im Hauptberuf als Lektor im Aufbau-Verlag tätig war und von 1970 bis 1989 als »ein einflussreicher Auftragnehmer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Literaturbetrieb der DDR« arbeitete (wie der Wikipedia-Eintrag über ihn resümiert). Während Berger – wie Oltermann schreibt – konkurrierende Autoren gern als verkappte Faschisten denunzierte, betrachtete er sich selbst als »Staatsorgan«: Kritik an ihm bedeutete eine illegitime, wenn nicht gar staatsgefährdende Infragestellung der Existenz der DDR. Als die linksliberale Frankfurter Rundschau eine seiner Lyrik-Anthologie verriss, witterte Berger eine von westlichen Kapitalisten und östlichen Dissidenten angezettelte Verschwörung. Obwohl Berger kein Parteimitglied war, wurde er für seine Leistungen von der Staatssicherheit mit einer silbernen Medaille ausgezeichnet, wofür sich Berger mit dem Hinweis bedankte, er sei ein Partriot ohne Parteizugehörigkeit, stehe aber auf Seiten der Arbeiterklasse und ihrer Partei.
Oltermann bietet das biedere Personal eines Clubs auf, der ohne jegliche Ironie als »Kreisarbeitsgemeinschaft Schreibende Tschekisten« firmierte und das trostlose Abbild einer trostlosen Gesellschaft repräsentierte. Dass die selbstberufenen Poeten in Uniform ihre lyrische Aktivitäten als »subversive Aktion« begriffen und (wie bei William S. Burroughs) »schmutzige Limericks zwischen den Zeilen« hindurch schmuggelten, war von vornherein ausgeschlossen. So überrascht es auch nicht, wenn Oltermann von einem Stasi-Poeten namens Björn Vogel erzählt, der als Einundzwanzigjähriger in die Kohorten des autoritären DDR-Staates eintrat, für US-amerikanische Popmusik von Roy Orbison, Bruce Springsteen und Frank Zappa schwärmte und nach der Implosion der realsozialistischen Trutzburg im Jahre 2017 für die neofaschistische Plattform »Alternative für Deutschland« antisemitische Verschwörungstheorien und Hetztiraden gegen »Massenimmigration« verbreitete. Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie mutmaßte er eine Verschwörung globaler Eliten zur Errichtung einer weltweiten Diktatur.
Realiter bestand die Aufgabe des »Clubs der roten Dichter« nicht darin, ein »textimmanentes«, kritisches Verhältnis zu poetischen Verfahren im Kontext einer kulturellen Moderne aufzubauen, sondern mögliche subversive Strategien aus dem Inneren zu erkennen und (um noch einmal William Burroughs’ »alternative kritische Theorie« zu zitieren) mit Methoden einer autoritaristischen Lobotomie zu eliminieren. Der »Stasi Poetry Circle« diente als Stoßtruppe der Unterwanderung, deren Ziel die Aneignung des feindlichen Arsenals und dessen Zerstörung war. So endete die Utopie einer »Literaturgesellschaft« im Wahn und Mittelmaß eines dürftigen, zur Emanzipation unfähigen Personals.
© Jörg Auberg 2022 (2022–03-22)