Texte und Zeichen

Bernd Eilert: Meine Île de Ré

B

Bretonisches Chill-Out

Bernd Eilerts Hommage an die Île de Ré

von Jörg Auberg

Nach­dem ich die ers­te Hälf­te des Som­mers (mehr oder min­der) damit ver­bracht hat­te, durch den hart­nä­cki­gen Zita­ten­be­ton von Paul Aus­ters Ste­phen-Cra­ne-Bio­gra­fie In Flam­men mich zu boh­ren und das Name-Drop­ping-Pan­op­ti­kum von Colm Tói­bíns Tho­mas-Mann-Roman The Magi­ci­an zu ertra­gen, stieß ich (durch einen News­let­ter-Hin­weis des Ham­bur­ger Mare-Ver­la­ges in mei­nem Post­fach) auf das schö­ne Buch Bernd Eilerts über die bre­to­ni­sche Insel Île de Ré vor der Küs­te von La Rochel­le. Ent­spannt und selbst­iro­nisch zeich­net Eilert, gebo­ren 1949 in Olden­burg und drei­ßig Jah­re spä­ter einer der Mit­be­grün­der der Frank­fur­ter Sati­re­zeit­schrift Tita­nic, ein impres­sio­nis­ti­sches Bild »sei­ner Insel« aus einem rei­chen Fun­dus poli­ti­scher, kul­tu­rel­ler und per­sön­li­cher Erinnerung.

Fritz J. Raddatz, Mein Sylt (Marebuchverlag, 2006)
Fritz J. Rad­datz, Mein Sylt (Mare­buch­ver­lag, 2006)

Obwohl das Buch in der Tra­di­ti­on der »mare­bi­blio­thek« aus frü­he­ren Jah­ren steht (die von Denis Scheck her­aus­ge­ge­ben wur­de und den Unter­ti­tel »Autoren erzäh­len ihre Geschich­te vom Meer« trug), über­nimmt es nicht die Prä­ten­tiö­si­tät von Vor­gän­ger­bü­chern wie Fritz J. Rad­datz’ Mein Sylt, das mit Fra­gen wie »Dinie­ren Möwen? Küs­sen Qual­len? Wis­pern Igel?« begann, um im Ver­lauf des Tex­tes mit Plat­ti­tü­den wie »Frag­los hat das Meer nicht nur etwas Locken­des, son­dern auch etwas Bedroh­li­ches; im Fran­zö­si­schen ist das Meer weib­lich – la mer« auf­zu­war­ten. Eilerts Buch ver­zich­tet auf sti­li­sier­te Schwarz­weiß­bil­der der Insel, die Rad­datz’ Buch mit ihrer foto­gra­fi­schen Beschwö­rung einer schein­haf­ten Urtüm­lich­keit der Insel mit Schilf, Schaf und Reet­dach in einer nahe­zu men­schen­lee­ren Land­schaft durchziehen.

Bevor Eilert den Boden der Île de Ré betritt (zu der ihn sei­ne Frau aus Frank­furt gelei­tet) reflek­tiert er sei­ne »Insel-Bio­gra­fie«. Sein Vater war als Besat­zungs­sol­dat in La Rochel­le sta­tio­niert, der nach dem Krieg sei­nem Sohn die Erin­ne­rung an die »Nazi-Zeit« und eine Samm­lung von deutsch­tü­meln­den Reclam-Hef­ten hin­ter­ließ. Als Fünf­jäh­ri­ger ver­brach­te Eilert den ers­ten Insel­ur­laub auf der Insel Wan­ger­oo­ge, wo er in einem Zim­mer mit den strei­ten­den Eltern hau­sen muss­te. Auf die­ser Insel hat­te er sei­ne ers­te trau­ma­ti­sche Erfah­rung, als ein Bre­cher der Bran­dung ihn am Strand von den Füßen riss und ein Hol­län­der ihn zurück an die Ober­flä­che hol­te, wäh­rend der Vater dem Jun­gen die Schuld für den Unbill selbst auf­bür­den wollte.

Bernd Eilert (© privat)
Bernd Eilert (© privat)

Als Jugend­li­cher im post­fa­schis­ti­schen Deutsch­land ori­en­tier­te sich Eilert an der fran­zö­si­schen Kul­tur: »Mein Ver­hält­nis zu Frank­reich und den Fran­zo­sen war von Anfang an vol­ler Bewun­de­rung«, bekennt er. »Doch bis heu­te wohnt ihm auch ein Gran Miss­trau­en inne.« Doch trotz aller Kri­tik zieht Eilert die fran­zö­si­sche Zivi­li­sa­ti­on der deut­schen »Kul­tur­na­ti­on« vor, die vor der Bar­ba­rei nicht zurück­schreck­te. Aus lang­jäh­ri­gen Erfah­run­gen kennt Eilert sei­ne Pap­pen­hei­mer und ist zu intel­li­gent, um einer fran­ko­pho­nen Ido­la­trie zum Opfer zu fal­len. Wie bei Wolf­gang Koep­pen ist die Begeg­nung mit den Ein­hei­mi­schen eher des­il­lu­sio­nie­rend: »Ich ging zum Essen in ein Restau­rant, in dem die Ein­hei­mi­schen saßen«, schrieb Koep­pen in einem Rei­se­be­richt aus Frank­reich. »Sie waren nicht gesprä­chig. Sie mach­ten gelang­weil­te und miß­mu­ti­ge Gesich­ter, ver­si­cher­ten, bevor man sie fran­zö­sisch anre­de­te, daß sie nicht Eng­lisch könn­ten, und zu lieb­los zube­rei­te­ten Spei­sen tran­ken sie, von Wein­mee­ren umge­ben, wider­spruchs­los einen krat­zen­den afri­ka­ni­schen Rotwein.«

Trotz allem ist für Eilert die Begeg­nung mit der fran­zö­si­schen Kul­tur, die mit einem Aus­tausch­pro­gramm in sei­ner Schul­zeit begann, die Anstif­tung zur kri­ti­schen Refle­xi­on, die sich in sei­nem Buch bei­spiels­wei­se mit den Namen Michel de Mon­tai­gne und Pierre Bour­dieu ver­knüpft. In sei­ner Jugend ent­wi­ckel­te er eine Idio­syn­kra­sie gegen­über der lite­ra­ri­schen Rich­tung des nou­veau roman, der ihm als Inbe­griff unge­nieß­ba­rer Tex­te erschien (wobei die Tex­te Alain Rob­be-Gril­lets oder Clau­de Simons weni­ger Lan­ge­wei­le ver­brei­ten denn einen kri­ti­schen Blick auf die aktu­el­le und his­to­ri­sche Rea­li­tät rich­ten). »Geblie­ben ist mir bis heu­te ein gewis­ser Wider­wil­le gegen das, was in Frank­reich Esprit genannt wird«, resü­miert Eilert, die­se Art sich im Wider­schein der eige­nen Geis­tes­blit­ze zu son­nen, die­ser Stolz auf geist­rei­che For­mu­lie­run­gen, die Nei­gung zum Apho­ris­mus – all das mag ich gar nicht, es sei denn, die For­mu­lie­run­gen wären von mir.«

Die Île de Ré ist im Nar­ra­tiv der übli­chen insu­la­ren Lita­nei­en ver­or­tet: Zu vie­le Tou­ris­ten ström­ten auf das klei­ne Eiland; wie eine Mari­en­kä­fer­pla­ge ergrif­fen die »Schi­cki­mi­ckis« Besitz von den Insel­or­ten; und die Immo­bi­li­en­prei­se schös­sen in die Höhe. In Nord­fries­land pro­du­zier­ten die­se (tat­säch­li­chen oder gefühl­ten Bedro­hun­gen ein schwar­zes Hei­mat-Pam­phlet mit dem Titel Sylt: Ver­ra­ten und ver­kauft, doch Eilert ist selbst ange­sichts stei­gen­der Immo­bi­li­en­prei­se und der Herr­schaft der »Schi­cki­mi­ckis« (der er in sei­nem »Plä­doy­er für eine bedroh­te Unart« nach­sich­tig beur­teilt) ent­spannt und gefeit vor hys­te­ri­schen Über­re­ak­tio­nen. »Ich bin noch nach­sich­ti­ger als die Rétai­ser«, räumt er ein. »So sinn­los Ver­schwun­dungs­lust auch sein mag, Sozi­al­neid fin­de ich alle­mal unap­pe­tit­li­cher. Und ihn zu unter­drü­cken kann anstren­gend werden.«

In Eilerts Insel-Erzäh­lun­gen erfährt der Leser nicht nur, dass die Île de Ré in der Ver­gan­gen­heit Schau­platz von Besat­zun­gen durch eng­li­sche Trup­pen im 17. Jahr­hun­dert und deut­sche Mili­tär­hor­den in den Jah­ren zwi­schen 1940 und 1944 war und die Fes­tung von Saint-Mar­tin bis 1946 als Gefäng­nis dien­te, aus dem Sträf­lin­ge (wie Alfred Drey­fus) nach Fran­zö­sisch-Gua­ya­na trans­por­tiert wur­den. In den 1960er Jah­ren war die Insel auch Dreh­ort für Dar­ryl Zanucks Hol­ly­wood-Spek­ta­kel über die Nor­man­die-Inva­si­on der Alli­ier­ten 1944 (The Lon­gest Day, 1962) und Clau­de Sau­tets Klas­si­ker Les Cho­ses de la Vie (1970).

Neben die­sen kul­tu­rel­len Remi­nis­zen­zen beschreibt Eilert in dem Kapi­tel »Anar­chie in Ars« auch die »Underground«-Kultur des 19. Jahr­hun­derts in Gestalt des anar­chis­ti­schen Geo­gra­phen Éli­sée Reclus, der vie­le Som­mer in Ars-en-Ré ver­brach­te: Sei­ne »Anwe­sen­heit mach­te das ver­schla­fe­ne Ars-en-Ré zum Som­mer­la­ger der euro­päi­schen Anar­chis­ten«, schreibt Eilert. »Zu Besuch kamen füh­ren­de Theo­re­ti­ker der Bewe­gung wie der sagen­um­wit­ter­te Fürst Pjotr Ale­xe­je­witsch Kro­pot­kin, selbst Geo­graph wie Reclus.« Für Peter Mar­shall, einen zeit­ge­nös­si­schen His­to­ri­ker des Anar­chis­mus, reprä­sen­tier­te Reclus nicht nur einen Vor­läu­fer der sozia­len Öko­lo­gie, son­dern nahm in sei­ner Geg­ner­schaft zur Tier­schläch­te­rei und indus­tri­el­len Fleisch­her­stel­lung Argu­men­te des Vega­nis­mus in einer Neu­de­fi­ni­ti­on der mensch­li­chen Zivi­li­sa­ti­on vor­weg. Für Eilert steht der Begriff »Anar­chis­mus« jedoch nicht im ideo­lo­gi­schen Kampf­feld, son­dern im post­mo­der­nen Refu­gi­um der Anar­chie. »Ich stel­le mir unter Anar­chis­mus die fröh­lichs­te Spiel­art des Anti­au­to­ri­tä­ren vor«, schreibt er, »womög­lich den ein­zi­gen Ismus, der kei­ner­lei Ver­pflich­tung mit sich bringt, eine Form von Selbst­er­mäch­ti­gung, die so wie alles erlaubt – alles außer Ernst­haf­tig­keit.« Damit beschreibt Eilert jedoch ledig­lich eine post­mo­der­ne Spiel­art des Anar­chis­mus, die sich im Any­thing goes aus­tobt, die his­to­ri­schen und poli­ti­schen Aus­wir­kun­gen des anar­chis­ti­schen Aktio­nis­mus bana­li­siert und die Bespit­ze­lung und Über­wa­chung der Anar­chis­ten auf der Île de Ré bagatellisiert.

Doch auch wenn Eilert der Legen­de von der »fröh­li­chen Anar­chie« erliegt und das Ver­lags­mar­ke­ting sein Buch als »Insel-Plau­de­rei­en eines beken­nen­den Bohe­mi­ens« (die­se Beschrei­bung erin­nert eher an belang­lo­ses See­bär­ge­schwa­fel in einer schmud­de­li­gen Hafen­ka­schem­me denn an akri­bisch recher­chier­te und gut gear­bei­te­te Tex­te) falsch eti­ket­tiert, ist die­se Hom­mage an Île de Ré ein über­aus lesens­wer­tes Werk, das zudem mit einem beträcht­li­chen Erkennt­nis­ge­winn aufwartet.

© Jörg Auberg 2022 (2022–09-05)

Bernd Eilert.
Mei­ne Île de Ré.
Ham­burg: Mare Ver­lag, 2022.
192 Sei­ten, 20 Euro.
ISBN: 978–3‑86648–653‑9.

 

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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