Männerwelt des Geistes Ronnie Grinberg untersucht die Maskulinität der Intellektuellen von Jörg Auberg Im zweiten Teil von Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler träumen die deutschen Arbeiter und Angestellten von »Amerika« als einem utopischen Ort, wo man »hochkommen« könne, ohne sich »wie hier umsonst zu schinden«, und zitierten Goethe: »Amerika, du hast es...
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- Ronnie A. Grinberg: Write Like a Man6. Dezember 2024Männerwelt des Geistes Ronnie Grinberg untersucht die Maskulinität der Intellektuellen von Jörg Auberg Im zweiten Teil von Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler träumen die deutschen Arbeiter und Angestellten von »Amerika« als einem utopischen Ort, wo man »hochkommen« könne, ohne sich »wie hier umsonst zu schinden«, und zitierten Goethe: »Amerika, du hast es besser«.1 Der deutsche Dichterfürst hatte die USA gerühmt, »keine verfallenen Schlösser« zu besitzen und ohne unnützes Erinnern auszukommen: »Dem Teufel gehörte der ganze Plunder.«2 White Noise Auf dem amerikanischen Kontinent wurde dieses Fehlen von Traditionen und historischer Erinnerung jedoch nicht überall gefeiert. In seinem definitiven Essay »The New York Intellectuals« aus dem Jahre 1968 lamentierte der New Yorker Literaturkritiker Irving Howe über eine fehlende »Intelligenzija« in der kulturellen und politischen Geschichte der USA: US-amerikanische Intellektuelle – ob als Individuen oder Gruppen – hätten stets in Isolation agiert. Einzig die »New Yorker Intellektuellen«, die sich in den 1930er Jahren um die Zeitschrift Partisan Review und später um Publikationsorgane wie Politics, Commentary, Dissent, New York Review of Books oder Public Interest gruppierten, kamen laut Howe der Vorstellung einer »Intelligenzija« am nächsten, da sie mit ihren politischen und kulturellen Vorstellungen vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Antikommunismus international als essenzielles Instrument institutionalisiert und mit Regierungsgeldern aus diversen Quellen finanziert wurde, das »Bewusstsein der Nation« prägte.3 In Howes Definition, die für die Historiografie das bestimmende Narrativ wurde, waren die New Yorker Intellektuellen eine Gruppe von »freischwebenden« Geistern, die ihren Ursprung im linken oder linksradikalen Milieu hatten, Literaturkritik mit sozialkritischem Schwerpunkt betrieben, in den kulturellen Kreisen New Yorks nach Brillanz und Anerkennung strebten und zumeist jüdischer Herkunft waren. In einer Fußnote schwächte Howe die »Betonung der jüdischen Ursprünge« als eine »Verdichtung der Realitäten« und »Bezeichnung der Einfachheit halber« ab: Im Klartext sollte der Begriff die »Intellektuellen New Yorks« bezeichnen, die »in den Dreißigern auftauchten, von denen die meisten jüdisch« waren.4 Street Fighting Men In ihrer Studie Write Like a Man: Jewish Masculinity and the New York Intellectuals rekurriert Ronnie Grinberg auf Howes Definition, um ihre These vom Zusammenspiel von Maskulinität und Dominanz im New Yorker Intellektuellenmilieu zu belegen. In ihrem preisgekrönten Essay »Neither ›Sissy‹ Boy Nor Patrician Man: New York Intellectuals and the Construction of American Jewish Masculinity«5 skizzierte sie, wie viele der New Yorker Intellektuellen aufgrund ihrer Herkunft als jüdische Immigranten der zweiten Generation ihr maskulines Selbstbild in ihrem intellektuellen Heranwachsen entwarfen und die ideologische Auseinandersetzung mit Kontrahenten und Konkurrenten als eine fortgesetzte Form des streetfightings begriffen.6 In ihrem Buch verengt Grinberg die Gruppe der New Yorker Intellektuellen (noch stärker und ausgeprägter als Howe) auf ihren jüdischen Charakter (wobei zentrale nicht-jüdische Mitglieder wie Dwight Macdonald, Frederick W. Dupee oder Edmund Wilson weitgehend ausgeblendet werden) und fixiert Maskulinität auf die jüdisch-talmudische Tradition, aus der der aggressive säkulare Intellektuelle hervorgeht. In ihrer Argumentation beruft sich Grinberg auf das autobiografische Narrativ von Autoren wie Alfred Kazin und Irving Howe7, in dem die gescheiterten Versuche der Assimilation der ersten Generation der Immigranten und der Verlust des dominanten Status der Väter in den Familien geschildert werden. Der Vater erschien häufig als »Versager«, der nicht für den Lebensunterhalt der Familie sorgen konnte, während Mütter als starke Frauen auftraten. Maskulinität für die Heranwachsenden war ein Medium zur Selbstbehauptung auf den Straßen und in den Alkoven des New Yorker City College, wobei Dominanz und Unterwerfung die Grundstrategien der Auseinandersetzung waren. Wie in einer Streetgang oder in einem Racket wurde Schwäche nicht geduldet: In Seminaren des von seinen Schülern verehrten Philosophielehrers Morris Raphael Cohen herrschten Aggressivität, Streit, Polemik und zur Schau gestellte Männlichkeit vor. In Grinbergs Perspektive war »Intellektualismus, nicht Radikalismus« stets zentraler für die Konzeption von Maskulinität in den Kreisen der New Yorker, wobei sie keine neuen Erkenntnisse vermittelt, sondern lediglich die Ernsthaftigkeit des radikalen Bewusstseins und Engagements der New Yorker Intellektuellen in den 1930er Jahren in Abrede stellt, wie es vor ihr schon Autoren wie Terry Cooney und Neil Jumonville taten.8 Komplizenschaft und Hierarchie Die trübe Ironie der Geschichte war, dass auch Frauen – sofern es ihnen gelang, in dieses Milieu vorzudringen – »wie Männer schrieben«. Sie unterwarfen sich der Ökonomie und Machtmechanismen oder Gewalt der »männlichen Herrschaft« (wie Pierre Bourdieu diesen Prozess beschrieb): »Die Grundlage der Macht der Worte wird durch die Komplizenschaft gebildet, die sich mittels der Worte zwischen einem in einem biologischen Körper fleischgewordenen sozialen Körper, dem des Wortführers, und den biologischen Körpern herstellt, die sozial zugerichtet, seine Anweisungen anzuerkennen, aber auch seine Ermahnungen, seine Anspielungen oder seine Befehle .«9 Obwohl das vorherrschende Narrativ sowohl in den Autobiografien von »Partizipanten« als auch in wissenschaftlichen Historiografien die Chimäre der »freischwebenden Intelligenz« New Yorks, herrschte in den ökonomischen, kulturellen und politischen Niederungen des intellektuellen Apparats ein »Korpsgeist« vor, der (mit den Worten Bourdieus) die »Getreuen« und »Gläubigen« mit den Renditen aus dem angehäuften kulturellen Kapital versorgt wurden.10 Auch im Milieu der New Yorker Intellektuellen herrschte von Anbeginn eine »Hierarchie der Geschlechter« vor11 (wie Simone de Beauvoir den Herrschaftsraum beschrieb). Obwohl der Betrieb ohne die Zuarbeit von Frauen als Typistinnen, Redaktionssekretärinnen, Lektorinnen, Ehefrauen und Mütter nicht lauffähig war und der Mann ohne sein »Vasallin«12 nicht auskam, blieb sie in den Männerbiografien der zurückliegenden Jahrzehnte weitgehend unsichtbar. Dwight Macdonalds »Ein-Mann-Zeitschrift« Politics (wie Hannah Arendt sie im Rückblick charakterisierte) wäre ohne die Unterstützung seiner damaligen Ehefrau Nancy Macdonald (geb. Rodman) – sowohl in finanzieller als auch in arbeitstechnischer Hinsicht – nicht denkbar gewesen: Realiter war sie – wie es der italienische Emigrant und New Yorker Autor Niccoló Tucci ausdrückte – »die Seele von Politics«.13 Auch Dissent, von Irving Howe und anderen ehemaligen trotzkistischen Aktivisten 1954 gegründet, war äußerlich ein ausschließlich »männliches« Unternehmen (bis in die 1980er Jahre gab es kaum weibliche Mitglieder in der Redaktion), obwohl Redakteursehefrauen wie Simone Plastrik oder Rose Coser die »Geschäftsleitung« übernahmen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums agierten Ehefrauen männlicher »Stars« im New Yorker Kulturmilieu wie Lionel Trilling oder Norman Podhoretz als »Vasallinnen« ihrer Ehemänner, fühlten sich jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung zurückgesetzt und reklamierten einen Teil des Erfolges für sich. Diana Trilling, die sich über kleine Rezensionsaufträge an die »Meisterklasse« der New Yorker Intellektuellen herantastete, verachtete die »weibliche Sensibilität« einer Virginia Woolf und sah ihre Bestimmung darin, »wie in Mann zu schreiben«.14 The Whole Sick Crew »Die New Yorker Intellektuellen waren eine streitsüchtige und unsympathische (jüdische?) Familie«, merkte der New Yorker Literaturhistoriker Eugene Goodheart an, »voller begabter, neidischer, vom Konkurrenzdenken geprägter Geschwister, die meistens schlecht übereinander dachten.«15 Dies schlug sich auch im Privatleben nieder: Als Mary McCarthy mit Philip Rahv, dem proletarischen Gründer und »Befehlshaber« der Partisan Review liiert war, schlief sie mit Edmund Wilson, einem der führenden Literaturkritiker der Zeit, weil er über »einen besseren Prosastil« verfügte und der »Oberklasse« in gesellschaftlicher Hinsicht angehörte. Sex war für sie Mittel zum sozialen Aufstieg; gleichzeitig bedauerte sie, dass sie – »verführt« vom Alkohol – mit diesem »fetten, aufgeblasenen Mann aus keinem Grund« geschlafen habe. Grinberg kommentiert die Episode mit dem Satz: »Jeder schlief mit jeder in jenen Tagen.«.16 Andererseits fühlten sich männliche Intellektuelle von den »dunklen Damen« des New Yorker Establishments erotisch und sexuell erregt oder auch abgeschreckt. Irving Howe stellte in seinen Memoiren die weibliche Attraktivität Hannah Arendts in Abrede, um ihre Anziehungskraft über »messerscharfe Gesten«, »imperialen Blick« und »hängenden Zigarette« hervorzuheben.17 Der Literaturkritiker Alfred Kazin hob die »dunkle, schattenhaftige« Seite ihres Erscheinens hervor, während Philip Rahv sie als »gutaussehenden Mann« beschrieb.18 »Maskulinität« im herkömmlichen Sinne – ein Begriff, den Grinberg mehr als dreihundert Mal in ihrem Buch benutzt – ist ein ständig wiederkehrendes Motiv: Während »Radikalismus« (ob in Form des Kommunismus, Anarchismus oder Marxismus in den 1930er Jahren) als Ausdruck der Unreife gilt, preist Grinberg – dem Narrativ der dominanten Post-1989-Historiografie folgend – den Liberalismus des Kalten Krieges als »reife Ideologie«, als »Gegengift« zur »Krankheit des Kommunismus der 1930er Jahre« , wobei »Reife« ein Synonym für »Vernunft« ist.19 Für Grinberg ist Maskulinität ein monokausales Konzept, dem alle Entwicklungen in politischer, kultureller und ökonomischer Hinsicht untergeordnet werden, während die Mechanismen der Macht und die politische Ökonomie in der Zirkulation von Ware, Produktion und Akkumulation (auch in der New Yorker Medienindustrie) keine Rolle spielen. Kritiklos übernimmt Grinberg das Narrativ, das angeblich »tiefe Wissen über den Marxismus« habe die New Yorker Intellektuellen befähigt, die politische Öffentlichkeit in Zeiten des Kalten Krieges zu steuern, ohne in Betracht zu ziehen, dass ihr politisches Konvertitentum vor allem ein Instrument des Selbstmarketings und der »kulturellen Eindämmung« war, die sich gegen Vorstellungen richtete, welche der dominanten gesellschaftlichen Hegemonie widersprachen.20 Die »weibliche Fraktion« der New Yorker Intellektuellen – bestehend aus Elizabeth Hardwick, Diana Trilling, Susan Sontag sowie Mary McCarthy und Hannah Arendt – war bestenfalls ambivalent gegenüber den feministischen Strömungen der Zeit (wie sie beispielsweise in Kate Milletts bahnbrechendem Buch Sexual Politics aus dem Jahre 1970 zum Ausdruck kam) , während der konservativ geprägte Teil dieser Fraktion (Trilling und Midge Decter) die »Verweichlichung« der Maskulinität im Zuge der »Gegenkultur« der Beats und später der »Hippies« als systemische Krise beschrieben. Homosexuelle waren laut Decter »keine wirklichen Männer«, während sie in der Wahrnehmung des »richtigen Kerls« Norman Mailer nur als »kulturelle Outlaws«, »Perverse« und »Psychopathen« der Gegenkultur firmierten.21 Phallus und Wahn Das »Männlichkeitsdilemma«, das Grinberg als »Ideologie der jüdischen Maskulinität« beschreibt, eskamotiert den »phallischen Narzissmus«, mit dem Grinberg ihr Buch eröffnet und repetierend den »Testeron-getriebenen literarischen Zirkel« der New Yorker Intellektuellen beschreibt.22 Als »Männerbund« vertraten die New Yorker Intellektuellen – trotz des Eintretens für individuelle und künstlerische Freiheit – in klassischer Racket-Manier stets nur die eigenen Interessen, die sie in der Hierarchie voranbringen sollten. »Das Interesse hat kein Gedächtnis«, schrieb Marx 1842, »denn es denkt nur an sich. Das eine, worauf es ihm ankommt, sich selbst, vergißt es nicht. Auf Widersprüche aber kommt es ihm nicht an, denn mit sich selbst gerät es nicht in Widerspruch.«23 Im Gegensatz zu anderen US-amerikanischen Intellektuellen wie beispielsweise Murray Bookchin (der in 1930er Jahren in einem ähnlichen Umfeld aufwuchs wie Irving Howe, Alfred Kazin oder Daniel Bell) versuchten sie nie, die Entwicklung einer ökologischen Gesellschaft jenseits von Hierarchie und Herrschaft anzustoßen, sondern verharrten stets im Racket-Muster der eigenen Interessenexistenz, um schließlich auf die Freiheit in kultureller und sozialer Hinsicht zu verzichten und demokratische Prinzipien der Macht der neuen Rechten und ihrer Vasallen (für die neokonservative New Yorker Intellektuelle wie Norman Podhoretz, Midge Decter, Irving Kristol oder Saul Bellow eintraten) unterzuordnen.24 Podhoretz, der sich über die »dunklen Damen der amerikanischen Literatur« wie Hannah Arendt oder Mary McCarthy mokierte und gegen »unmännliche« Beatniks Stimmung machte, hatte kein Problem damit, sich hinter den »Maskulinisten« Donald Trump als Unterstützer einzureihen, der noch im Wahlkampf 2016 ausrief: »Grab them by the pussy. You can do anything.« Trump war für Podhoretz »keine Memme« (sissy boy im New Yorker Jargon), sondern ein »Kerl, der zurückschlug«.25 Leider hat Grinberg den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt (von dem die gesamte Gesellschaft betroffen ist) nicht konsequent verfolgt: Auch im »geistigen« oder medialen Bereich ist (wie Bourdieu es bezeichnete) »der Wille zur Herrschaft, zur Ausbeutung oder zur Unterdrückung« vorhanden26 Dieser äußert sich auch im »intellektuellen« Milieu. © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Ronnie A. Grinberg. Write like a Man: Jewish Masculinity and the New York Intellectuals. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2024. 384 Seiten, 35 US-Dollar. ISBN: 9780691193090. Bildquellen (Copyrights) Cover Write Like a Man © Princeton University Press Trailer Zelig © Orion Pictures Portrait Ronnie A. Grinberg © Princeton University Press Video Day at Night: Irving Howe © CUTV Video Zur Person: Hannah Arendt © SFB TV Dokumentation Sturm auf das Capitol, 6. Januar 2021 © France24 Nachweise Hermann Broch, Die Schlafwandler: Eine Romantrilogie (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994), S. 211 ↩ Johann Wolfgang Goethe, »Zahme Xenien IX«, in: Sämtliche Gedichte (Frankfurt/Main: Insel, 2007), S. 1020 ↩ Zur Rolle der westlichen Intellektuellen im Kalten Krieg cf. Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War (London: Granta, 1999), und Andrew N. Rubin, Archives of Authority: Empire, Culture, and the Cold War (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2012) ↩ Irving Howe, Decline of the New (London: Victor Gollancz, 1971), S.214–215Fn ↩ Ronnie A. Grinberg, »Neither ›Sissy‹ Boy Nor Patrician Man: New York Intellectuals and the Construction of American Jewish Masculinity«, American Jewish History, 98, Nr. 3 (Juli 2014): 127–151 ↩ Cf. Jörg Auberg, New Yorker Intellektuelle: Eine politisch-kulturelle Geschichte von Aufstieg und Niedergang, 1930–2020 (Bielefeld: Transcript-Verlag, 2022), S. 43 ↩ Alfred Kazin, A Walker in the City (1951), Starting Out in the Thirties (1965) und New York Jew (1978); Irving Howe (mit Kenneth Libo), World of Our Fathers: The Journey of the East European Jews to America and the Life They Found and Made (1976), und A Margin of Hope: An Intellectual Autobiography (1982) ↩ Ronnie Grinberg, Write Like a Man: Jewish Masculinity and the New York Intellectuals (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2024), S. 43; siehe auch Terry A. Cooney, The Rise of the New York Intellectuals: Partisan Review and its Circle, 1934–1945 (Madison: University of Wisconsin Press, 1986), und Neil Jumonville, Critical Crossings: The New York Intellectuals in Postwar America (Berkeley: University of California Press, 1991) ↩ Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. Margareta Steinrücke, übers. Jürgen Bolder (Hamburg: VSA, 2015), S. 83; siehe auch Bourdieu, Die männliche Herrschaft, übers. Jürgen Bolder (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2012), S. 90–100 ↩ Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 84 ↩ Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau, übers. Uli Aumüller und Grete Osterwald (Reinbek: Rowohlt, 2018), S. 57 ↩ Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 181 ↩ Hannah Arendt, »He’s All Dwight«, in: Arendt, Thinking Without a Banister: Essays in Understanding, 1953–1975, hg. Jerome Kohn (New York: Schocken, 2018), S. 397; Michael Wreszin, A Rebel in Defense of Tradition: The Life and Politics of Dwight Macdonald (New York: Basic Books, 1994), S. 136 ↩ Grinberg, Write Like a Man, S. 80–81 ↩ Eugene Goodheart, The Reign of Ideology (New York: Columbia University Press, 1997), S. 86, Übersetzung zitiert nach Auberg, New Yorker Intellektuelle, S. 24 ↩ Mary McCarthy, Intellectual Memoirs: New York 1936–1938 (New York: Harcourt Brace, 1992), S. 101–105; Grinberg, Write Like a Man, S. 55 ↩ Howe, A Margin of Hope: An Intellectual Autobiography (San Diego: Harcourt Brace Jovanovich, 1982), S. 270 ↩ Richard M. Cook, Alfred Kazin: A Biography (New Haven: Yale University Press, 2009), S. 319; Grinberg, Write Like a Man, S. 57 ↩ Grinberg, Write Like a Man, S. 93; siehe auch Richard H. Pells, The Liberal Mind in a Conservative Age: American Intellectuals in the 1940s and 1950s (Middletown, CT: Wesleyan University Press, ²1989), S. 122; und Ignazio Silone, Der Fascismus: Seine Entstehung und seine Entwicklung (1934; rpt. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik, 1984), S. 46–58 ↩ Cf. Andrew Ross, No Respect: Intellectuals and Popular Culture (New York: Routledge, 1989), S. 42–64 ↩ Grinberg, Write Like a Man, S. 221; Norman Mailer, Mind of an Outlaw: Selected Essays, hg. Philip Sipiora (London: Penguin, 2013), Essays »The Homosexual as Villain« (1955) und »The White Negro« (1957), S. 14–20, 41–65; Kate Millett, Sexual Politics (New York: Columbia Press, 2016), S. 314–335 (über Norman Mailer) ↩ Grinberg, Write Like a Man, S. 123, 1; zum »phallisch« besetzten »Männlichkeitsdilemma« cf. Philip Zahner, »Die Fühlform des islamischen Gegensouveräns: Über misogyne und antisemitische Gewalt am 7. Oktober«, sans phrase, Nr. 24 (Sommer 2024), S. 133 ↩ Karl Marx, »Debatte um das Holzdiebstahlsgesetz«, in MEW, Bd. 1 (Berlin: Dietz, 2006), S. 132; Hinweis auf das Marx-Zitat von Philip Zahner, »Die Fühlform des islamischen Gegensouveräns«, S. 105 ↩ Murray Bookchin, Remaking Society (Montreal: Black Rose Books, 1989), S. 19–73; John Ganz, When the Clock Broke: Con Men, Conspiracists, and How America Cracked Up in the Early 1990s (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2024), S. 56–79 ↩ Auberg, New Yorker Intellektuelle, S. 240, 271Fn.; Grinberg, Write like a Man, S. 273; Trump-Zitat: BBC, 9. Oktober 2016, https://www.bbc.com/news/election-us-2016–37595321 ↩ Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 96 ↩ […]
- Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien27. Oktober 2024Die Maschinerie der Verblendung Aufstieg und Niedergang der Zeitschrift »Filmkritik« von Jörg Auberg In einem programmatischen Artikel zur gesellschaftlichen Rolle des Filmkritikers konstatierte Siegfried Kracauer wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, der »Filmkritiker von Rang« sei »nur als Gesellschaftskritiker denkbar«. Die Mission dieses Kritikers sei es, »die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen«.1 Diese emphatische Betonung der kritischen Funktion des professionellen Filmjournalisten stand im fundamentalen Widerspruch zur »Deprofessionalisierung« des Kritikers zum bloßen Claqueur der Unterhaltungs- und späteren Kulturindustrie, wie sie – mit den Worten des Historikers Richard J. Evans – Joseph Goebbels in seiner stromlinienförmigen Programmatik der »Mobilisierung des Geistes« in die mediale Praxis (die sich auf Agitation und Propaganda beschränkte) umsetzte.2 Wie deutsch ist es Kritik sei aller Demokratie wesentlich, insistierte Theodor W. Adorno 1969 in einem seiner »Kritischen Modelle«, das vom Alp der Vergangenheit gezeichnet ist. »Daß Goebbels den Begriff des Kritikers zu dem des Kritikasters erniedrigen und mit dem des Meckerers hämisch zusammenbringen konnte«, schrieb Adorno, »und daß er die Kritik jeglicher Kunst verbieten wollte, sollte nicht nur freie geistige Regungen gängeln.«3 Für Adorno waren die »deutsche Kritikfeindschaft« und die »Rancune gegen den Intellektuellen« (als Transporteur der Kritik) Teil des autoritären, obrigkeitsstaatlichen Systems, das sich in den 1930er Jahren durchsetzte und in jüngerer Vergangenheit in Form neofaschistischer und autokratischer Tendenzen gegen kritisches Denken neuerlich formiert. Adorno, der »Remigrant« (wie die aus dem erzwungenen Exil zurückgekehrten Emigranten nach 1945 bezeichnet wurden), hielt den Finger in die Wunde, »das beschädigte deutsche Verhältnis zur Kritik«, das – mit einem Wort Ulrich Sonnemanns – im »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« in der Folgenlosigkeit verendete.4 Filmkritik als oppositionelle Praxis Für den einstigen Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, war die 1957 gegründete Zeitschrift Filmkritik ein linkes Oppositionsorgan gegen das restaurative Nachkriegsdeutschland5. In einer Geschichte der »Frankfurter Schule« charakterisiert der Historiker Jörg Später die Zeitschrift als »ein Seminar, das in Frankfurt hätte angesiedelt sein können«.6 In dem von Rolf Aurich und Michael Wedel herausgegebenen Band Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien wird weniger die Geschichte der Zeitschrift (die in der »Wendezeit« der Bundesrepublik nach längerem Siechtum 1984 verscharrt wurde) aufbereitet, als die Rollen einzelner Mitarbeiter (in der Männerwirtschaft war einzig die Filmpublizistin Frieda Grafe präsent) in den Medienmaschinen der Bundesrepublik auszuleuchten, die damals noch ausschließlich öffentlich-rechtlich organisiert und strukturiert waren (in erster Linie WDR, NDR, SFB, SWF und ZDF). Im eröffnenden Essay über den Filmkritik-Begründer Enno Patalas (1929–2018) – neben Ulrich Gregor (geb. 1932) einer der Doyens der bundesrepublikanischen Filmgeschichtsschreibung – rekurriert Claudia Lenssen auf die opulente, aber unvollendet gebliebene Studie Medienintellektuelle in der Bundesrepublik des Historikers Axel Schildt, in der Intellektuelle, die sich mit Film beschäftigten, außen vor blieben. »Die ›Medien‹ werden ausschließlich als Plattformen für ihre publizistische Textproduktion betrachtet«, kritisiert Lenssen, »sind jedoch nicht Gegenstand der Reflexion.«7 Selbst Alexander Kluge – der als Filmemacher, Autor, Intellektueller und Medienproduzent zwischen den verschiedenen Bereichen der intellektuellen Produktion wandelte – wird als »Medienintellektueller« bei Schildt nur einmal in einem Zitat erwähnt.8 Obwohl die Filmkritik sich in der Tradition von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer begriff und die Kritik der Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung in ihren Seiten fortführte, haftete dem Film noch immer der Ruch des Verkommenen und der Verblödung an. Auch wenn Adorno später Kluge und andere »Medienintellektuelle« protegierte, blieb doch sein Urteil aus den Minima Moralia präsent: »Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus.«9 Politik vs. Ästhetik Von Beginn an durchzog die Redaktion der Zeitschrift ein Riss zwischen einer »ästhetischen Linken« (repräsentiert von Enno Patalas, Helmut Färber u. a.) und einer »politischen Linken« resp. der »Kracauer-Fraktion« (in Person von Ulrich Gregor, Theodor Kotulla u. a.), der nicht nur das anfänglich gemeinsam von Patalas und Gregor betriebene Projekt Geschichte des Films (1962) zum Ein-Mann-Unternehmen machte10, sondern auch nach 1969 zu einer grundsätzlichen neuen Ausrichtung unter der Ägide der »ästhetischen Linken« führte, da die »politische Linke« der Zeitschrift den Rücken gekehrt hatte.11 Zunächst aber setzten Autoren wie Theodor Kotulla (1928–2001) und Gerhard Schoenberner (1931–2012), die ihre publizistische Arbeit als Zeitschriftenredakteure mit einer praktischen Film- und Fernseharbeit verbanden, Akzente im Sinne Kracauers und der »Kritischen Theorie« nach 1945, indem sie einerseits das Verdrängte in der Gegenwart in einem kritisch-realistischen Ansatz thematisierten und zum anderen die »Nachhaltigkeit« des Nationalsozialismus – sowohl im institutionalisierten Denken als auch in der nahezu bruchlosen Fortführung von NS-Karrieren in der bundesrepublikanischen Kulturindustrie in Personen wie Alfred Weidenmann, Herbert Reinecker und Wolfgang Liebeneiner vor Augen führten, wie es beispielsweise Schoenberner in seiner zwölfteiligen WDR-Reihe Film im Dritten Reich: Exkurse zur propagandistischen Massenführung aus dem Jahre 1969 demonstrierte. Wie viele Filmemacher aus dem Filmkritik-Umfeld war auch Kotulla (der bis 1968 für die Filmkritik schrieb und 1988 einen Schimanski-Tatort mit Götz George inszenierte) von Jean-Luc Godard und Robert Bresson geprägt. »Theodor Kotulla kam zur ›Filmkritik‹, weil er aufbgehrte gegen die Traditionen des zeitgenössischen Feuilletons, und er ging zum Fernsehen, obwohl er die dort vorherrschenden Konventionen ablehnte«, schreibt Anna Kokenge in ihrem Kotulla-Essay. »Die ›Filmkritik‹ war seine Schule und wenngleich sie keine gute Einkommensquelle gewesen sein mag, so war sie für seine spätere Arbeit doch unbezahlbar.«12 Die Strenge der Filmkritik-Publizistik sah auch Ulrich Gregor in Kotullas bekanntestem Film – Aus einem deutschen Leben (1977) – fortwirken: In diesem Film porträtierte Götz George einen KZ-Kommandanten, der auf der historischen Person Rudolf Höß basierte. »Die Film war intelligent strukturiert und mit bressonhafter Strenge gemacht«, lobte Gregor. Die »manchmal gespenstische Kühle der Bilder, der ruhige Rhythmus der Dramaturgie unterstreichen die didaktisch-aufklärerische Wirkung des Films«, der eine methodischer Gegenentwurf zur US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust war.13 »Dass Kotulla seine Gegen-Geschichte als Kritiker der ›Kulturinstrie‹ stets im Massenmedium erzählte«, schreibt Kokenge, »mag widersinnig srscheinen, kann aber ebenso als die empfundene Verantwortung gedeutet werden, gerade dort ›gesellschaftlichen Sinn für Realität‹ mitzugestalten.« Diesen »gesellschaftlichen Sinn für Realität« lassen andere Beiträge des Bandes vermissen. So verliert sich Gary Vanisian in der Analyse von Ulrich Gregors Beiträgen unter dem Titel Film kritisch (die zwischen 1967 und 1970 unter der Regie von Michael Strauven im NDR und SFB entstanden) in detaillierten Analysen über die medienstrukturelle Repräsentation des Gesehenen und Gehörten, während die kritische Form verloren geht. Raunend wird ein Disput zwischen Gregor und dem Filmpublizisten Reinhold E. Thiel über das Projekt der »Freunde der Deutschen Kinemathek« in West-Berlin zur Sprache gebracht, ohne dass der Autor jegliche Hintergrundinformation liefert. Erst in einem späteren Artikel wird das Rätsel aufgelöst.14 Niedergang und Ende In den 1970er und 1980er Jahren verlor die Zeitschrift – trotz Mitarbeiter wie Harun Farocki (1944–2014)15 – zunehmend an Bedeutung, da die Autoren der Zeitschrift sich für wichtiger nahmen als die kritische Analyse. Symptomatisch für diese Tendenz war Wolf-Eckart Bühler (1945–2020), der in den späten 1970er-Jahren Protagonisten des »anderen Amerikas« wie Leo T. Hurwitz, Abraham Polonsky, Irving Lerner und Sterling Hayden für sich entdeckte. Im Gegensatz zu anderen internationalen Zeitschriften wie Jump Cut, Film Quarterly, Sight & Sound, Cahiers du Cinéma oder Positif (die zur gleichen Zeit auf die linke Gegenkultur der 1930er und 1940er Jahre stießen16) blieben die Film-Essays Bühlers zumeist in der Verklärung der »roten Helden« der Vergangenheit stecken und betrieben eine »Ästhetisierung des Politischen«, in der politische Mythen in ein historisches Kontinuum eingegraben wurden, während die Konstruktion einer konkreten politischen Utopie außen vor blieb. In den späteren kritischen Abhandlungen über Hayden und Polonsky fanden sie keine Erwähnung.17 Im Gegensatz zu Kotulla und anderen »Medienarbeitern« des Betriebes wird Bühler (WEB) von dem Kultur-Feuilletonisten Alf Mayer18 zum Maquisard gegen den bürgerlichen Kulturbetrieb stilisiert, ohne dass er zu einer kritischen Selbstreflexion innerhalb des Betriebes fähig wäre. »Kracauers Ideologiekritik, auf die Patalas & Co sich gerne beriefen«, gibt das Betriebssprachrohr zum Besten, »ist für WEB bloße Agentin des Zeitgeistes, ›nicht des Geistes‹, ist überkommenes Instrument, rein retrospektiv, nicht nach vorne, in die neue Zeit gerichtet …«19 Diese intellektuelle Armseligkeit ließ auch die Filmkritik verdientermaßen auf der Müllhalde der Geschichte verenden. Oder mit Adorno gesprochen: »Der totale Zusammenhang der Kulturindustrie, der nichts ausläßt, ist eins mit der totalen gesellschaftlichen Verblendung.«20 © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Rolf Aurich und Michael Wedel (Hg.). Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien. München: edition text + kritik, 2024. 290 Seiten, 29 Euro. ISBN: 978–3‑96707–925‑8. Bildquellen (Copyrights) Porträt Siegfried Kracauer Archiv des Autors Cover How German Is It © New Directions Cover Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien © edition text + kritik Cover Filmkritik Archiv des Autors Foto Wolf-Eckart Bühler und Abraham Polonsky © Edition Filmmuseum München Nachweise Siegfried Kracauer, »Über die Aufgabe des Filmkritikers« (1932), in: Kracauer, Werke, Bd. 6:3: Kleine Schriften zum Film, 1932–1961, hg. Inka Mülder-Bach (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004), S. 63 ↩ Cf. Richard J. Evans, The Third Reich in Power, 1933–1939 (London: Penguin, 2006), S. 129–133; und Evans, Hitler’s People: The Faces of the Third Reich (London: Allen Lane, 2024), S. 177–178 ↩ Theodor W. Adorno, »Kritik« (1969), in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩ Adorno, »Kritik«, S. 791; Ulrich Sonnemann, »Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten: Deutsche Reflexionen(1963/85)«, in: Sonnemann, Schriften, Bd. 4, hg, Paul Fiebig (Springe: zu Klampen, 2014), S. 101–118 ↩ Rolf Aurich und Michael Wedel, Einleitung zu: Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien, hg. Aurich und Wedel (München: edition text + kritik, 2024), S. 14; hiernach zitiert als FZM ↩ Jörg Später, Adornos Erben: Eine Geschichte aus der Bundesrepublik (Berlin: Suhrkamp, 2024), S. 102 ↩ Claudia Lenssen, »Lebensthema Kino und Publizistik: Enno Patalas und die Medien«, in: FZM, S. 16 ↩ Axel Schildt, Medienintellektuelle in der Bundesrepublik, hg. Gabriele Kandzora und Detelef Siegfried (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 537 ↩ Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 21; zur differenzierten Analyse von Adornos Verhältnis zum Kino cf. Miriam Bratu Hansen, »Introduction to Adorno, ›Transperencies on Film‹ (1966)«, New German Critique, Nr. 24–25 (Herbst-Winter 1981–82), S. 186–198 ↩ Siehe Ulrich Gregors Vorwort zu: Geschichte des Films ab 1960 (Reinbek: Rowohlt, 1983), S. 9 ↩ Rolf Aurich, »Der Publizist: Reinhold E. Thiel zwischen Filmkultur, Filmkritik und Medien«, FZM, S. 158 ↩ Anna Kokenge, »Das Schreiben als Schule: Theodor W. Kotullas Weg von der Filmkritik zum Fernsehfilm«, FZM, S. 87 ↩ Gregor, Geschichte des Films ab 1960, S. 149 ↩ Gary Vanissian, »Medium des persönlichen Ausdrucks: Die Fernsehbeiträge von Ulrich Gregor«, FZM, S. 96; Aurich, »Der Publizist«, S. 158–159 ↩ Cf. Volker Pantenburg, »Film-Praxis und Text-Praxis: Harun Farocki und die Filmkritik«, in: Harun Farocki, Schriften, Bd. 4, hg. Volker Pantenburg (Berlin: Neuer Berliner Kunstverein, 2019), S. 449–466 ↩ Cf. Russell Campbell, »Film and Photo League: Radical Cinema in the 30s – Introduction«, Jump Cut, Nr. 14 (1977), S. 23–25, https://ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC14folder/FilmPhotoIntro.html; Max Pearl, »Cameras for Class Struggle«, Art in America, März-April 2021, https://www.artnews.com/art-in-america/features/cameras-for-class-struggle-workers-film-and-photo-league-1234590463/) ↩ Cf. Philippe Garnier, Sterling Hayden – L’Irrégulier (Paris: La Rabbia, 2019); Paul Buhle und Dave Wagner, A Very Dangerous Citizen: Abraham Lincoln Polonsky and the Hollywood Left (Berkeley: University of California Press, 2001); Abraham Polonsky: Interviews, hg, Andrew Dickos (Jackson: University Press of Mississippi, 2013); Larry Ceplair und Steven Englund, The Inquisition in Hollywood: Politics in the Film Community, 1930–1960 (Berkeley: University of California Press, 1983); Jörg Auberg, »Aufrecht gehen: Abraham Polonsky, Hollywood und die Schwarze Liste«, TheaterZeitSchrift, Nr. 27 (Frühjahr 1989), S. 120–133 ↩ Zur Selbstdarstellung cf. https://culturmag.de/author/alf-mayer ↩ Alf Mayer, »›Dabeisein heißt gehorchen‹: Zum Werk von Wolf-Eckart Bühler«, FZM, S. 252 ↩ Adorno, Minima Moralia, S. 275 ↩ […]
- Thomas Sparr: Zauberberge18. Juli 2024Der demokratische Tod Thomas Manns »Jahrhundertroman« Der Zauberberg von Jörg Auberg »Der Faschismus ist greisenhaft und böse, in jeglicher Gestalt.« Hans Mayer1 Rückblicke auf den Zauberberg IIm Herbst 1924 erschienen die beiden Bände des Romans Der Zauberberg, die – mit den Worten Thomas Manns in einer Einführung des Werkes für Studenten an der Princeton University im Jahre 1939 – »aus der der Konzeption der short story entstanden waren« und ihren Autor »zwölf Jahre in den Bann gehalten hatten«.2 Ursprünglich sollte der Text »nichts weiter sein als ein humoristisches Gegenstück zum ›Tod in Venedig‹, ein Gegenstück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas ausgedehnte short story«. Die »Arbeitszeit« an diesem Werk war durchaus notwendig, da sowohl Autor als auch intendiertes Lesepublikum eine schockhafte Entwicklung zu absolvieren hatten, wie Walter Benjamin 1936 die Erfahrung der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschrieb: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.«3 In der Diktion Thomas Manns hieß es: Es seien »Erlebnisse nötig gewesen, die der Autor mit seiner Nation gemeinsam hatte, und die er beizeiten in sich hatte kunstreif machen müssen, um mit seinem gewagten Produkt, wie einmal schon, im günstigsten Augenblick hervorzutreten.« Die »Probleme« des Romans seien nicht »massengerecht« gewesen, konzedierte der Dichter der Nation, »aber sie brannten der gebildeten Masse auf den Nägeln, und die allgemeine Not hatte die Rezeptivität des breiten Publikums genau jene alchimistische ›Steigerung‹ erfahren lassen, die das eigentliche Abenteuer des kleinen Hans Castorp ausgemacht hatte«. Noch im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkrieges brüstete sich Thomas Mann damit, dass der Zauberberg »ein sehr deutsches Buch« sei, und insistierte Mann, dass »fremdländische Beurteiler seine Weltmöglichkeit vollkommen unterschätzten«. Sein Protagonist Hans Castorp sei ein »Gralssucher«, der den Gral der Humanität aufspüren möchte, die auf »Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen« beruhe, wie der Autor des Zauberbergs dunkel formuliert. Einwände widerspenstiger Leser en Studenten (angesprochen als »Gentlemen«, da Princeton ein Männerhort des zukünftigen elitären Geistes war) empfahl der Dichterfürst eine mindest zweimalige Lektüre seines Werkes. »Wer aber mit dem ›Zauberberg‹ überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik kennen muß, um sie richtig zu genießen.« Das Vergnügen stellte sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfrage der NDR-Kulturredaktion aus dem Jahre 1975 bezüglich des gegenwärtigen Interesses am Werk Thomas Manns antwortete Alfred Andersch: »Unlängst habe ich versucht, den ›Zauberberg‹ wieder zu lesen – leider mußte ich das Experiment abbrechen. Das allzu innige Behagen am Stilistischen ging mir einfach auf die Nerven.« In der gleichen Umfrage gab Ror Wolf zu Protokoll: »Das, was mich am meisten interessiert im Zusammenhang mit Thomas Mann, ist die Frage: warum er mich nie interessiert hat.«4 In einem Interview mit dem Autor Alain Elkann kategorisierte Alberto Moravia den Zauberberg als »Unterhaltungsroman« und stellte ihn in eine Reihe mit André Gides Die Falschmünzer (1925) und Aldous Huxleys Kontrapunkt des Lebens (1928): »drei Romane, die mir nicht gefielen und mir nichts sagten«, beschrieb Moravia seine Aversion gegen die Prätentiosität dieser »Unterhaltungsromane« der Moderne und fügte wenig später hinzu: »Italo Calvino hat etwas Richtiges gesagt: daß Thomas Mann alles gesehen habe, aber von einem Balkon des 19. Jahrhunderts aus, wie alles zusammenstürzte. Ich halte das für eine gute und richtige Bemerkung. Thomas Mann hat geahnt, wie Europa enden würde, doch seine Perspektive war die einer inzwischen überholten bürgerlichen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wir dagegen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wirbel des Mahlstrom-Trichters stürzt.«5 Jenseits der Kritik elbst im »roten Jahrzehnt« der postfaschistischen Bundesrepublik Deutschland war Thomas Mann als »Dichter der Nation« über Kritik weitgehend erhaben. »Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill«, diagnostizierte Theodor W. Adorno in einem Beitrag für SDR im Mai 1969. »Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«6 Als Hanjo Kesting, der langjährige Leiter der NDR-Kulturredaktion, in einem kritischen Thesenartikel für den Spiegel Manns Verstricktheit in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus, seine elitäre Vorstellung von Demokratie und sein Misstrauen gegenüber dem Volk (das er in erster Linie als Masse und Mob wahrnahm) thematisierte und ihn als »Statthalter der bürgerlichen Kulturtradition« beschrieb, die längst verfault sei, echauffierte sich augenblicklich der zum absurden Klischee geronnene Phantombürger-Mob in den Leserbriefspalten des Spiegel, der den »Dichterfürsten« nicht von einem »Kritikaster« des notorischen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen wollte.7 Mittlerweile ist der »Rotfunk« abgewickelt, Hanjo Kesting seit 2006 im Ruhestand, und dem Autor der »polemischen Thesen« ist das »aufsässige Produkt« aus seiner »Sturm- und Drang-Zeit« peinlich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kesting im Vorwort zu seinem Buch Thomas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Verehrern des ›Zauberers‹.« Mittlerweile ist auch der ehemalige Kritiker Kesting zum »Verehrer« Thomas Manns konvertiert, auch wenn er nicht jeden Kritikpunkt widerrufen will. Doch erscheint ihm im Rückblick »das aus einem ödipalen Reflex entstandene Thesenpapier ziemlich unausgegoren«. 8 Schon wenige Jahre nach der Revolte und dem verkündeten Tod der Literatur verzwergten sich die »Schreibproduzenten« im Schatten des Riesen Thomas Mann. »Die Revolte ist vorüber, die Nostalgie geblieben«9, gab der linke Schriftsteller Gerhard Zwerenz 1979 zu Protokoll. Vier Jahre zuvor hatte Zwerenz in Rowohlts Literaturmagazin, dem Zentralorgan für die »Literatur nach dem Tod der Literatur«, den »Unterhaltungsschriftsteller« Thomas Mann als Vorbild für künftige Autor*innen der Literaturproduktion empfohlen. Von ihm sei zu lernen, insistierte Zwerenz, »wie man anschreibt gegen einen Vulgarismus, der die Welt zurückziehen« wolle. »Thomas Mann und der Faschismus waren unverträglich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwillig ausscheiden ließ. Wir können das Potential der Unverträglichkeit mit dem Faschismus durch Literatur vergrößern. Mehr können wir nicht. Aber ich halte das schon für sehr viel.«10 Selbst für den Marxisten Georg Lukács repräsentierte Thomas Mann im ideologischen Verfall der bürgerlichen Klasse noch »das Beste in der deutschen Bourgeoisie« und war in seinen Augen der »letzte große bürgerliche Autor«.11 Demokratie einer Elite n seinem schmalen Band Zauberberge tituliert der Literaturwissenschaftler und Verlagslektor Thomas Sparr Thomas Manns Roman Der Zauberberg als »Jahrhundertroman«, wobei unklar bleibt, wodurch dieser Roman den Rang eines »Jahrhundertromans« erhält. »Was macht diesen Roman«, fragt Sparr in seinem Vorwort, »nach einhundert Jahren so zugänglich, vergangen und doch gegenwärtig, erschlossen und doch rätsel‑, ja zauberhaft?«12 Für Sparr ist »Demokratie« das »Schlüsselwort des Romans«, und der Zauberberg ist eine überdimensionierte Revokation von Manns antieuropäischen und antidemokratischen Suaden in den Zeiten des Ersten Weltkrieges, als beispielsweise US-amerikanische Autoren wie John Dos Passos gegen die Barbarei der modernen industriellen Staatsmaschinerie opponierten, die sowohl die Eroica-Symphonie als auch die Ruinen von Reims produziert hatte.13 »In den Jahren des Ersten Weltkriegs führt Thomas Mann einen Feldzug gegen die Moderne«, schreibt Sparr, »gegen die Demokratie, gegen das, was er mit Geringschätzung ›Civilisation‹ nannte, an ihrer Spitze den ›Civilisationsliteraten‹, das vagabundierende Literatentum.«14 Im Zauberberg erweise sich »die Diskussion, die Auseinandersetzung, das Für und Wider« als »Kernelement der Demokratie«, argumentiert Sparr und stellt die These auf, der Zauberberg lasse sich »als demokratischer, ja sozialdemokratischer Roman lesen«.15 Seltsam mutet Sparrs Verständnis von Demokratie an. Der Tod sei, behauptet er, »im Zauberberg das große demokratische Element, so wie der Roman auf die sozialen Unterschiede achtet.«16 Ist das Wesen der Demokratie, dass alle an Krankheit oder auf dem »Weltfest des Todes«17 sterben können? Im Zauberberg existiert allenfalls eine »Demokratie von Ehrentischen«18 für die solventen kranken Bürger jenseits des »Flachlandes«, wo die Kreaturen hausen, welche die Zeche für die Barbarei zu zahlen haben. Die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit, die den Roman durchzieht, ist von Beginn von verschleierten Klassenverhältnissen gezeichnet, als ein »einfacher junger Mensch« namens Hans Castorp, der realiter ein Abkömmling einer bürgerlichen hanseatischen Familie ist, sich mit seiner »krokodilslernden Handtasche« auf die Reise zum Zauberberg begibt.19 Gesundheit sei in diesem Roman »so etwas wie die leibliche Seite von Demokratie«, konstatiert Sparr, während Krankheit »immer als moralisches, seelisches, auch geistiges Defizit« erscheine: Gesundheit sei in den Bildern Thomas Manns »immer nur vorübergehend, ein Zustand voller Täuschungen, Selbsttäuschungen«, während die Krankheit, »die unausweichliche Enttäuschung«, das letzte Wort behalte.20 Wie der marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konstatierte, enthalte der Zauberberg den Querschnitt durch die bürgerliche Gesellschaft der Zeit um 1914, doch alle seien krank und verurteilt. »Die bürgerliche Demokratie weist zwar den Weg ins Freie, doch diese freie Ebene hat die Gestalt eines Schützengrabens angenommen«, resümiert Mayer. »Nun geht es darum, mag Castorp untergehen, daß neue Generationen, die nicht mehr krank sind, bewußte Parteigänger des Lebens werden, statt solcher Krankheit und der todessüchtigen Nacht.«21 Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte die Erinnerung an Manns Engagement gegen den Faschismus in seinem US-amerikanischen Exil, während seine Formulierung »Weltfest des Todes« im Zauberberg »beschwiegen« wurde. Zumindest bei Kesting bestehen weiter Zweifel, ob Mann »die Realität des vier Jahre währenden großen Mordens auf den Schlachtfeldern Europas an sich herankommen ließ, als er seinen wütenden Geisteskampf austrug«22. Während der Schulabbrecher Mann, der sich als Künstler und Bürger in Personalunion inszenierte und für das »Negerfranzösisch«23 seiner Schulzeit schämte, das »Menschenmaterial« der industriellen Staatsmaschinerie ignorierte, lobte ihn Lukács als »Autor und Realist«, der nie »modern im dekadenten Sinne« gewesen sei.24 Die Koppelung von Moderne und Dekadenz als Gegenbild zum »Realismus« repetiert die Ranküne gegen das »vagabundierende Literatentum«, das sowohl dem Bürger als auch dem Bürokraten im Auftrag der Herrschaft suspekt ist. Das Gegenprogramm zur kranken Elitengesellschaft ist nicht die Utopie einer egalitär-demokratischen Gesellschaft, sondern das innerliche Strammstehen. »Wir sind wirklich etwas versimpelt«, erklärt Castorps soldatischer Vetter Joachim. »Aber man kann sich schließlich zusammenreißen.«25 Der geistige Dienst mit der Waffe as soldatische Verständnis war schon in der Figur des Gustav Aschenbach in der Novelle der Tod im Venedig (1912) angelegt (»auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen«26). Der »High-School-Dropout« Thomas Mann erwarb seine »deutsche Bildung«, wie der Mann-Biograph Hermann Kurzke schrieb, »autodidaktisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«27. Im Jahre 1914 führte die »deutsche Bildung« zu der Erkenntnis, dass der Krieg »Reinigung« und »Befreiung« darstelle. In dem Aufsatz »Gedanken im Kriege« (»Essay« hätte für den Nationalisten Thomas Mann vermutlich zu »fremdländisch« geklungen) wandte sich der bürgerliche Autor gegen den »gallischen Radikalismus«, der ihm als Sackgasse erschien, »an deren Ende es nichts als Anarchie und Zersetzung« gebe. »Deutschlands ganze Tugend und Schönheit« entfalte sich erst im Krieg, postulierte Mann, der als Literaturproduzent von dem Verlangen nach billigen Buchausgaben profitierte, die an die Frontsoldaten verschickt werden konnten. Im nationalistischen Fieber sah der Dichter der Nation sein Vaterland als Opfer eines bösen Europas: »Ihr wolltet uns umzingeln, abschnüren, austilgen, aber Deutschland, ihr sehet es schon, wird sein tiefes, verhaßtes Ich wie ein Löwe verteidigen, und das Ergebnis eures Anschlages wird sein, daß ihr staunend genötigt sehn werdet, uns zu studieren.«28 In seinem überbordenden Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (den er im US-amerikanischen Exil später als »ein mühseliges Werk der Selbsterforschung und des Durchlebens der europäischen und Streitfragen« und als »geistigen Dienst an der Waffe« bezeichnete) ereiferte er sich in manisch-chauvinistischer Manier über den Typus des »Zivilationsliteraten« – ein Begriff, der nach der Zählung eines Rezensenten etwa 200 Mal in dem Werk auftaucht29. Ihm graute vor der Vorstellung, eine militärische Niederlage Deutschland hätte ein »Imperium der Zivilisation« zur Folge haben können. Das »Ergebnis wäre«, mutmaßte der deutschnationale Bürger Mann, »ein Europa gewesen, – nun, ein wenig drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein Europa, schon etwa allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa«, »ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte«.30 Die »Demokratisierung Deutschlands« liefe auf die »Entdeutschung« hinaus31, befürchtete Mann, ohne dass er mit seinem Essay diesen Prozess aufhalten konnte. »Das Erscheinen dieses antidemokratischen Buches«, konstatiert der Mann-Biograf Ronald Hayman, »fiel zusammen mit der Bildung einer demokratisch orientierten Regierung.«32 Wie Walter Boehlich in einem Argumentationsversuch gegen den Zeitgeist der Thomas-Mann-Idolatrie insistierte, gehörte das Buch »in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus«33 und war »der wortreiche Versuch, das politische Versagen des Bürgertums in seine eigentliche Tugend umzuschminken«. Die Betrachtungen hätten Furore gemacht, urteilte Boehlich, »und es ist gleichgültig, wie Thomas Mann selbst sie jeweils verstanden sehen wollte; nicht gleichgültig ist, wie sie gewirkt haben.« Das konservative Deutschland habe sie als »Rechtfertigungsschrift« verstanden. »Entschuldet« wird Thomas Mann – beispielsweise von dem Essayisten Erich Heller – mit dem Hinweis auf seinen Charakter als »ironischer Deutscher« und Künstler, der gegen »den Sozialmoralismus des Zivilisationsliteraten« mit einer »skeptischen Intelligenz« beharrt und in den Betrachtungen »ein quasi-politisches Traumbild der konservativen Phantasie« entworfen habe.34 Die Argumentation von konservativen Autoren wie Heller oder Marcel Reich-Ranicki bagatellisiert das politische Engagement Manns mit der Begründung, dass seine politischen Auffassungen amateurhaft gewesen seien und daher nicht ernst genommen werden müssten.35 Auf diese Weise wird der intellektuelle Ästhet vor dem politischen Kommentator gerettet. Für Sparr werden im Zauberberg »die Argumente für Humanität, für Maß und Mäßigung geschärft«36, ohne dass er selbst diese Argumente kritisch hinterfragt. Der »Politiker« Thomas Mann plädiere »für einen militanten Humanismus; Freiheit und Duldsamkeit hätten das Recht und die Pflicht, sich zu wehren«37. Mann verknüpft auf zweifelhafte Weise Humanität und Maskulinität. »Europa wird nur sein«, sagte er in einer Rede in Budapest im Juni 1936, »wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit selbst kein Freibrief ihrer Todfeinde und ihrer Mörder werden darf.«38 In den Ohren Sparrs klingen diese »Sätze wie aus der Gegenwart«, wobei das autoritär-regierte Ungarn von 1936 wie ein Spiegelbild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In dieser Vorstellung erscheint Politik stets nur als Wiederholung des Immergleichen, als käme der Faschismus wie ein unabwendbares Unheil aus dem Nichts. Thomas Mann mangelte es »an Konsequenz des Denkens«, insistierte Walter Boehlich. »Nichts wäre anders geworden, wenn er weniger bürgerlich, weniger konservativ gewesen wäre; er konnte nichts ändern.« Aber gerade deshalb sei er »zum Lieblingsschrifsteller der Deutschen« geworden. Vermutlich macht auch dies den Zauberberg zu einem »Jahrhundertroman«. © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Thomas Sparr. Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos. Berlin: Berenberg, 2024. 80 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑949203–82‑4. Hanjo Kesting. Thomas Mann: Glanz und Qual. Göttingen: Wallstein, 2023. 400 Seiten, 28 Euro. ISBN: 978–3‑8353–5413‑5. Bildquellen (Copyrights) Foto Der Zauberberg © Foto H.-P.Haack — Quelle: «Erstausgaben Thomas Manns» (2011). Herausgeber: Antiquariat Dr. Haack D – 04105 Leipzig Foto Alberto Moravia © Paolo Monti, via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 Cover Thomas Mann: Glanz und Qual © Wallstein Verlag Cover Literaturmagazin 4 © Rowohlt Verlag Foto Thomas Mann in seinem Haus in München Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 Cover Hans Mayer: Thomas Mann © Suhrkamp Verlag Szenenfoto All Quiet on the Western Front Archiv des Autors Cover Text + Kritik © edition text + kritik Foto Familie Mann am Strand von Los Angeles © Thomas-Mann-Archiv/ETH-Bibliothek Zürich Nachweise Hans Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S 170 ↩ Thomas Mann, »Einführung in den Zauberberg für Studenten der Princeton Universität«, in: Mann, Der Zauberberg, Stockholmer Gesamtausgabe (Stockholm: Bermann-Fischer Verlag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hintergrund cf. Stanley Corngold, The Mind in Exile: Thomas Mann in Princeton (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2022), S. 186–189 ↩ Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 439 ↩ »Deutsche Schriftsteller über Thomas Mann«, in: Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, hg, Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩ Alberto Moravia und Alain Elkann, Vita di Moravia: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hartmann (Freiburg: Beck & Glückler, 1991), S. 53 ↩ Theodor W. Adorno, »Kritik«, in: Kulturkritik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Bd. 10, hg. Rolf Tiedemann et al. (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩ Hanjo Kesting, »Thomas Mann oder der Selbsterwählte«, Spiegel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001–0000–000041521068; Spiegel-Hausmitteilung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001–0000–000041483678 Leserbriefe in der gleichen Ausgabe: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001–0000–000041483691 ↩ Hanjo Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual (Göttingen: Wallstein, 2023), S. 8 ↩ Gerhard Zwerenz, »Der Schock sitzt tiefer«, in: Nach dem Protest: Literatur im Umbruch, hg, W. Martin Lüdke (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), S. 41 ↩ Gerhard Zwerenz, »Wir Zwerge hinter den Riesen: Über Thomas Mann und uns«, in: Literaturmagazin 4: Die Literatur nach dem Tod der Literatur – Bilanz der Politisierung, hg. Hans Christoph Buch (Reinbek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩ Georg Lukács, Essays on Thomas Mann, übers. Stanley Mitchell (London: Merlin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩ Thomas Sparr, Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos (Berlin: Berenberg, 2024), S. 8 ↩ John Dos Passos, »A Humble Protest« (1916), in: John Dos Passos: The Major Nonfictional Prose, hg. Donald Pizer (Detroit: Wayne State University Press, 1988), S. 30–34 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 22–23 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 26, 28 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 27–28 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 1022 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 1009 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 3 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 35 ↩ Hans Mayer, »Der ›Zauberberg‹ als pädagogische Provinz« (1949), in: Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S. 131 ↩ Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩ Hermann Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk – Eine Biographie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩ Lukács, Essays on Thomas Mann, S. 45 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 79 ↩ Thomas Mann, Der Tod in Venedig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩ Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk, S. 38 ↩ Thomas Mann, »Gedanken im Kriege«, in: Thomas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hayman, Thomas Mann: A Biography (London: Bloomsbury, 1997), S. 284 ↩ Florian Keisinger, Rezension von: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩ Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg, Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩ Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 75 ↩ Hayman, Thomas Mann: A Biography, S. 309 ↩ Walter Boehlich, »Zu spät und zu wenig: Thomas Mann und die Politik«, Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, S. 55 ↩ Erich Heller, Thomas Mann: Der ironische Deutsche (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970), S. 157, 192 ↩ Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Biographers«, Journal of English and Germanic Philology, 96, Nr. 4 (Oktober 1997), S. 599 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 23 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 36 ↩ Thomas Mann, »Der Humanismus und Europa«, in: Mann, An die gesittete Welt: Politische Schriften und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩ […]