Bretonisches Chill-Out
Bernd Eilerts Hommage an die Île de Ré
von Jörg Auberg
Nachdem ich die erste Hälfte des Sommers (mehr oder minder) damit verbracht hatte, durch den hartnäckigen Zitatenbeton von Paul Austers Stephen-Crane-Biografie In Flammen mich zu bohren und das Name-Dropping-Panoptikum von Colm Tóibíns Thomas-Mann-Roman The Magician zu ertragen, stieß ich (durch einen Newsletter-Hinweis des Hamburger Mare-Verlages in meinem Postfach) auf das schöne Buch Bernd Eilerts über die bretonische Insel Île de Ré vor der Küste von La Rochelle. Entspannt und selbstironisch zeichnet Eilert, geboren 1949 in Oldenburg und dreißig Jahre später einer der Mitbegründer der Frankfurter Satirezeitschrift Titanic, ein impressionistisches Bild »seiner Insel« aus einem reichen Fundus politischer, kultureller und persönlicher Erinnerung.
Obwohl das Buch in der Tradition der »marebibliothek« aus früheren Jahren steht (die von Denis Scheck herausgegeben wurde und den Untertitel »Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer« trug), übernimmt es nicht die Prätentiösität von Vorgängerbüchern wie Fritz J. Raddatz’ Mein Sylt, das mit Fragen wie »Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?« begann, um im Verlauf des Textes mit Plattitüden wie »Fraglos hat das Meer nicht nur etwas Lockendes, sondern auch etwas Bedrohliches; im Französischen ist das Meer weiblich – la mer« aufzuwarten. Eilerts Buch verzichtet auf stilisierte Schwarzweißbilder der Insel, die Raddatz’ Buch mit ihrer fotografischen Beschwörung einer scheinhaften Urtümlichkeit der Insel mit Schilf, Schaf und Reetdach in einer nahezu menschenleeren Landschaft durchziehen.
Bevor Eilert den Boden der Île de Ré betritt (zu der ihn seine Frau aus Frankfurt geleitet) reflektiert er seine »Insel-Biografie«. Sein Vater war als Besatzungssoldat in La Rochelle stationiert, der nach dem Krieg seinem Sohn die Erinnerung an die »Nazi-Zeit« und eine Sammlung von deutschtümelnden Reclam-Heften hinterließ. Als Fünfjähriger verbrachte Eilert den ersten Inselurlaub auf der Insel Wangerooge, wo er in einem Zimmer mit den streitenden Eltern hausen musste. Auf dieser Insel hatte er seine erste traumatische Erfahrung, als ein Brecher der Brandung ihn am Strand von den Füßen riss und ein Holländer ihn zurück an die Oberfläche holte, während der Vater dem Jungen die Schuld für den Unbill selbst aufbürden wollte.
Als Jugendlicher im postfaschistischen Deutschland orientierte sich Eilert an der französischen Kultur: »Mein Verhältnis zu Frankreich und den Franzosen war von Anfang an voller Bewunderung«, bekennt er. »Doch bis heute wohnt ihm auch ein Gran Misstrauen inne.« Doch trotz aller Kritik zieht Eilert die französische Zivilisation der deutschen »Kulturnation« vor, die vor der Barbarei nicht zurückschreckte. Aus langjährigen Erfahrungen kennt Eilert seine Pappenheimer und ist zu intelligent, um einer frankophonen Idolatrie zum Opfer zu fallen. Wie bei Wolfgang Koeppen ist die Begegnung mit den Einheimischen eher desillusionierend: »Ich ging zum Essen in ein Restaurant, in dem die Einheimischen saßen«, schrieb Koeppen in einem Reisebericht aus Frankreich. »Sie waren nicht gesprächig. Sie machten gelangweilte und mißmutige Gesichter, versicherten, bevor man sie französisch anredete, daß sie nicht Englisch könnten, und zu lieblos zubereiteten Speisen tranken sie, von Weinmeeren umgeben, widerspruchslos einen kratzenden afrikanischen Rotwein.«
Trotz allem ist für Eilert die Begegnung mit der französischen Kultur, die mit einem Austauschprogramm in seiner Schulzeit begann, die Anstiftung zur kritischen Reflexion, die sich in seinem Buch beispielsweise mit den Namen Michel de Montaigne und Pierre Bourdieu verknüpft. In seiner Jugend entwickelte er eine Idiosynkrasie gegenüber der literarischen Richtung des nouveau roman, der ihm als Inbegriff ungenießbarer Texte erschien (wobei die Texte Alain Robbe-Grillets oder Claude Simons weniger Langeweile verbreiten denn einen kritischen Blick auf die aktuelle und historische Realität richten). »Geblieben ist mir bis heute ein gewisser Widerwille gegen das, was in Frankreich Esprit genannt wird«, resümiert Eilert, diese Art sich im Widerschein der eigenen Geistesblitze zu sonnen, dieser Stolz auf geistreiche Formulierungen, die Neigung zum Aphorismus – all das mag ich gar nicht, es sei denn, die Formulierungen wären von mir.«
Die Île de Ré ist im Narrativ der üblichen insularen Litaneien verortet: Zu viele Touristen strömten auf das kleine Eiland; wie eine Marienkäferplage ergriffen die »Schickimickis« Besitz von den Inselorten; und die Immobilienpreise schössen in die Höhe. In Nordfriesland produzierten diese (tatsächlichen oder gefühlten Bedrohungen ein schwarzes Heimat-Pamphlet mit dem Titel Sylt: Verraten und verkauft, doch Eilert ist selbst angesichts steigender Immobilienpreise und der Herrschaft der »Schickimickis« (der er in seinem »Plädoyer für eine bedrohte Unart« nachsichtig beurteilt) entspannt und gefeit vor hysterischen Überreaktionen. »Ich bin noch nachsichtiger als die Rétaiser«, räumt er ein. »So sinnlos Verschwundungslust auch sein mag, Sozialneid finde ich allemal unappetitlicher. Und ihn zu unterdrücken kann anstrengend werden.«
In Eilerts Insel-Erzählungen erfährt der Leser nicht nur, dass die Île de Ré in der Vergangenheit Schauplatz von Besatzungen durch englische Truppen im 17. Jahrhundert und deutsche Militärhorden in den Jahren zwischen 1940 und 1944 war und die Festung von Saint-Martin bis 1946 als Gefängnis diente, aus dem Sträflinge (wie Alfred Dreyfus) nach Französisch-Guayana transportiert wurden. In den 1960er Jahren war die Insel auch Drehort für Darryl Zanucks Hollywood-Spektakel über die Normandie-Invasion der Alliierten 1944 (The Longest Day, 1962) und Claude Sautets Klassiker Les Choses de la Vie (1970).
Neben diesen kulturellen Reminiszenzen beschreibt Eilert in dem Kapitel »Anarchie in Ars« auch die »Underground«-Kultur des 19. Jahrhunderts in Gestalt des anarchistischen Geographen Élisée Reclus, der viele Sommer in Ars-en-Ré verbrachte: Seine »Anwesenheit machte das verschlafene Ars-en-Ré zum Sommerlager der europäischen Anarchisten«, schreibt Eilert. »Zu Besuch kamen führende Theoretiker der Bewegung wie der sagenumwitterte Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, selbst Geograph wie Reclus.« Für Peter Marshall, einen zeitgenössischen Historiker des Anarchismus, repräsentierte Reclus nicht nur einen Vorläufer der sozialen Ökologie, sondern nahm in seiner Gegnerschaft zur Tierschlächterei und industriellen Fleischherstellung Argumente des Veganismus in einer Neudefinition der menschlichen Zivilisation vorweg. Für Eilert steht der Begriff »Anarchismus« jedoch nicht im ideologischen Kampffeld, sondern im postmodernen Refugium der Anarchie. »Ich stelle mir unter Anarchismus die fröhlichste Spielart des Antiautoritären vor«, schreibt er, »womöglich den einzigen Ismus, der keinerlei Verpflichtung mit sich bringt, eine Form von Selbstermächtigung, die so wie alles erlaubt – alles außer Ernsthaftigkeit.« Damit beschreibt Eilert jedoch lediglich eine postmoderne Spielart des Anarchismus, die sich im Anything goes austobt, die historischen und politischen Auswirkungen des anarchistischen Aktionismus banalisiert und die Bespitzelung und Überwachung der Anarchisten auf der Île de Ré bagatellisiert.
Doch auch wenn Eilert der Legende von der »fröhlichen Anarchie« erliegt und das Verlagsmarketing sein Buch als »Insel-Plaudereien eines bekennenden Bohemiens« (diese Beschreibung erinnert eher an belangloses Seebärgeschwafel in einer schmuddeligen Hafenkaschemme denn an akribisch recherchierte und gut gearbeitete Texte) falsch etikettiert, ist diese Hommage an Île de Ré ein überaus lesenswertes Werk, das zudem mit einem beträchtlichen Erkenntnisgewinn aufwartet.
© Jörg Auberg 2022 (2022–09-05)
Bernd Eilert.
Meine Île de Ré.
Hamburg: Mare Verlag, 2022.
192 Seiten, 20 Euro.
ISBN: 978–3‑86648–653‑9.