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Kri­ti­ken
  • Ronnie A. Grinberg: Write Like a ManRon­nie A. Grin­berg: Wri­te Like a Man6. Dezem­ber 2024Män­ner­welt des Geis­tes Ron­nie Grin­berg unter­sucht die Mas­ku­li­ni­tät der Intel­lek­tu­el­len von Jörg Auberg Im zwei­ten Teil von Her­mann Brochs Roman­tri­lo­gie Die Schlaf­wand­ler träu­men die deut­schen Arbei­ter und Ange­stell­ten von »Ame­ri­ka« als einem uto­pi­schen Ort, wo man »hoch­kom­men« kön­ne, ohne sich »wie hier umsonst zu schin­den«, und zitier­ten Goe­the: »Ame­ri­ka, du hast es bes­ser«.1 Der deut­sche Dich­ter­fürst hat­te die USA gerühmt, »kei­ne ver­fal­le­nen Schlös­ser« zu besit­zen und ohne unnüt­zes Erin­nern aus­zu­kom­men: »Dem Teu­fel gehör­te der gan­ze Plun­der.«2 White Noi­se Auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent wur­de die­ses Feh­len von Tra­di­tio­nen und his­to­ri­scher Erin­ne­rung jedoch nicht über­all gefei­ert. In sei­nem defi­ni­ti­ven Essay »The New York Intellec­tu­als« aus dem Jah­re 1968 lamen­tier­te der New Yor­ker Lite­ra­tur­kri­ti­ker Irving Howe über eine feh­len­de »Intel­li­gen­zi­ja« in der kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Geschich­te der USA: US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Intel­lek­tu­el­le – ob als Indi­vi­du­en oder Grup­pen – hät­ten stets in Iso­la­ti­on agiert. Ein­zig die »New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len«, die sich in den 1930er Jah­ren um die Zeit­schrift Par­ti­san Review und spä­ter um Publi­ka­ti­ons­or­ga­ne wie Poli­tics, Com­men­ta­ry, Dis­sent, New York Review of Books oder Public Inte­rest grup­pier­ten, kamen laut Howe der Vor­stel­lung einer »Intel­li­gen­zi­ja« am nächs­ten, da sie mit ihren poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Vor­stel­lun­gen vor allem in der Zeit nach dem Zwei­ten Welt­krieg, als der Anti­kom­mu­nis­mus inter­na­tio­nal als essen­zi­el­les Instru­ment insti­tu­tio­na­li­siert und mit Regie­rungs­gel­dern aus diver­sen Quel­len finan­ziert wur­de, das »Bewusst­sein der Nati­on« präg­te.3 In Howes Defi­ni­ti­on, die für die His­to­rio­gra­fie das bestim­men­de Nar­ra­tiv wur­de, waren die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len eine Grup­pe von »frei­schwe­ben­den« Geis­tern, die ihren Ursprung im lin­ken oder links­ra­di­ka­len Milieu hat­ten, Lite­ra­tur­kri­tik mit sozi­al­kri­ti­schem Schwer­punkt betrie­ben, in den kul­tu­rel­len Krei­sen New Yorks nach Bril­lanz und Aner­ken­nung streb­ten und zumeist jüdi­scher Her­kunft waren. In einer Fuß­no­te schwäch­te Howe die »Beto­nung der jüdi­schen Ursprün­ge« als eine »Ver­dich­tung der Rea­li­tä­ten« und »Bezeich­nung der Ein­fach­heit hal­ber« ab: Im Klar­text soll­te der Begriff die »Intel­lek­tu­el­len New Yorks« bezeich­nen, die »in den Drei­ßi­gern auf­tauch­ten, von denen die meis­ten jüdisch« waren.4 Street Fight­ing Men In ihrer Stu­die Wri­te Like a Man: Jewish Mas­cu­li­ni­ty and the New York Intellec­tu­als rekur­riert Ron­nie Grin­berg auf Howes Defi­ni­ti­on, um ihre The­se vom Zusam­men­spiel von Mas­ku­li­ni­tät und Domi­nanz im New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len­mi­lieu zu bele­gen. In ihrem preis­ge­krön­ten Essay »Neither ›Sis­sy‹ Boy Nor Patri­ci­an Man: New York Intellec­tu­als and the Con­s­truc­tion of Ame­ri­can Jewish Mas­cu­li­ni­ty«5 skiz­zier­te sie, wie vie­le der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len auf­grund ihrer Her­kunft als jüdi­sche Immi­gran­ten der zwei­ten Gene­ra­ti­on ihr mas­ku­li­nes Selbst­bild in ihrem intel­lek­tu­el­len Her­an­wach­sen ent­war­fen und die ideo­lo­gi­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Kon­tra­hen­ten und Kon­kur­ren­ten als eine fort­ge­setz­te Form des street­fightin­gs begrif­fen.6 In ihrem Buch ver­engt Grin­berg die Grup­pe der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len (noch stär­ker und aus­ge­präg­ter als Howe) auf ihren jüdi­schen Cha­rak­ter (wobei zen­tra­le nicht-jüdi­­sche Mit­glie­der wie Dwight Mac­do­nald, Fre­de­rick W. Dupee oder Edmund Wil­son weit­ge­hend aus­ge­blen­det wer­den) und fixiert Mas­ku­li­ni­tät auf die jüdisch-tal­­mu­­di­­sche Tra­di­ti­on, aus der der aggres­si­ve säku­la­re Intel­lek­tu­el­le her­vor­geht. In ihrer Argu­men­ta­ti­on beruft sich Grin­berg auf das auto­bio­gra­fi­sche Nar­ra­tiv von Autoren wie Alfred Kazin und Irving Howe7, in dem die geschei­ter­ten Ver­su­che der Assi­mi­la­ti­on der ers­ten Gene­ra­ti­on der Immi­gran­ten und der Ver­lust des domi­nan­ten Sta­tus der Väter in den Fami­li­en geschil­dert wer­den. Der Vater erschien häu­fig als »Ver­sa­ger«, der nicht für den Lebens­un­ter­halt der Fami­lie sor­gen konn­te, wäh­rend Müt­ter als star­ke Frau­en auf­tra­ten. Mas­ku­li­ni­tät für die Her­an­wach­sen­den war ein Medi­um zur Selbst­be­haup­tung auf den Stra­ßen und in den Alko­ven des New Yor­ker City Col­lege, wobei Domi­nanz und Unter­wer­fung die Grund­stra­te­gien der Aus­ein­an­der­set­zung waren. Wie in einer Street­gang oder in einem Racket wur­de Schwä­che nicht gedul­det: In Semi­na­ren des von sei­nen Schü­lern ver­ehr­ten Phi­lo­so­phie­leh­rers Mor­ris Rapha­el Cohen herrsch­ten Aggres­si­vi­tät, Streit, Pole­mik und zur Schau gestell­te Männ­lich­keit vor. In Grin­bergs Per­spek­ti­ve war »Intel­lek­tua­lis­mus, nicht Radi­ka­lis­mus« stets zen­tra­ler für die Kon­zep­ti­on von Mas­ku­li­ni­tät in den Krei­sen der New Yor­ker, wobei sie kei­ne neu­en Erkennt­nis­se ver­mit­telt, son­dern ledig­lich die Ernst­haf­tig­keit des radi­ka­len Bewusst­seins und Enga­ge­ments der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len in den 1930er Jah­ren in Abre­de stellt, wie es vor ihr schon Autoren wie Ter­ry Coo­ney und Neil Jumon­ville taten.8   Kom­pli­zen­schaft und Hier­ar­chie Die trü­be Iro­nie der Geschich­te war, dass auch Frau­en – sofern es ihnen gelang, in die­ses Milieu vor­zu­drin­gen – »wie Män­ner schrie­ben«. Sie unter­war­fen sich der Öko­no­mie und Macht­me­cha­nis­men oder Gewalt der »männ­li­chen Herr­schaft« (wie Pierre Bour­dieu die­sen Pro­zess beschrieb): »Die Grund­la­ge der Macht der Wor­te wird durch die Kom­pli­zen­schaft gebil­det, die sich mit­tels der Wor­te zwi­schen einem in einem bio­lo­gi­schen Kör­per fleisch­ge­wor­de­nen sozia­len Kör­per, dem des Wort­füh­rers, und den bio­lo­gi­schen Kör­pern her­stellt, die sozi­al zuge­rich­tet, sei­ne Anwei­sun­gen anzu­er­ken­nen, aber auch sei­ne Ermah­nun­gen, sei­ne Anspie­lun­gen oder sei­ne Befeh­le .«9 Obwohl das vor­herr­schen­de Nar­ra­tiv sowohl in den Auto­bio­gra­fien von »Par­ti­zi­pan­ten« als auch in wis­sen­schaft­li­chen His­to­rio­gra­fien die Chi­mä­re der »frei­schwe­ben­den Intel­li­genz« New Yorks, herrsch­te in den öko­no­mi­schen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Nie­de­run­gen des intel­lek­tu­el­len Appa­rats ein »Korps­geist« vor, der (mit den Wor­ten Bour­dieus) die »Getreu­en« und »Gläu­bi­gen« mit den Ren­di­ten aus dem ange­häuf­ten kul­tu­rel­len Kapi­tal ver­sorgt wur­den.10 Auch im Milieu der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len herrsch­te von Anbe­ginn eine »Hier­ar­chie der Geschlech­ter« vor11 (wie Simo­ne de Beau­voir den Herr­schafts­raum beschrieb). Obwohl der Betrieb ohne die Zuar­beit von Frau­en als Typis­tin­nen, Redak­ti­ons­se­kre­tä­rin­nen, Lek­to­rin­nen, Ehe­frau­en und Müt­ter nicht lauf­fä­hig war und der Mann ohne sein »Vas­al­lin«12 nicht aus­kam, blieb sie in den Män­ner­bio­gra­fien der zurück­lie­gen­den Jahr­zehn­te weit­ge­hend unsicht­bar. Dwight Mac­do­nalds »Ein-Mann-Zei­t­­schrift« Poli­tics (wie Han­nah Are­ndt sie im Rück­blick cha­rak­te­ri­sier­te) wäre ohne die Unter­stüt­zung sei­ner dama­li­gen Ehe­frau Nan­cy Mac­do­nald (geb. Rod­man) – sowohl in finan­zi­el­ler als auch in arbeits­tech­ni­scher Hin­sicht – nicht denk­bar gewe­sen: Rea­li­ter war sie – wie es der ita­lie­ni­sche Emi­grant und New Yor­ker Autor Nic­coló Tuc­ci aus­drück­te – »die See­le von Poli­tics«.13 Auch Dis­sent, von Irving Howe und ande­ren ehe­ma­li­gen trotz­kis­ti­schen Akti­vis­ten 1954 gegrün­det, war äußer­lich ein aus­schließ­lich »männ­li­ches« Unter­neh­men (bis in die 1980er Jah­re gab es kaum weib­li­che Mit­glie­der in der Redak­ti­on), obwohl Redak­teur­se­he­frau­en wie Simo­ne Plas­trik oder Rose Coser die »Geschäfts­lei­tung« über­nah­men. Auf der ande­ren Sei­te des poli­ti­schen Spek­trums agier­ten Ehe­frau­en männ­li­cher »Stars« im New Yor­ker Kul­tur­mi­lieu wie Lio­nel Tril­ling oder Nor­man Podho­retz als »Vas­al­lin­nen« ihrer Ehe­män­ner, fühl­ten sich jedoch in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung zurück­ge­setzt und rekla­mier­ten einen Teil des Erfol­ges für sich. Dia­na Tril­ling, die sich über klei­ne Rezen­si­ons­auf­trä­ge an die »Meis­ter­klas­se« der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len her­an­tas­te­te, ver­ach­te­te die »weib­li­che Sen­si­bi­li­tät« einer Vir­gi­nia Woolf und sah ihre Bestim­mung dar­in, »wie in Mann zu schrei­ben«.14 The Who­le Sick Crew »Die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len waren eine streit­süch­ti­ge und unsym­pa­thi­sche (jüdi­sche?) Fami­lie«, merk­te der New Yor­ker Lite­ra­tur­his­to­ri­ker Euge­ne Good­he­art an, »vol­ler begab­ter, nei­di­scher, vom Kon­kur­renz­den­ken gepräg­ter Geschwis­ter, die meis­tens schlecht über­ein­an­der dach­ten.«15 Dies schlug sich auch im Pri­vat­le­ben nie­der: Als Mary McCar­thy mit Phil­ip Rahv, dem pro­le­ta­ri­schen Grün­der und »Befehls­ha­ber« der Par­ti­san Review liiert war, schlief sie mit Edmund Wil­son, einem der füh­ren­den Lite­ra­tur­kri­ti­ker der Zeit, weil er über »einen bes­se­ren Pro­sa­stil« ver­füg­te und der »Ober­klas­se« in gesell­schaft­li­cher Hin­sicht ange­hör­te. Sex war für sie Mit­tel zum sozia­len Auf­stieg; gleich­zei­tig bedau­er­te sie, dass sie – »ver­führt« vom Alko­hol – mit die­sem »fet­ten, auf­ge­bla­se­nen Mann aus kei­nem Grund« geschla­fen habe. Grin­berg kom­men­tiert die Epi­so­de mit dem Satz: »Jeder schlief mit jeder in jenen Tagen.«.16 Ande­rer­seits fühl­ten sich männ­li­che Intel­lek­tu­el­le von den »dunk­len Damen« des New Yor­ker Estab­lish­ments ero­tisch und sexu­ell erregt oder auch abge­schreckt. Irving Howe stell­te in sei­nen Memoi­ren die weib­li­che Attrak­ti­vi­tät Han­nah Are­ndts in Abre­de, um ihre Anzie­hungs­kraft über »mes­ser­schar­fe Ges­ten«, »impe­ria­len Blick« und »hän­gen­den Ziga­ret­te« her­vor­zu­he­ben.17 Der Lite­ra­tur­kri­ti­ker Alfred Kazin hob die »dunk­le, schat­ten­haf­ti­ge« Sei­te ihres Erschei­nens her­vor, wäh­rend Phil­ip Rahv sie als »gut­aus­se­hen­den Mann« beschrieb.18 »Mas­ku­li­ni­tät« im her­kömm­li­chen Sin­ne – ein Begriff, den Grin­berg mehr als drei­hun­dert Mal in ihrem Buch benutzt – ist ein stän­dig wie­der­keh­ren­des Motiv: Wäh­rend »Radi­ka­lis­mus« (ob in Form des Kom­mu­nis­mus, Anar­chis­mus oder Mar­xis­mus in den 1930er Jah­ren) als Aus­druck der Unrei­fe gilt, preist Grin­berg – dem Nar­ra­tiv der domi­nan­ten Post-1989-His­­to­rio­­gra­­fie fol­gend – den Libe­ra­lis­mus des Kal­ten Krie­ges als »rei­fe Ideo­lo­gie«, als »Gegen­gift« zur »Krank­heit des Kom­mu­nis­mus der 1930er Jah­re« , wobei »Rei­fe« ein Syn­onym für »Ver­nunft« ist.19   Für Grin­berg ist Mas­ku­li­ni­tät ein mono­kau­sa­les Kon­zept, dem alle Ent­wick­lun­gen in poli­ti­scher, kul­tu­rel­ler und öko­no­mi­scher Hin­sicht unter­ge­ord­net wer­den, wäh­rend die Mecha­nis­men der Macht und die poli­ti­sche Öko­no­mie in der Zir­ku­la­ti­on von Ware, Pro­duk­ti­on und Akku­mu­la­ti­on (auch in der New Yor­ker Medi­en­in­dus­trie) kei­ne Rol­le spie­len. Kri­tik­los über­nimmt Grin­berg das Nar­ra­tiv, das angeb­lich »tie­fe Wis­sen über den Mar­xis­mus« habe die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len befä­higt, die poli­ti­sche Öffent­lich­keit in Zei­ten des Kal­ten Krie­ges zu steu­ern, ohne in Betracht zu zie­hen, dass ihr poli­ti­sches Kon­ver­ti­ten­tum vor allem ein Instru­ment des Selbst­mar­ke­tings und der »kul­tu­rel­len Ein­däm­mung« war, die sich gegen Vor­stel­lun­gen rich­te­te, wel­che der domi­nan­ten gesell­schaft­li­chen Hege­mo­nie wider­spra­chen.20 Die »weib­li­che Frak­ti­on« der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len – bestehend aus Eliza­beth Hard­wick, Dia­na Tril­ling, Sus­an Son­tag sowie Mary McCar­thy und Han­nah Are­ndt – war bes­ten­falls ambi­va­lent gegen­über den femi­nis­ti­schen Strö­mun­gen der Zeit (wie sie bei­spiels­wei­se in Kate Mil­letts bahn­bre­chen­dem Buch Sexu­al Poli­tics aus dem Jah­re 1970 zum Aus­druck kam) , wäh­rend der kon­ser­va­tiv gepräg­te Teil die­ser Frak­ti­on (Tril­ling und Midge Dec­ter) die »Ver­weich­li­chung« der Mas­ku­li­ni­tät im Zuge der »Gegen­kul­tur« der Beats und spä­ter der »Hip­pies« als sys­te­mi­sche Kri­se beschrie­ben. Homo­se­xu­el­le waren laut Dec­ter »kei­ne wirk­li­chen Män­ner«, wäh­rend sie in der Wahr­neh­mung des »rich­ti­gen Kerls« Nor­man Mailer nur als »kul­tu­rel­le Out­laws«, »Per­ver­se« und »Psy­cho­pa­then« der Gegen­kul­tur fir­mier­ten.21 Phal­lus und Wahn Das »Männ­lich­keits­di­lem­ma«, das Grin­berg als »Ideo­lo­gie der jüdi­schen Mas­ku­li­ni­tät« beschreibt, eska­mo­tiert den »phal­li­schen Nar­ziss­mus«, mit dem Grin­berg ihr Buch eröff­net und repe­tie­rend den »Tes­­te­r­on-getrie­­be­­nen lite­ra­ri­schen Zir­kel« der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len beschreibt.22 Als »Män­ner­bund« ver­tra­ten die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len – trotz des Ein­tre­tens für indi­vi­du­el­le und künst­le­ri­sche Frei­heit – in klas­si­scher Racket-Manier stets nur die eige­nen Inter­es­sen, die sie in der Hier­ar­chie vor­an­brin­gen soll­ten. »Das Inter­es­se hat kein Gedächt­nis«, schrieb Marx 1842, »denn es denkt nur an sich. Das eine, wor­auf es ihm ankommt, sich selbst, ver­gißt es nicht. Auf Wider­sprü­che aber kommt es ihm nicht an, denn mit sich selbst gerät es nicht in Wider­spruch.«23 Im Gegen­satz zu ande­ren US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Intel­lek­tu­el­len wie bei­spiels­wei­se Mur­ray Book­chin (der in 1930er Jah­ren in einem ähn­li­chen Umfeld auf­wuchs wie Irving Howe, Alfred Kazin oder Dani­el Bell) ver­such­ten sie nie, die Ent­wick­lung einer öko­lo­gi­schen Gesell­schaft jen­seits von Hier­ar­chie und Herr­schaft anzu­sto­ßen, son­dern ver­harr­ten stets im Racket-Mus­­ter der eige­nen Inter­es­sen­exis­tenz, um schließ­lich auf die Frei­heit in kul­tu­rel­ler und sozia­ler Hin­sicht zu ver­zich­ten und demo­kra­ti­sche Prin­zi­pi­en der Macht der neu­en Rech­ten und ihrer Vasal­len (für die neo­kon­ser­va­ti­ve New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le wie Nor­man Podho­retz, Midge Dec­ter, Irving Kris­tol oder Saul Bel­low ein­tra­ten) unter­zu­ord­nen.24 Podho­retz, der sich über die »dunk­len Damen der ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur« wie Han­nah Are­ndt oder Mary McCar­thy mokier­te und gegen »unmänn­li­che« Beat­niks Stim­mung mach­te, hat­te kein Pro­blem damit, sich hin­ter den »Mas­ku­li­nis­ten« Donald Trump als Unter­stüt­zer ein­zu­rei­hen, der noch im Wahl­kampf 2016 aus­rief: »Grab them by the pus­sy. You can do any­thing.« Trump war für Podho­retz »kei­ne Mem­me« (sis­sy boy im New Yor­ker Jar­gon), son­dern ein »Kerl, der zurück­schlug«.25 Lei­der hat Grin­berg den Zusam­men­hang von Männ­lich­keit und Gewalt (von dem die gesam­te Gesell­schaft betrof­fen ist) nicht kon­se­quent ver­folgt: Auch im »geis­ti­gen« oder media­len Bereich ist (wie Bour­dieu es bezeich­ne­te) »der Wil­le zur Herr­schaft, zur Aus­beu­tung oder zur Unter­drü­ckung« vor­han­den26 Die­ser äußert sich auch im »intel­lek­tu­el­len« Milieu. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Ron­nie A. Grin­berg. Wri­te like a Man: Jewish Mas­cu­li­ni­ty and the New York Intellec­tu­als. Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2024. 384 Sei­ten, 35 US-Dol­lar. ISBN: 9780691193090. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Wri­te Like a Man © Prince­ton Uni­ver­si­ty Press Trai­ler Zelig © Ori­on Pic­tures Por­trait Ron­nie A. Grin­berg © Prince­ton Uni­ver­si­ty Press Video Day at Night: Irving Howe © CUTV Video Zur Per­son: Han­nah Are­ndt © SFB TV Doku­men­ta­ti­on Sturm auf das Capi­tol, 6. Janu­ar 2021 © France24 Nach­wei­se Her­mann Broch, Die Schlaf­wand­ler: Eine Roman­tri­lo­gie (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1994), S. 211 ↩ Johann Wolf­gang Goe­the, »Zah­me Xeni­en IX«, in: Sämt­li­che Gedich­te (Frankfurt/Main: Insel, 2007), S. 1020 ↩ Zur Rol­le der west­li­chen Intel­lek­tu­el­len im Kal­ten Krieg cf. Fran­ces Stonor Saun­ders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cul­tu­ral Cold War (Lon­don: Gran­ta, 1999), und Andrew N. Rubin, Archi­ves of Aut­ho­ri­ty: Empire, Cul­tu­re, and the Cold War (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2012) ↩ Irving Howe, Decli­ne of the New (Lon­don: Vic­tor Gol­lan­cz, 1971), S.214–215Fn ↩ Ron­nie A. Grin­berg, »Neither ›Sis­sy‹ Boy Nor Patri­ci­an Man: New York Intellec­tu­als and the Con­s­truc­tion of Ame­ri­can Jewish Mas­cu­li­ni­ty«, Ame­ri­can Jewish Histo­ry, 98, Nr. 3 (Juli 2014): 127–151 ↩ Cf. Jörg Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le: Eine poli­­tisch-kul­­tu­­rel­­le Geschich­te von Auf­stieg und Nie­der­gang, 1930–2020 (Bie­le­feld: Tran­­script-Ver­­lag, 2022), S. 43 ↩ Alfred Kazin, A Wal­ker in the City (1951), Start­ing Out in the Thir­ties (1965) und New York Jew (1978); Irving Howe (mit Ken­neth Libo), World of Our Fathers: The Jour­ney of the East Euro­pean Jews to Ame­ri­ca and the Life They Found and Made (1976), und A Mar­gin of Hope: An Intellec­tu­al Auto­bio­gra­phy (1982) ↩ Ron­nie Grin­berg, Wri­te Like a Man: Jewish Mas­cu­li­ni­ty and the New York Intellec­tu­als (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2024), S. 43; sie­he auch Ter­ry A. Coo­ney, The Rise of the New York Intellec­tu­als: Par­ti­san Review and its Cir­cle, 1934–1945 (Madi­son: Uni­ver­si­ty of Wis­con­sin Press, 1986), und Neil Jumon­ville, Cri­ti­cal Crossings: The New York Intellec­tu­als in Post­war Ame­ri­ca (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 1991) ↩ Pierre Bour­dieu, Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht, hg. Mar­ga­re­ta Stein­rü­cke, übers. Jür­gen Bol­der (Ham­burg: VSA, 2015), S. 83; sie­he auch Bour­dieu, Die männ­li­che Herr­schaft, übers. Jür­gen Bol­der (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2012), S. 90–100 ↩ Bour­dieu, Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht, S. 84 ↩ Simo­ne de Beau­voir, Das ande­re Geschlecht: Sit­te und Sexus der Frau, übers. Uli Aumül­ler und Gre­te Oster­wald (Rein­bek: Rowohlt, 2018), S. 57 ↩ Simo­ne de Beau­voir, Das ande­re Geschlecht, S. 181 ↩ Han­nah Are­ndt, »He’s All Dwight«, in: Are­ndt, Thin­king Wit­hout a Banis­ter: Essays in Under­stan­ding, 1953–1975, hg. Jero­me Kohn (New York: Scho­cken, 2018), S. 397; Micha­el Wres­zin, A Rebel in Defen­se of Tra­di­ti­on: The Life and Poli­tics of Dwight Mac­do­nald (New York: Basic Books, 1994), S. 136 ↩ Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 80–81 ↩ Euge­ne Good­he­art, The Reign of Ideo­lo­gy (New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 1997), S. 86, Über­set­zung zitiert nach Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le, S. 24 ↩ Mary McCar­thy, Intellec­tu­al Memoirs: New York 1936–1938 (New York: Har­court Brace, 1992), S. 101–105; Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 55 ↩ Howe, A Mar­gin of Hope: An Intellec­tu­al Auto­bio­gra­phy (San Die­go: Har­court Brace Jova­no­vich, 1982), S. 270 ↩ Richard M. Cook, Alfred Kazin: A Bio­gra­phy (New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2009), S. 319; Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 57 ↩ Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 93; sie­he auch Richard H. Pells, The Libe­ral Mind in a Con­ser­va­ti­ve Age: Ame­ri­can Intellec­tu­als in the 1940s and 1950s (Midd­le­town, CT: Wes­ley­an Uni­ver­si­ty Press, ²1989), S. 122; und Igna­zio Silo­ne, Der Fascis­mus: Sei­ne Ent­ste­hung und sei­ne Ent­wick­lung (1934; rpt. Frankfurt/Main: Ver­lag Neue Kri­tik, 1984), S. 46–58 ↩ Cf. Andrew Ross, No Respect: Intellec­tu­als and Popu­lar Cul­tu­re (New York: Rout­ledge, 1989), S. 42–64 ↩ Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 221; Nor­man Mailer, Mind of an Out­law: Sel­ec­ted Essays, hg. Phil­ip Sipio­ra (Lon­don: Pen­gu­in, 2013), Essays »The Homo­se­xu­al as Vil­lain« (1955) und »The White Negro« (1957), S. 14–20, 41–65; Kate Mil­lett, Sexu­al Poli­tics (New York: Colum­bia Press, 2016), S. 314–335 (über Nor­man Mailer) ↩ Grin­berg, Wri­te Like a Man, S. 123, 1; zum »phal­lisch« besetz­ten »Männ­lich­keits­di­lem­ma« cf. Phil­ip Zah­n­er, »Die Fühl­form des isla­mi­schen Gegen­sou­ve­räns: Über miso­gy­ne und anti­se­mi­ti­sche Gewalt am 7. Okto­ber«, sans phra­se, Nr. 24 (Som­mer 2024), S. 133 ↩ Karl Marx, »Debat­te um das Holz­dieb­stahls­ge­setz«, in MEW, Bd. 1 (Ber­lin: Dietz, 2006), S. 132; Hin­weis auf das Marx-Zitat von Phil­ip Zah­n­er, »Die Fühl­form des isla­mi­schen Gegen­sou­ve­räns«, S. 105 ↩ Mur­ray Book­chin, Rema­king Socie­ty (Mont­re­al: Black Rose Books, 1989), S. 19–73; John Ganz, When the Clock Bro­ke: Con Men, Con­spi­ra­cists, and How Ame­ri­ca Cra­cked Up in the Ear­ly 1990s (New York: Farr­ar, Straus and Giroux, 2024), S. 56–79 ↩ Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le, S. 240, 271Fn.; Grin­berg, Wri­te like a Man, S. 273; Trump-Zitat: BBC, 9. Okto­ber 2016, https://www.bbc.com/news/election-us-2016–37595321 ↩ Bour­dieu, Die männ­li­che Herr­schaft, S. 96 ↩ […]
  • Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die MedienDie »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en27. Okto­ber 2024Die Maschi­ne­rie der Ver­blen­dung Auf­stieg und Nie­der­gang der Zeit­schrift »Film­kri­tik« von Jörg Auberg In einem pro­gram­ma­ti­schen Arti­kel zur gesell­schaft­li­chen Rol­le des Film­kri­ti­kers kon­sta­tier­te Sieg­fried Kra­cau­er weni­ge Mona­te vor der Macht­über­nah­me der Natio­nal­so­zia­lis­ten, der »Film­kri­ti­ker von Rang« sei »nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denk­bar«. Die Mis­si­on die­ses Kri­ti­kers sei es, »die in den Durch­schnitts­fil­men ver­steck­ten sozia­len Vor­stel­lun­gen und Ideo­lo­gien zu ent­hül­len und durch die­se Ent­hül­lun­gen den Ein­fluß der Fil­me sel­ber über­all dort, wo es not­tut, zu bre­chen«.1 Die­se empha­ti­sche Beto­nung der kri­ti­schen Funk­ti­on des pro­fes­sio­nel­len Film­jour­na­lis­ten stand im fun­da­men­ta­len Wider­spruch zur »Depro­fes­sio­na­li­sie­rung« des Kri­ti­kers zum blo­ßen Cla­queur der Unter­hal­­tungs- und spä­te­ren Kul­tur­in­dus­trie, wie sie – mit den Wor­ten des His­to­ri­kers Richard J. Evans – Joseph Goeb­bels in sei­ner strom­li­ni­en­för­mi­gen Pro­gram­ma­tik der »Mobi­li­sie­rung des Geis­tes« in die media­le Pra­xis (die sich auf Agi­ta­ti­on und Pro­pa­gan­da beschränk­te) umsetz­te.2 Wie deutsch ist es Kri­tik sei aller Demo­kra­tie wesent­lich, insis­tier­te Theo­dor W. Ador­no 1969 in einem sei­ner »Kri­ti­schen Model­le«, das vom Alp der Ver­gan­gen­heit gezeich­net ist. »Daß Goeb­bels den Begriff des Kri­ti­kers zu dem des Kri­tik­as­ters ernied­ri­gen und mit dem des Mecke­rers hämisch zusam­men­brin­gen konn­te«, schrieb Ador­no, »und daß er die Kri­tik jeg­li­cher Kunst ver­bie­ten woll­te, soll­te nicht nur freie geis­ti­ge Regun­gen gän­geln.«3 Für Ador­no waren die »deut­sche Kri­tik­feind­schaft« und die »Ran­cu­ne gegen den Intel­lek­tu­el­len« (als Trans­por­teur der Kri­tik) Teil des auto­ri­tä­ren, obrig­keits­staat­li­chen Sys­tems, das sich in den 1930er Jah­ren durch­setz­te und in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit in Form neo­fa­schis­ti­scher und auto­kra­ti­scher Ten­den­zen gegen kri­ti­sches Den­ken neu­er­lich for­miert. Ador­no, der »Remi­grant« (wie die aus dem erzwun­ge­nen Exil zurück­ge­kehr­ten Emi­gran­ten nach 1945 bezeich­net wur­den), hielt den Fin­ger in die Wun­de, »das beschä­dig­te deut­sche Ver­hält­nis zur Kri­tik«, das – mit einem Wort Ulrich Son­ne­manns – im »Land der unbe­grenz­ten Zumut­bar­kei­ten« in der Fol­gen­lo­sig­keit ver­en­de­te.4 Film­kri­tik als oppo­si­tio­nel­le Pra­xis Für den eins­ti­gen Feuil­le­ton­chef der Frank­fur­ter Rund­schau, Wolf­ram Schüt­te, war die 1957 gegrün­de­te Zeit­schrift Film­kri­tik ein lin­kes Oppo­si­ti­ons­or­gan gegen das restau­ra­ti­ve Nach­kriegs­deutsch­land5. In einer Geschich­te der »Frank­fur­ter Schu­le« cha­rak­te­ri­siert der His­to­ri­ker Jörg Spä­ter die Zeit­schrift als »ein Semi­nar, das in Frank­furt hät­te ange­sie­delt sein kön­nen«.6 In dem von Rolf Aurich und Micha­el Wedel her­aus­ge­ge­be­nen Band Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en wird weni­ger die Geschich­te der Zeit­schrift (die in der »Wen­de­zeit« der Bun­des­re­pu­blik nach län­ge­rem Siech­tum 1984 ver­scharrt wur­de) auf­be­rei­tet, als die Rol­len ein­zel­ner Mit­ar­bei­ter (in der Män­ner­wirt­schaft war ein­zig die Film­pu­bli­zis­tin Frie­da Gra­fe prä­sent) in den Medi­en­ma­schi­nen der Bun­des­re­pu­blik aus­zu­leuch­ten, die damals noch aus­schließ­lich öffen­t­­lich-rech­t­­lich orga­ni­siert und struk­tu­riert waren (in ers­ter Linie WDR, NDR, SFB, SWF und ZDF). Im eröff­nen­den Essay über den Fil­m­­kri­­tik-Begrün­­der Enno Pata­l­as (1929–2018) – neben Ulrich Gre­gor (geb. 1932) einer der Doy­ens der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Film­ge­schichts­schrei­bung – rekur­riert Clau­dia Lens­sen auf die opu­len­te, aber unvoll­endet geblie­be­ne Stu­die Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik des His­to­ri­kers Axel Schildt, in der Intel­lek­tu­el­le, die sich mit Film beschäf­tig­ten, außen vor blie­ben. »Die ›Medi­en‹ wer­den aus­schließ­lich als Platt­for­men für ihre publi­zis­ti­sche Text­pro­duk­ti­on betrach­tet«, kri­ti­siert Lens­sen, »sind jedoch nicht Gegen­stand der Refle­xi­on.«7 Selbst Alex­an­der Klu­ge – der als Fil­me­ma­cher, Autor, Intel­lek­tu­el­ler und Medi­en­pro­du­zent zwi­schen den ver­schie­de­nen Berei­chen der intel­lek­tu­el­len Pro­duk­ti­on wan­del­te – wird als »Medi­en­in­tel­lek­tu­el­ler« bei Schildt nur ein­mal in einem Zitat erwähnt.8 Obwohl die Film­kri­tik sich in der Tra­di­ti­on von Theo­dor W. Ador­no, Wal­ter Ben­ja­min und Sieg­fried Kra­cau­er begriff und die Kri­tik der Kul­tur­in­dus­trie aus der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung in ihren Sei­ten fort­führ­te, haf­te­te dem Film noch immer der Ruch des Ver­kom­me­nen und der Ver­blö­dung an. Auch wenn Ador­no spä­ter Klu­ge und ande­re »Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le« pro­te­gier­te, blieb doch sein Urteil aus den Mini­ma Mora­lia prä­sent: »Aus jedem Besuch des Kinos kom­me ich bei aller Wach­sam­keit düm­mer und schlech­ter wie­der her­aus.«9 Poli­tik vs. Ästhe­tik Von Beginn an durch­zog die Redak­ti­on der Zeit­schrift ein Riss zwi­schen einer »ästhe­ti­schen Lin­ken« (reprä­sen­tiert von Enno Pata­l­as, Hel­mut Fär­ber u. a.) und einer »poli­ti­schen Lin­ken« resp. der »Kra­­cau­er-Frak­­ti­on« (in Per­son von Ulrich Gre­gor, Theo­dor Kotul­la u. a.), der nicht nur das anfäng­lich gemein­sam von Pata­l­as und Gre­gor betrie­be­ne Pro­jekt Geschich­te des Films (1962) zum Ein-Mann-Unter­­neh­­men mach­te10, son­dern auch nach 1969 zu einer grund­sätz­li­chen neu­en Aus­rich­tung unter der Ägi­de der »ästhe­ti­schen Lin­ken« führ­te, da die »poli­ti­sche Lin­ke« der Zeit­schrift den Rücken gekehrt hat­te.11 Zunächst aber setz­ten Autoren wie Theo­dor Kotul­la (1928–2001) und Ger­hard Schoen­ber­ner (1931–2012), die ihre publi­zis­ti­sche Arbeit als Zeit­schrif­ten­re­dak­teu­re mit einer prak­ti­schen Film- und Fern­seh­ar­beit ver­ban­den, Akzen­te im Sin­ne Kra­cau­ers und der »Kri­ti­schen Theo­rie« nach 1945, indem sie einer­seits das Ver­dräng­te in der Gegen­wart in einem kri­­tisch-rea­­lis­­ti­­schen Ansatz the­ma­ti­sier­ten und zum ande­ren die »Nach­hal­tig­keit« des Natio­nal­so­zia­lis­mus – sowohl im insti­tu­tio­na­li­sier­ten Den­ken als auch in der nahe­zu bruch­lo­sen Fort­füh­rung von NS-Kar­rie­­ren in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Kul­tur­in­dus­trie in Per­so­nen wie Alfred Wei­den­mann, Her­bert Rein­ecker und Wolf­gang Lie­ben­ei­ner vor Augen führ­ten, wie es bei­spiels­wei­se Schoen­ber­ner in sei­ner zwölf­tei­li­gen WDR-Rei­he Film im Drit­ten Reich: Exkur­se zur pro­pa­gan­dis­ti­schen Mas­sen­füh­rung aus dem Jah­re 1969 demons­trier­te. Wie vie­le Fil­me­ma­cher aus dem Fil­m­­kri­­tik-Umfeld war auch Kotul­la (der bis 1968 für die Film­kri­tik schrieb und 1988 einen Schi­­man­­ski-Tat­ort mit Götz Geor­ge insze­nier­te) von Jean-Luc Godard und Robert Bres­son geprägt. »Theo­dor Kotul­la kam zur ›Film­kri­tik‹, weil er auf­bgehr­te gegen die Tra­di­tio­nen des zeit­ge­nös­si­schen Feuil­le­tons, und er ging zum Fern­se­hen, obwohl er die dort vor­herr­schen­den Kon­ven­tio­nen ablehn­te«, schreibt Anna Koken­ge in ihrem Kotul­­la-Essay. »Die ›Film­kri­tik‹ war sei­ne Schu­le und wenn­gleich sie kei­ne gute Ein­kom­mens­quel­le gewe­sen sein mag, so war sie für sei­ne spä­te­re Arbeit doch unbe­zahl­bar.«12 Die Stren­ge der Fil­m­­kri­­tik-Publi­­zis­­tik sah auch Ulrich Gre­gor in Kotul­las bekann­tes­tem Film – Aus einem deut­schen Leben (1977) – fort­wir­ken: In die­sem Film por­trä­tier­te Götz Geor­ge einen KZ-Kom­­man­­dan­­ten, der auf der his­to­ri­schen Per­son Rudolf Höß basier­te. »Die Film war intel­li­gent struk­tu­riert und mit bres­son­haf­ter Stren­ge gemacht«, lob­te Gre­gor. Die »manch­mal gespens­ti­sche Küh­le der Bil­der, der ruhi­ge Rhyth­mus der Dra­ma­tur­gie unter­strei­chen die didak­­tisch-auf­­klä­­re­ri­­sche Wir­kung des Films«, der eine metho­di­scher Gegen­ent­wurf zur US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Fern­seh­se­rie Holo­caust war.13 »Dass Kotul­la sei­ne Gegen-Geschich­­te als Kri­ti­ker der ›Kul­tur­in­strie‹ stets im Mas­sen­me­di­um erzähl­te«, schreibt Koken­ge, »mag wider­sin­nig srschei­nen, kann aber eben­so als die emp­fun­de­ne Ver­ant­wor­tung gedeu­tet wer­den, gera­de dort ›gesell­schaft­li­chen Sinn für Rea­li­tät‹ mit­zu­ge­stal­ten.« Die­sen »gesell­schaft­li­chen Sinn für Rea­li­tät« las­sen ande­re Bei­trä­ge des Ban­des ver­mis­sen. So ver­liert sich Gary Vani­si­an in der Ana­ly­se von Ulrich Gre­gors Bei­trä­gen unter dem Titel Film kri­tisch (die zwi­schen 1967 und 1970 unter der Regie von Micha­el Strau­ven im NDR und SFB ent­stan­den) in detail­lier­ten Ana­ly­sen über die medi­en­struk­tu­rel­le Reprä­sen­ta­ti­on des Gese­he­nen und Gehör­ten, wäh­rend die kri­ti­sche Form ver­lo­ren geht. Rau­nend wird ein Dis­put zwi­schen Gre­gor und dem Film­pu­bli­zis­ten Rein­hold E. Thiel über das Pro­jekt der »Freun­de der Deut­schen Kine­ma­thek« in West-Ber­­lin zur Spra­che gebracht, ohne dass der Autor jeg­li­che Hin­ter­grund­in­for­ma­ti­on lie­fert. Erst in einem spä­te­ren Arti­kel wird das Rät­sel auf­ge­löst.14 Nie­der­gang und Ende In den 1970er und 1980er Jah­ren ver­lor die Zeit­schrift – trotz Mit­ar­bei­ter wie Harun Faro­cki (1944–2014)15 – zuneh­mend an Bedeu­tung, da die Autoren der Zeit­schrift sich für wich­ti­ger nah­men als die kri­ti­sche Ana­ly­se. Sym­pto­ma­tisch für die­se Ten­denz war Wolf-Eck­art Büh­ler (1945–2020), der in den spä­ten 1970er-Jah­­ren Prot­ago­nis­ten des »ande­ren Ame­ri­kas« wie Leo T. Hur­witz, Abra­ham Polon­sky, Irving Ler­ner und Ster­ling Hay­den für sich ent­deck­te. Im Gegen­satz zu ande­ren inter­na­tio­na­len Zeit­schrif­ten wie Jump Cut, Film Quar­ter­ly, Sight & Sound, Cahiers du Ciné­ma oder Posi­tif (die zur glei­chen Zeit auf die lin­ke Gegen­kul­tur der 1930er und 1940er Jah­re stie­ßen16) blie­ben die Film-Essays Büh­lers zumeist in der Ver­klä­rung der »roten Hel­den« der Ver­gan­gen­heit ste­cken und betrie­ben eine »Ästhe­ti­sie­rung des Poli­ti­schen«, in der poli­ti­sche Mythen in ein his­to­ri­sches Kon­ti­nu­um ein­ge­gra­ben wur­den, wäh­rend die Kon­struk­ti­on einer kon­kre­ten poli­ti­schen Uto­pie außen vor blieb. In den spä­te­ren kri­ti­schen Abhand­lun­gen über Hay­den und Polon­sky fan­den sie kei­ne Erwäh­nung.17 Im Gegen­satz zu Kotul­la und ande­ren »Medi­en­ar­bei­tern« des Betrie­bes wird Büh­ler (WEB) von dem Kul­­tur-Feuil­­le­­to­­nis­­ten Alf May­er18 zum Maqui­sard gegen den bür­ger­li­chen Kul­tur­be­trieb sti­li­siert, ohne dass er zu einer kri­ti­schen Selbst­re­fle­xi­on inner­halb des Betrie­bes fähig wäre. »Kra­cau­ers Ideo­lo­gie­kri­tik, auf die Pata­l­as & Co sich ger­ne berie­fen«, gibt das Betriebs­sprach­rohr zum Bes­ten, »ist für WEB blo­ße Agen­tin des Zeit­geis­tes, ›nicht des Geis­tes‹, ist über­kom­me­nes Instru­ment, rein retro­spek­tiv, nicht nach vor­ne, in die neue Zeit gerich­tet …«19 Die­se intel­lek­tu­el­le Arm­se­lig­keit ließ auch die Film­kri­tik ver­dien­ter­ma­ßen auf der Müll­hal­de der Geschich­te ver­en­den. Oder mit Ador­no gespro­chen: »Der tota­le Zusam­men­hang der Kul­tur­in­dus­trie, der nichts aus­läßt, ist eins mit der tota­len gesell­schaft­li­chen Ver­blen­dung.«20 © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Rolf Aurich und Micha­el Wedel (Hg.). Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en. Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2024. 290 Sei­ten, 29 Euro. ISBN: 978–3‑96707–925‑8. Bild­quel­len (Copy­rights) Por­trät Sieg­fried Kra­cau­er Archiv des Autors Cover How Ger­man Is It © New Direc­tions Cover Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en © edi­ti­on text + kri­tik Cover Film­kri­tik Archiv des Autors Foto Wolf-Eck­art Büh­ler und Abra­ham Polon­sky © Edi­ti­on Film­mu­se­um Mün­chen       Nach­wei­se Sieg­fried Kra­cau­er, »Über die Auf­ga­be des Film­kri­ti­kers« (1932), in: Kra­cau­er, Wer­ke, Bd. 6:3: Klei­ne Schrif­ten zum Film, 1932–1961, hg. Inka Mül­­der-Bach (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2004), S. 63 ↩ Cf. Richard J. Evans, The Third Reich in Power, 1933–1939 (Lon­don: Pen­gu­in, 2006), S. 129–133; und Evans, Hitler’s Peo­p­le: The Faces of the Third Reich (Lon­don: Allen Lane, 2024), S. 177–178 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Kri­tik« (1969), in: Ador­no, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 788 ↩ Ador­no, »Kri­tik«, S. 791; Ulrich Son­ne­mann, »Das Land der unbe­grenz­ten Zumut­bar­kei­ten: Deut­sche Reflexionen(1963/85)«, in: Son­ne­mann, Schrif­ten, Bd. 4, hg, Paul Fie­big (Sprin­ge: zu Klam­pen, 2014), S. 101–118 ↩ Rolf Aurich und Micha­el Wedel, Ein­lei­tung zu: Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en, hg. Aurich und Wedel (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2024), S. 14; hier­nach zitiert als FZM ↩ Jörg Spä­ter, Ador­nos Erben: Eine Geschich­te aus der Bun­des­re­pu­blik (Ber­lin: Suhr­kamp, 2024), S. 102 ↩ Clau­dia Lens­sen, »Lebens­the­ma Kino und Publi­zis­tik: Enno Pata­l­as und die Medi­en«, in: FZM, S. 16 ↩ Axel Schildt, Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik, hg. Gabrie­le Kandz­o­ra und Dete­lef Sieg­fried (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2020), S. 537 ↩ Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 21; zur dif­fe­ren­zier­ten Ana­ly­se von Ador­nos Ver­hält­nis zum Kino cf. Miri­am Bra­tu Han­sen, »Intro­duc­tion to Ador­no, ›Tran­spe­ren­ci­es on Film‹ (1966)«, New Ger­man Cri­tique, Nr. 24–25 (Herbst-Win­­ter 1981–82), S. 186–198 ↩ Sie­he Ulrich Gre­gors Vor­wort zu: Geschich­te des Films ab 1960 (Rein­bek: Rowohlt, 1983), S. 9 ↩ Rolf Aurich, »Der Publi­zist: Rein­hold E. Thiel zwi­schen Film­kul­tur, Film­kri­tik und Medi­en«, FZM, S. 158 ↩ Anna Koken­ge, »Das Schrei­ben als Schu­le: Theo­dor W. Kotul­las Weg von der Film­kri­tik zum Fern­seh­film«, FZM, S. 87 ↩ Gre­gor, Geschich­te des Films ab 1960, S. 149 ↩ Gary Vanis­si­an, »Medi­um des per­sön­li­chen Aus­drucks: Die Fern­seh­bei­trä­ge von Ulrich Gre­gor«, FZM, S. 96; Aurich, »Der Publi­zist«, S. 158–159 ↩ Cf. Vol­ker Pan­ten­burg, »Film-Pra­xis und Text-Pra­xis: Harun Faro­cki und die Film­kri­tik«, in: Harun Faro­cki, Schrif­ten, Bd. 4, hg. Vol­ker Pan­ten­burg (Ber­lin: Neu­er Ber­li­ner Kunst­ver­ein, 2019), S. 449–466 ↩ Cf. Rus­sell Camp­bell, »Film and Pho­to League: Radi­cal Cine­ma in the 30s – Intro­duc­tion«, Jump Cut, Nr. 14 (1977), S. 23–25, https://ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC14folder/FilmPhotoIntro.html; Max Pearl, »Came­ras for Class Strugg­le«, Art in Ame­ri­ca, März-April 2021, https://www.artnews.com/art-in-america/features/cameras-for-class-struggle-workers-film-and-photo-league-1234590463/) ↩ Cf. Phil­ip­pe Gar­nier, Ster­ling Hay­den – L’Irrégulier (Paris: La Rab­bia, 2019); Paul Buh­le und Dave Wag­ner, A Very Dan­ge­rous Citi­zen: Abra­ham Lin­coln Polon­sky and the Hol­ly­wood Left (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 2001); Abra­ham Polon­sky: Inter­views, hg, Andrew Dic­kos (Jack­son: Uni­ver­si­ty Press of Mis­sis­sip­pi, 2013); Lar­ry Cep­lair und Ste­ven Eng­lund, The Inqui­si­ti­on in Hol­ly­wood: Poli­tics in the Film Com­mu­ni­ty, 1930–1960 (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 1983); Jörg Auberg, »Auf­recht gehen: Abra­ham Polon­sky, Hol­ly­wood und die Schwar­ze Lis­te«, Thea­ter­Zeit­Schrift, Nr. 27 (Früh­jahr 1989), S. 120–133 ↩ Zur Selbst­dar­stel­lung cf. https://culturmag.de/author/alf-mayer ↩ Alf May­er, »›Dabei­sein heißt gehor­chen‹: Zum Werk von Wolf-Eck­art Büh­ler«, FZM, S. 252 ↩ Ador­no, Mini­ma Mora­lia, S. 275 ↩ […]
  • Thomas Sparr: ZauberbergeTho­mas Sparr: Zau­ber­ber­ge18. Juli 2024Der demo­kra­ti­sche Tod Tho­mas Manns »Jahr­hun­der­t­ro­man« Der Zau­ber­berg von Jörg Auberg »Der Faschis­mus ist grei­sen­haft und böse, in jeg­li­cher Gestalt.« Hans May­er1 Rück­bli­cke auf den Zau­ber­berg IIm Herbst 1924 erschie­nen die bei­den Bän­de des Romans Der Zau­ber­berg, die – mit den Wor­ten Tho­mas Manns in einer Ein­füh­rung des Wer­kes für Stu­den­ten an der Prince­ton Uni­ver­si­ty im Jah­re 1939 – »aus der der Kon­zep­ti­on der short sto­ry ent­stan­den waren« und ihren Autor »zwölf Jah­re in den Bann gehal­ten hat­ten«.2 Ursprüng­lich soll­te der Text »nichts wei­ter sein als ein humo­ris­ti­sches Gegen­stück zum ›Tod in Vene­dig‹, ein Gegen­stück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas aus­ge­dehn­te short sto­ry«.  Die »Arbeits­zeit« an die­sem Werk war durch­aus not­wen­dig, da sowohl Autor als auch inten­dier­tes Lese­pu­bli­kum eine schock­haf­te Ent­wick­lung zu absol­vie­ren hat­ten, wie Wal­ter Ben­ja­min 1936 die Erfah­rung der ers­ten drei Jahr­zehn­te des 20. Jahr­hun­derts beschrieb: »Eine Gene­ra­ti­on, die noch mit der Pfer­de­bahn zur Schu­le gefah­ren war, stand unter frei­em Him­mel in einer Land­schaft, in der nichts unver­än­dert geblie­ben war als die Wol­ken unter ihnen, in einem Kraft­feld zer­stö­ren­der Strö­me und Explo­sio­nen, der win­zi­ge, gebrech­li­che Men­schen­kör­per.«3 In der Dik­ti­on Tho­mas Manns hieß es: Es sei­en »Erleb­nis­se nötig gewe­sen, die der Autor mit sei­ner Nati­on gemein­sam hat­te, und die er bei­zei­ten in sich hat­te kunst­reif machen müs­sen, um mit sei­nem gewag­ten Pro­dukt, wie ein­mal schon, im güns­tigs­ten Augen­blick her­vor­zu­tre­ten.« Die »Pro­ble­me« des Romans sei­en nicht »mas­sen­ge­recht« gewe­sen, kon­ze­dier­te der Dich­ter der Nati­on, »aber sie brann­ten der gebil­de­ten Mas­se auf den Nägeln, und die all­ge­mei­ne Not hat­te die Rezep­ti­vi­tät des brei­ten Publi­kums genau jene alchi­mis­ti­sche ›Stei­ge­rung‹ erfah­ren las­sen, die das eigent­li­che Aben­teu­er des klei­nen Hans Cas­torp aus­ge­macht hat­te«. Noch im unmit­tel­ba­ren Vor­feld des Zwei­ten Welt­krie­ges brüs­te­te sich Tho­mas Mann damit, dass der Zau­ber­berg »ein sehr deut­sches Buch« sei, und insis­tier­te Mann, dass »fremd­län­di­sche Beur­tei­ler sei­ne Welt­mög­lich­keit voll­kom­men unter­schätz­ten«. Sein Prot­ago­nist Hans Cas­torp sei ein »Grals­su­cher«, der den Gral der Huma­ni­tät auf­spü­ren möch­te, die auf »Ehr­furcht vor dem Geheim­nis des Men­schen« beru­he, wie der Autor des Zau­ber­bergs dun­kel for­mu­liert. Ein­wän­de wider­spens­ti­ger Leser en Stu­den­ten (ange­spro­chen als »Gen­tle­men«, da Prince­ton ein Män­ner­hort des zukünf­ti­gen eli­tä­ren Geis­tes war) emp­fahl der Dich­ter­fürst eine min­dest zwei­ma­li­ge Lek­tü­re sei­nes Wer­kes. »Wer aber mit dem ›Zau­ber­berg‹ über­haupt ein­mal zu Ende gekom­men ist, dem rate ich, ihn noch ein­mal zu lesen, denn sei­ne beson­de­re Mach­art, sein Cha­rak­ter als Kom­po­si­ti­on bringt es mit sich, daß das Ver­gnü­gen des Lesers sich beim zwei­ten Mal erhö­hen und ver­tie­fen wird, – wie man ja auch Musik ken­nen muß, um sie rich­tig zu genie­ßen.«  Das Ver­gnü­gen stell­te sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfra­ge der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on aus dem Jah­re 1975 bezüg­lich des gegen­wär­ti­gen Inter­es­ses am Werk Tho­mas Manns ant­wor­te­te Alfred Andersch: »Unlängst habe ich ver­sucht, den ›Zau­ber­berg‹ wie­der zu lesen – lei­der muß­te ich das Expe­ri­ment abbre­chen. Das all­zu inni­ge Beha­gen am Sti­lis­ti­schen ging mir ein­fach auf die Ner­ven.« In der glei­chen Umfra­ge gab Ror Wolf zu Pro­to­koll: »Das, was mich am meis­ten inter­es­siert im Zusam­men­hang mit Tho­mas Mann, ist die Fra­ge: war­um er mich nie inter­es­siert hat.«4 In einem Inter­view mit dem Autor Alain Elkann kate­go­ri­sier­te Alber­to Mora­via den Zau­ber­berg als »Unter­hal­tungs­ro­man« und stell­te ihn in eine Rei­he mit André Gides Die Falsch­mün­zer (1925) und Aldous Hux­leys Kon­tra­punkt des Lebens (1928): »drei Roma­ne, die mir nicht gefie­len und mir nichts sag­ten«, beschrieb Mora­via sei­ne Aver­si­on gegen die Prä­ten­tio­si­tät die­ser »Unter­hal­tungs­ro­ma­ne« der Moder­ne und füg­te wenig spä­ter hin­zu: »Italo Cal­vi­no hat etwas Rich­ti­ges gesagt: daß Tho­mas Mann alles gese­hen habe, aber von einem Bal­kon des 19. Jahr­hun­derts aus, wie alles zusam­men­stürz­te. Ich hal­te das für eine gute und rich­ti­ge Bemer­kung. Tho­mas Mann hat geahnt, wie Euro­pa enden wür­de, doch sei­ne Per­spek­ti­ve war die einer inzwi­schen über­hol­ten bür­ger­li­chen Kul­tur des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts. Wir dage­gen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wir­bel des Mahl­strom-Trich­­ters stürzt.«5  Jen­seits der Kri­tik elb­st im »roten Jahr­zehnt« der post­fa­schis­ti­schen Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war Tho­mas Mann als »Dich­ter der Nati­on« über Kri­tik weit­ge­hend erha­ben. »Wer kri­ti­siert, ver­geht sich gegen das Ein­heits­ta­bu, das auf tota­li­tä­re Orga­ni­sa­ti­on hin­aus­will«, dia­gnos­ti­zier­te Theo­dor W. Ador­no in einem Bei­trag für SDR im Mai 1969. »Der Kri­ti­ker wird zum Spal­ter und, mit einer tota­li­tä­ren Phra­se, zum Diver­sio­nis­ten.«6 Als Han­jo Kes­t­ing, der lang­jäh­ri­ge Lei­ter der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on, in einem kri­ti­schen The­sen­ar­ti­kel für den Spie­gel Manns Ver­strickt­heit in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus, sei­ne eli­tä­re Vor­stel­lung von Demo­kra­tie und sein Miss­trau­en gegen­über dem Volk (das er in ers­ter Linie als Mas­se und Mob wahr­nahm) the­ma­ti­sier­te und ihn als »Statt­hal­ter der bür­ger­li­chen Kul­tur­tra­di­ti­on« beschrieb, die längst ver­fault sei, echauf­fier­te sich augen­blick­lich der zum absur­den Kli­schee geron­ne­ne Phan­­tom­­bür­­ger-Mob in den Leser­brief­spal­ten des Spie­gel, der den »Dich­ter­fürs­ten« nicht von einem »Kri­tik­as­ter« des noto­ri­schen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen woll­te.7 Mitt­ler­wei­le ist der »Rot­funk« abge­wi­ckelt, Han­jo Kes­t­ing seit 2006 im Ruhe­stand, und dem Autor der »pole­mi­schen The­sen« ist das »auf­säs­si­ge Pro­dukt« aus sei­ner »Sturm- und Drang-Zeit« pein­lich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kes­t­ing im Vor­wort zu sei­nem Buch Tho­mas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Ver­eh­rern des ›Zau­be­rers‹.« Mitt­ler­wei­le ist auch der ehe­ma­li­ge Kri­ti­ker Kes­t­ing zum »Ver­eh­rer« Tho­mas Manns kon­ver­tiert, auch wenn er nicht jeden Kri­tik­punkt wider­ru­fen will. Doch erscheint ihm im Rück­blick »das aus einem ödi­pa­len Reflex ent­stan­de­ne The­sen­pa­pier ziem­lich unaus­ge­go­ren«. 8 Schon weni­ge Jah­re nach der Revol­te und dem ver­kün­de­ten Tod der Lite­ra­tur ver­zwerg­ten sich die »Schreib­pro­du­zen­ten« im Schat­ten des Rie­sen Tho­mas Mann. »Die Revol­te ist vor­über, die Nost­al­gie geblie­ben«9, gab der lin­ke Schrift­stel­ler Ger­hard Zwe­renz 1979 zu Pro­to­koll. Vier Jah­re zuvor hat­te Zwe­renz in Rowohlts Lite­ra­tur­ma­ga­zin, dem Zen­tral­or­gan für die »Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur«, den »Unter­hal­tungs­schrift­stel­ler« Tho­mas Mann als Vor­bild für künf­ti­ge Autor*innen der Lite­ra­tur­pro­duk­ti­on emp­foh­len. Von ihm sei zu ler­nen, insis­tier­te Zwe­renz, »wie man anschreibt gegen einen Vul­ga­ris­mus, der die Welt zurück­zie­hen« wol­le. »Tho­mas Mann und der Faschis­mus waren unver­träg­lich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwil­lig aus­schei­den ließ. Wir kön­nen das Poten­ti­al der Unver­träg­lich­keit mit dem Faschis­mus durch Lite­ra­tur ver­grö­ßern. Mehr kön­nen wir nicht. Aber ich hal­te das schon für sehr viel.«10 Selbst für den Mar­xis­ten Georg Lukács reprä­sen­tier­te Tho­mas Mann im ideo­lo­gi­schen Ver­fall der bür­ger­li­chen Klas­se noch »das Bes­te in der deut­schen Bour­geoi­sie« und war in sei­nen Augen der »letz­te gro­ße bür­ger­li­che Autor«.11 Demo­kra­tie einer Eli­te n sei­nem schma­len Band Zau­ber­ber­ge titu­liert der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Ver­lags­lek­tor Tho­mas Sparr Tho­mas Manns Roman Der Zau­ber­berg als »Jahr­hun­der­t­ro­man«, wobei unklar bleibt, wodurch die­ser Roman den Rang eines »Jahr­hun­der­t­ro­mans« erhält. »Was macht die­sen Roman«, fragt Sparr in sei­nem Vor­wort, »nach ein­hun­dert Jah­ren so zugäng­lich, ver­gan­gen und doch gegen­wär­tig, erschlos­sen und doch rätsel‑, ja zau­ber­haft?«12 Für Sparr ist »Demo­kra­tie« das »Schlüs­sel­wort des Romans«, und der Zau­ber­berg ist eine über­di­men­sio­nier­te Revo­ka­ti­on von Manns anti­eu­ro­päi­schen und anti­de­mo­kra­ti­schen Sua­den in den Zei­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, als bei­spiels­wei­se US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Autoren wie John Dos Pas­sos gegen die Bar­ba­rei der moder­nen indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie oppo­nier­ten, die sowohl die Eroi­­ca-Sym­­­pho­­nie als auch die Rui­nen von Reims pro­du­ziert hat­te.13 »In den Jah­ren des Ers­ten Welt­kriegs führt Tho­mas Mann einen Feld­zug gegen die Moder­ne«, schreibt Sparr, »gegen die Demo­kra­tie, gegen das, was er mit Gering­schät­zung ›Civi­li­sa­ti­on‹ nann­te, an ihrer Spit­ze den ›Civi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten‹, das vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum.«14 Im Zau­ber­berg erwei­se sich »die Dis­kus­si­on, die Aus­ein­an­der­set­zung, das Für und Wider« als »Kern­ele­ment der Demo­kra­tie«, argu­men­tiert Sparr und stellt die The­se auf, der Zau­ber­berg las­se sich »als demo­kra­ti­scher, ja sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Roman lesen«.15 Selt­sam mutet Sparrs Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie an. Der Tod sei, behaup­tet er, »im Zau­ber­berg das gro­ße demo­kra­ti­sche Ele­ment, so wie der Roman auf die sozia­len Unter­schie­de ach­tet.«16 Ist das Wesen der Demo­kra­tie, dass alle an Krank­heit oder auf dem »Welt­fest des Todes«17 ster­ben kön­nen? Im Zau­ber­berg exis­tiert allen­falls eine »Demo­kra­tie von Ehren­ti­schen«18 für die sol­ven­ten kran­ken Bür­ger jen­seits des »Flach­lan­des«, wo die Krea­tu­ren hau­sen, wel­che die Zeche für die Bar­ba­rei zu zah­len haben. Die Dicho­to­mie von Gesund­heit und Krank­heit, die den Roman durch­zieht, ist von Beginn von ver­schlei­er­ten Klas­sen­ver­hält­nis­sen gezeich­net, als ein »ein­fa­cher jun­ger Mensch« namens Hans Cas­torp, der rea­li­ter ein Abkömm­ling einer bür­ger­li­chen han­sea­ti­schen Fami­lie ist, sich mit sei­ner »kro­ko­dils­lern­den Hand­ta­sche« auf die Rei­se zum Zau­ber­berg begibt.19 Gesund­heit sei in die­sem Roman »so etwas wie die leib­li­che Sei­te von Demo­kra­tie«, kon­sta­tiert Sparr, wäh­rend Krank­heit »immer als mora­li­sches, see­li­sches, auch geis­ti­ges Defi­zit« erschei­ne: Gesund­heit sei in den Bil­dern Tho­mas Manns »immer nur vor­über­ge­hend, ein Zustand vol­ler Täu­schun­gen, Selbst­täu­schun­gen«, wäh­rend die Krank­heit, »die unaus­weich­li­che Ent­täu­schung«, das letz­te Wort behal­te.20 Wie der mar­xis­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans May­er kurz nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges kon­sta­tier­te, ent­hal­te der Zau­ber­berg den Quer­schnitt durch die bür­ger­li­che Gesell­schaft der Zeit um 1914, doch alle sei­en krank und ver­ur­teilt. »Die bür­ger­li­che Demo­kra­tie weist zwar den Weg ins Freie, doch die­se freie Ebe­ne hat die Gestalt eines Schüt­zen­gra­bens ange­nom­men«, resü­miert May­er. »Nun geht es dar­um, mag Cas­torp unter­ge­hen, daß neue Gene­ra­tio­nen, die nicht mehr krank sind, bewuß­te Par­tei­gän­ger des Lebens wer­den, statt sol­cher Krank­heit und der todes­süch­ti­gen Nacht.«21 Unmit­tel­bar nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges domi­nier­te die Erin­ne­rung an Manns Enga­ge­ment gegen den Faschis­mus in sei­nem US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil, wäh­rend sei­ne For­mu­lie­rung »Welt­fest des Todes« im Zau­ber­berg »beschwie­gen« wur­de.  Zumin­dest bei Kes­t­ing bestehen wei­ter Zwei­fel, ob Mann »die Rea­li­tät des vier Jah­re wäh­ren­den gro­ßen Mor­dens auf den Schlacht­fel­dern Euro­pas an sich her­an­kom­men ließ, als er sei­nen wüten­den Geis­tes­kampf aus­trug«22. Wäh­rend der Schul­ab­bre­cher Mann, der sich als Künst­ler und Bür­ger in Per­so­nal­uni­on insze­nier­te und für das »Neger­fran­zö­sisch«23 sei­ner Schul­zeit schäm­te, das »Men­schen­ma­te­ri­al« der indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie igno­rier­te, lob­te ihn Lukács als »Autor und Rea­list«, der nie »modern im deka­den­ten Sin­ne« gewe­sen sei.24 Die Kop­pe­lung von Moder­ne und Deka­denz als Gegen­bild zum »Rea­lis­mus« repe­tiert die Ran­kü­ne gegen das »vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum«, das sowohl dem Bür­ger als auch dem Büro­kra­ten im Auf­trag der Herr­schaft suspekt ist. Das Gegen­pro­gramm zur kran­ken Eli­ten­ge­sell­schaft ist nicht die Uto­pie einer ega­­li­­tär-demo­­kra­­ti­­schen Gesell­schaft, son­dern das inner­li­che Stramm­ste­hen. »Wir sind wirk­lich etwas ver­sim­pelt«, erklärt Cas­torps sol­da­ti­scher Vet­ter Joa­chim. »Aber man kann sich schließ­lich zusam­men­rei­ßen.«25 Der geis­ti­ge Dienst mit der Waf­fe as sol­da­ti­sche Ver­ständ­nis war schon in der Figur des Gus­tav Aschen­bach in der Novel­le der Tod im Vene­dig (1912) ange­legt (»auch er war Sol­dat und Kriegs­mann gewe­sen«26). Der »High-School-Dro­­pout« Tho­mas Mann erwarb sei­ne »deut­sche Bil­dung«, wie der Mann-Bio­­­graph Her­mann Kurz­ke schrieb, »auto­di­dak­tisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«27. Im Jah­re 1914 führ­te die »deut­sche Bil­dung« zu der Erkennt­nis, dass der Krieg »Rei­ni­gung« und »Befrei­ung« dar­stel­le. In dem Auf­satz »Gedan­ken im Krie­ge« (»Essay« hät­te für den Natio­na­lis­ten Tho­mas Mann ver­mut­lich zu »fremd­län­disch« geklun­gen) wand­te sich der bür­ger­li­che Autor gegen den »gal­li­schen Radi­ka­lis­mus«, der ihm als Sack­gas­se erschien, »an deren Ende es nichts als Anar­chie und Zer­set­zung« gebe. »Deutsch­lands gan­ze Tugend und Schön­heit« ent­fal­te sich erst im Krieg, pos­tu­lier­te Mann, der als Lite­ra­tur­pro­du­zent von dem Ver­lan­gen nach bil­li­gen Buch­aus­ga­ben pro­fi­tier­te, die an die Front­sol­da­ten ver­schickt wer­den konn­ten. Im natio­na­lis­ti­schen Fie­ber sah der Dich­ter der Nati­on sein Vater­land als Opfer eines bösen Euro­pas: »Ihr woll­tet uns umzin­geln, abschnü­ren, aus­til­gen, aber Deutsch­land, ihr sehet es schon, wird sein tie­fes, ver­haß­tes Ich wie ein Löwe ver­tei­di­gen, und das Ergeb­nis eures Anschla­ges wird sein, daß ihr stau­nend genö­tigt sehn wer­det, uns zu stu­die­ren.«28 In sei­nem über­bor­den­den Essay Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen (den er im US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil spä­ter als »ein müh­se­li­ges Werk der Selbst­er­for­schung und des Durch­le­bens der euro­päi­schen und Streit­fra­gen« und als »geis­ti­gen Dienst an der Waf­fe« bezeich­ne­te) erei­fer­te er sich in manisch-chau­­vi­­nis­­ti­­scher Manier über den Typus des »Zivil­a­ti­ons­li­te­ra­ten« – ein Begriff, der nach der Zäh­lung eines Rezen­sen­ten etwa 200 Mal in dem Werk auf­taucht29. Ihm grau­te vor der Vor­stel­lung, eine mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge Deutsch­land hät­te ein »Impe­ri­um der Zivi­li­sa­ti­on« zur Fol­ge haben kön­nen. Das »Ergeb­nis wäre«, mut­maß­te der deutsch­na­tio­na­le Bür­ger Mann, »ein Euro­pa gewe­sen, – nun, ein wenig drol­lig, ein wenig platt-human, tri­­vi­al-ver­­­derbt, femi­­nin-ele­­gant, ein Euro­pa, schon etwa all­zu ›mensch­lich‹, etwas preß­ban­di­ten­haft und gro­ß­­mäu­­lig-demo­­kra­­tisch, ein Euro­pa der Tan­­go- und Two-Step-Gesi­t­­tung, ein Geschäfts- und Lust­eu­ro­pa«, »ein Mon­­te-Car­­lo-Euro­­pa, lite­ra­risch wie eine Pari­ser Kokot­te«.30 Die »Demo­kra­ti­sie­rung Deutsch­lands« lie­fe auf die »Ent­deut­schung« hin­aus31, befürch­te­te Mann, ohne dass er mit sei­nem Essay die­sen Pro­zess auf­hal­ten konn­te. »Das Erschei­nen die­ses anti­de­mo­kra­ti­schen Buches«, kon­sta­tiert der Mann-Bio­­­graf Ronald Hay­man, »fiel zusam­men mit der Bil­dung einer demo­kra­tisch ori­en­tier­ten Regie­rung.«32 Wie Wal­ter Boeh­lich in einem Argu­men­ta­ti­ons­ver­such gegen den Zeit­geist der Tho­­mas-Mann-Ido­la­­trie insis­tier­te, gehör­te das Buch »in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus«33 und war »der wort­rei­che Ver­such, das poli­ti­sche Ver­sa­gen des Bür­ger­tums in sei­ne eigent­li­che Tugend umzu­schmin­ken«. Die Betrach­tun­gen hät­ten Furo­re gemacht, urteil­te Boeh­lich, »und es ist gleich­gül­tig, wie Tho­mas Mann selbst sie jeweils ver­stan­den sehen woll­te; nicht gleich­gül­tig ist, wie sie gewirkt haben.« Das kon­ser­va­ti­ve Deutsch­land habe sie als »Recht­fer­ti­gungs­schrift« ver­stan­den. »Ent­schul­det« wird Tho­mas Mann – bei­spiels­wei­se von dem Essay­is­ten Erich Hel­ler – mit dem Hin­weis auf sei­nen Cha­rak­ter als »iro­ni­scher Deut­scher« und Künst­ler, der gegen »den Sozi­al­mo­ra­lis­mus des Zivi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten« mit einer »skep­ti­schen Intel­li­genz« beharrt und in den Betrach­tun­gen »ein qua­­si-poli­­ti­­sches Traum­bild der kon­ser­va­ti­ven Phan­ta­sie« ent­wor­fen habe.34 Die Argu­men­ta­ti­on von kon­ser­va­ti­ven Autoren wie Hel­ler oder Mar­cel Reich-Rani­­cki baga­tel­li­siert das poli­ti­sche Enga­ge­ment Manns mit der Begrün­dung, dass sei­ne poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen ama­teur­haft gewe­sen sei­en und daher nicht ernst genom­men wer­den müss­ten.35 Auf die­se Wei­se wird der intel­lek­tu­el­le Ästhet vor dem poli­ti­schen Kom­men­ta­tor geret­tet. Für Sparr wer­den im Zau­ber­berg »die Argu­men­te für Huma­ni­tät, für Maß und Mäßi­gung geschärft«36, ohne dass er selbst die­se Argu­men­te kri­tisch hin­ter­fragt. Der »Poli­ti­ker« Tho­mas Mann plä­die­re »für einen mili­tan­ten Huma­nis­mus; Frei­heit und Duld­sam­keit hät­ten das Recht und die Pflicht, sich zu weh­ren«37. Mann ver­knüpft auf zwei­fel­haf­te Wei­se Huma­ni­tät und Mas­ku­li­ni­tät. »Euro­pa wird nur sein«, sag­te er in einer Rede in Buda­pest im Juni 1936, »wenn der Huma­nis­mus sei­ne Männ­lich­keit ent­deckt und nach der Erkennt­nis han­delt, daß die Frei­heit selbst kein Frei­brief ihrer Tod­fein­de und ihrer Mör­der wer­den darf.«38 In den Ohren Sparrs klin­gen die­se »Sät­ze wie aus der Gegen­wart«, wobei das auto­ri­­tär-regier­­te Ungarn von 1936 wie ein Spie­gel­bild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In die­ser Vor­stel­lung erscheint Poli­tik stets nur als Wie­der­ho­lung des Immer­glei­chen, als käme der Faschis­mus wie ein unab­wend­ba­res Unheil aus dem Nichts. Tho­mas Mann man­gel­te es »an Kon­se­quenz des Den­kens«, insis­tier­te Wal­ter Boeh­lich. »Nichts wäre anders gewor­den, wenn er weni­ger bür­ger­lich, weni­ger kon­ser­va­tiv gewe­sen wäre; er konn­te nichts ändern.« Aber gera­de des­halb sei er »zum Lieb­lings­schrif­stel­ler der Deut­schen« gewor­den. Ver­mut­lich macht auch dies den Zau­ber­berg zu einem »Jahr­hun­der­t­ro­man«. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Tho­mas Sparr. Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos. Ber­lin: Beren­berg, 2024. 80 Sei­ten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑949203–82‑4. Han­jo Kes­t­ing. Tho­mas Mann: Glanz und Qual. Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023. 400 Sei­ten, 28 Euro. ISBN: 978–3‑8353–5413‑5. Bild­quel­len (Copy­rights) Foto Der Zau­ber­berg © Foto H.-P.Haack — Quel­le: «Erst­aus­ga­ben Tho­mas Manns» (2011). Her­aus­ge­ber: Anti­qua­ri­at Dr. Haack D – 04105 Leip­zig Foto Alber­to Mora­via © Pao­lo Mon­ti, via Wiki­me­dia Com­mons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 Cover Tho­mas Mann: Glanz und Qual © Wall­stein Ver­lag Cover Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4 © Rowohlt Ver­lag Foto Tho­mas Mann in sei­nem Haus in Mün­chen Quel­le: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbe­kannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 Cover Hans May­er: Tho­mas Mann © Suhr­kamp Ver­lag Sze­nen­fo­to All Quiet on the Wes­tern Front Archiv des Autors Cover Text + Kri­tik © edi­ti­on text + kri­tik Foto Fami­lie Mann am Strand von Los Ange­les © Tho­­mas-Mann-Archi­­v/ETH-Biblio­­thek Zürich Nach­wei­se Hans May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S 170 ↩ Tho­mas Mann, »Ein­füh­rung in den Zau­ber­berg für Stu­den­ten der Prince­ton Uni­ver­si­tät«, in: Mann, Der Zau­ber­berg, Stock­hol­mer Gesamt­aus­ga­be (Stock­holm: Ber­­mann-Fischer Ver­lag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hin­ter­grund cf. Stan­ley Corn­gold, The Mind in Exi­le: Tho­mas Mann in Prince­ton (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2022), S. 186–189 ↩ Wal­ter Ben­ja­min, »Der Erzäh­ler«, in: Ben­ja­min, Gesam­mel­te Schrif­ten, Band II, hg. Rolf Tie­de­mann und Her­mann Schwep­pen­häu­ser (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 439 ↩ »Deut­sche Schrift­stel­ler über Tho­mas Mann«, in: Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, hg, Heinz Lud­wig Arnold (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩ Alber­to Mora­via und Alain Elkann, Vita di Mora­via: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hart­mann (Frei­burg: Beck & Glück­ler, 1991), S. 53 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Kri­tik«, in: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10, hg. Rolf Tie­de­mann et al. (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 788 ↩ Han­jo Kes­t­ing, »Tho­mas Mann oder der Selbst­er­wähl­te«, Spie­gel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001–0000–000041521068; Spie­­gel-Haus­­mi­t­­tei­­lung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001–0000–000041483678 Leser­brie­fe in der glei­chen Aus­ga­be: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001–0000–000041483691 ↩ Han­jo Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023), S. 8 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Der Schock sitzt tie­fer«, in: Nach dem Pro­test: Lite­ra­tur im Umbruch, hg, W. Mar­tin Lüd­ke (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1979), S. 41 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Wir Zwer­ge hin­ter den Rie­sen: Über Tho­mas Mann und uns«, in: Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4: Die Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur – Bilanz der Poli­ti­sie­rung, hg. Hans Chris­toph Buch (Rein­bek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩ Georg Lukács, Essays on Tho­mas Mann, übers. Stan­ley Mit­chell (Lon­don: Mer­lin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩ Tho­mas Sparr, Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos (Ber­lin: Beren­berg, 2024), S. 8 ↩ John Dos Pas­sos, »A Hum­ble Pro­test« (1916), in: John Dos Pas­sos: The Major Non­fic­tion­al Pro­se, hg. Donald Pizer (Detroit: Way­ne Sta­te Uni­ver­si­ty Press, 1988), S. 30–34 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 22–23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 26, 28 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 27–28 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1022 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1009 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 3 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 35 ↩ Hans May­er, »Der ›Zau­ber­berg‹ als päd­ago­gi­sche Pro­vinz« (1949), in: May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S. 131 ↩ Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩ Her­mann Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk – Eine Bio­gra­phie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩ Lukács, Essays on Tho­mas Mann, S. 45 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 79 ↩ Tho­mas Mann, Der Tod in Vene­dig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩ Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk, S. 38 ↩ Tho­mas Mann, »Gedan­ken im Krie­ge«, in: Tho­mas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy (Lon­don: Bloomsbu­ry, 1997), S. 284 ↩ Flo­ri­an Kei­sin­ger, Rezen­si­on von: Tho­mas Mann: Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, Frank­furt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehe­punk­te 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩ Tho­mas Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, hg, Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩ Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, S. 75 ↩ Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy, S. 309 ↩ Wal­ter Boeh­lich, »Zu spät und zu wenig: Tho­mas Mann und die Poli­tik«, Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, S. 55 ↩ Erich Hel­ler, Tho­mas Mann: Der iro­ni­sche Deut­sche (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1970), S. 157, 192 ↩ Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Bio­graph­ers«, Jour­nal of Eng­lish and Ger­ma­nic Phi­lo­lo­gy, 96, Nr. 4 (Okto­ber 1997), S. 599 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 36 ↩ Tho­mas Mann, »Der Huma­nis­mus und Euro­pa«, in: Mann, An die gesit­te­te Welt: Poli­ti­sche Schrif­ten und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩ […]

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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