Auch Bücher können das Unglück heraufbeschwören. In Gustave Flauberts Erstlingswerk Bibliomanie (das auch als Bücherwahn übersetzt wurde) zerrt die Idolatrie der Bücher einen von blinder Leidenschaft zerütteten Mönch hinab in die dunklen Territorien von Wahnsinn und Schuld, wo er seine begriffslose Passion mit dem Leben bezahlt. In seinem Kompendium The Madman’s Library (2020) beschreibt Edward Brooke-Hitching eine jahrhundertelange Geschichte des Buch-Fetischismus, in der Bücher ein Eigenleben entwickelten und töteten, in Blut geschrieben und in menschlicher Haut gebunden wurden oder ein solches Längenausmaß annahmen, dass sie das Universum zerstörten.
Auch Tom Gaulds Werkauswahl Revenge of the Librarians mit Comics aus der literarischen Welt, die in den Wochenendausgaben der Londoner Guardian erschienen, hat auch (wie es auf der Verlagsseite von Gaulds Verlag Drawn & Querterly in einem PR-Text heißt) Mord, Niederlage und Züchtigung der Bücherkonsumenten zum Thema, doch in erster Linie steht bei Gauld nicht das Spektakuläre in einer Gesellschaft des Spektakels im Vordergrund. In seinem antirealistischen Reduktionismus konzentriert sich Gauld auf das Wesentliche, das Individuum in einer mediendurchfluteten Umwelt auf der Suche nach Inseln der Besinnung, wobei stets auf Neue die Lust/Wollust/Obsession am »Text« die Reflexion unterminiert und die Kontrolle. »Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich«, heißt es bei Roland Barthes. In Gaulds short cuts sind die Bücher Verheißung, »Zeichen einer messianischen Stillegung des Gechehens« (wie Walter Benjamin den Begriff der Geschichte umschrieb) oder der Einspruch gegen (mit einem Wort Leo Löwenthals) »die Vernichtung von Buch und Mensch«. Zugleich aber lastet das Buch mit all seinen Traditionen »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« (Karl Marx), wobei Emanzipation und Fortschritt misslingen, während (zumindest in Gaulds Imagination) selbst die radikalen Kritker des Bestehenden die Geschichte als Fortsetzung in Massenkultur-Szenarien in gutverdaulichen Häppchen präsentieren.
Gaulds Cartoons changieren virtuos zwischen Tradition und Moderne, Geschichte und Farce, Gesellschaft und Antisozialität. Sie rekurrierren auf den gesamten ökonomischen Kreislauf der Produktion und Konsumtion von Büchern (postmodern als »Texte« chiffriert). wobei Gauld den totalen Verwertungsprozess von den Autor:innen bis zu den Kosument:innen in der technologischen Zirkulation des digitalen Kapitalismus akribisch von Woche zu Woche beschreibt. In blanken Begriffen könnten seine Cartoons und Comics in der Ausweglosigkeit soziologischer Beschreibungen wie Tim Markhams Digital Life oder James Bridles New Dark Age beschrieben werden: Überwachung, Apathie, Herrschaft der Infrastruktur, Narzissmus in der digitalen Welt, Komplizität, Verschwörung, Cloud, Rücksturz in die Barbarei etc.
Für die reduzierten Figuren Gaulds gilt, was Walter Benjamin über Walt Disneys Mickey Mouse schrieb: »Die Micky-Maus stellt dar, daß die Kreatur noch bestehen bleibt, auch wenn sie alles Menschenähnliche von sich abgelegt hatg. Sie durchbricht die auf den Menschen hin konzipierte Hierarchie der Kreaturen.« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, VI:144) Gaulds Cartoons bewegen sich stets am Rande des sozialen Abgrunds, ohne dass die Kreaturen gänzlich in die Tiefe stürzen. Wie Herbert Marcuse am Ende des Eindimensionalen Menschen Walter Benjamin zitierte: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.
© Jörg Auberg 2022 (2022–11-22)
Tom Gauld.
Revenge of the Librarians.
Montreal: Drawn & Quarterly, 2022.
180 Seiten, 24,95 US-$.
ISBN: 978–1‑77046–616‑6.