Die Maschinerie der Verblendung Aufstieg und Niedergang der Zeitschrift »Filmkritik« von Jörg Auberg In einem programmatischen Artikel zur gesellschaftlichen Rolle des Filmkritikers konstatierte Siegfried Kracauer wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, der »Filmkritiker von Rang« sei »nur als Gesellschaftskritiker denkbar«. Die Mission...
- Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien27. Oktober 2024Die Maschinerie der Verblendung Aufstieg und Niedergang der Zeitschrift »Filmkritik« von Jörg Auberg In einem programmatischen Artikel zur gesellschaftlichen Rolle des Filmkritikers konstatierte Siegfried Kracauer wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, der »Filmkritiker von Rang« sei »nur als Gesellschaftskritiker denkbar«. Die Mission dieses Kritikers sei es, »die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen«.1 Diese emphatische Betonung der kritischen Funktion des professionellen Filmjournalisten stand im fundamentalen Widerspruch zur »Deprofessionalisierung« des Kritikers zum bloßen Claqueur der Unterhaltungs- und späteren Kulturindustrie, wie sie – mit den Worten des Historikers Richard J. Evans – Joseph Goebbels in seiner stromlinienförmigen Programmatik der »Mobilisierung des Geistes« in die mediale Praxis (die sich auf Agitation und Propaganda beschränkte) umsetzte.2 Wie deutsch ist es Kritik sei aller Demokratie wesentlich, insistierte Theodor W. Adorno 1969 in einem seiner »Kritischen Modelle«, das vom Alp der Vergangenheit gezeichnet ist. »Daß Goebbels den Begriff des Kritikers zu dem des Kritikasters erniedrigen und mit dem des Meckerers hämisch zusammenbringen konnte«, schrieb Adorno, »und daß er die Kritik jeglicher Kunst verbieten wollte, sollte nicht nur freie geistige Regungen gängeln.«3 Für Adorno waren die »deutsche Kritikfeindschaft« und die »Rancune gegen den Intellektuellen« (als Transporteur der Kritik) Teil des autoritären, obrigkeitsstaatlichen Systems, das sich in den 1930er Jahren durchsetzte und in jüngerer Vergangenheit in Form neofaschistischer und autokratischer Tendenzen gegen kritisches Denken neuerlich formiert. Adorno, der »Remigrant« (wie die aus dem erzwungenen Exil zurückgekehrten Emigranten nach 1945 bezeichnet wurden), hielt den Finger in die Wunde, »das beschädigte deutsche Verhältnis zur Kritik«, das – mit einem Wort Ulrich Sonnemanns – im »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« in der Folgenlosigkeit verendete.4 Filmkritik als oppositionelle Praxis Für den einstigen Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, war die 1957 gegründete Zeitschrift Filmkritik ein linkes Oppositionsorgan gegen das restaurative Nachkriegsdeutschland5. In einer Geschichte der »Frankfurter Schule« charakterisiert der Historiker Jörg Später die Zeitschrift als »ein Seminar, das in Frankfurt hätte angesiedelt sein können«.6 In dem von Rolf Aurich und Michael Wedel herausgegebenen Band Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien wird weniger die Geschichte der Zeitschrift (die in der »Wendezeit« der Bundesrepublik nach längerem Siechtum 1984 verscharrt wurde) aufbereitet, als die Rollen einzelner Mitarbeiter (in der Männerwirtschaft war einzig die Filmpublizistin Frieda Grafe präsent) in den Medienmaschinen der Bundesrepublik auszuleuchten, die damals noch ausschließlich öffentlich-rechtlich organisiert und strukturiert waren (in erster Linie WDR, NDR, SFB, SWF und ZDF). Im eröffnenden Essay über den Filmkritik-Begründer Enno Patalas (1929–2018) – neben Ulrich Gregor (geb. 1932) einer der Doyens der bundesrepublikanischen Filmgeschichtsschreibung – rekurriert Claudia Lenssen auf die opulente, aber unvollendet gebliebene Studie Medienintellektuelle in der Bundesrepublik des Historikers Axel Schildt, in der Intellektuelle, die sich mit Film beschäftigten, außen vor blieben. »Die ›Medien‹ werden ausschließlich als Plattformen für ihre publizistische Textproduktion betrachtet«, kritisiert Lenssen, »sind jedoch nicht Gegenstand der Reflexion.«7 Selbst Alexander Kluge – der als Filmemacher, Autor, Intellektueller und Medienproduzent zwischen den verschiedenen Bereichen der intellektuellen Produktion wandelte – wird als »Medienintellektueller« bei Schildt nur einmal in einem Zitat erwähnt.8 Obwohl die Filmkritik sich in der Tradition von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer begriff und die Kritik der Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung in ihren Seiten fortführte, haftete dem Film noch immer der Ruch des Verkommenen und der Verblödung an. Auch wenn Adorno später Kluge und andere »Medienintellektuelle« protegierte, blieb doch sein Urteil aus den Minima Moralia präsent: »Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus.«9 Politik vs. Ästhetik Von Beginn an durchzog die Redaktion der Zeitschrift ein Riss zwischen einer »ästhetischen Linken« (repräsentiert von Enno Patalas, Helmut Färber u. a.) und einer »politischen Linken« resp. der »Kracauer-Fraktion« (in Person von Ulrich Gregor, Theodor Kotulla u. a.), der nicht nur das anfänglich gemeinsam von Patalas und Gregor betriebene Projekt Geschichte des Films (1962) zum Ein-Mann-Unternehmen machte10, sondern auch nach 1969 zu einer grundsätzlichen neuen Ausrichtung unter der Ägide der »ästhetischen Linken« führte, da die »politische Linke« der Zeitschrift den Rücken gekehrt hatte.11 Zunächst aber setzten Autoren wie Theodor Kotulla (1928–2001) und Gerhard Schoenberner (1931–2012), die ihre publizistische Arbeit als Zeitschriftenredakteure mit einer praktischen Film- und Fernseharbeit verbanden, Akzente im Sinne Kracauers und der »Kritischen Theorie« nach 1945, indem sie einerseits das Verdrängte in der Gegenwart in einem kritisch-realistischen Ansatz thematisierten und zum anderen die »Nachhaltigkeit« des Nationalsozialismus – sowohl im institutionalisierten Denken als auch in der nahezu bruchlosen Fortführung von NS-Karrieren in der bundesrepublikanischen Kulturindustrie in Personen wie Alfred Weidenmann, Herbert Reinecker und Wolfgang Liebeneiner vor Augen führten, wie es beispielsweise Schoenberner in seiner zwölfteiligen WDR-Reihe Film im Dritten Reich: Exkurse zur propagandistischen Massenführung aus dem Jahre 1969 demonstrierte. Wie viele Filmemacher aus dem Filmkritik-Umfeld war auch Kotulla (der bis 1968 für die Filmkritik schrieb und 1988 einen Schimanski-Tatort mit Götz George inszenierte) von Jean-Luc Godard und Robert Bresson geprägt. »Theodor Kotulla kam zur ›Filmkritik‹, weil er aufbgehrte gegen die Traditionen des zeitgenössischen Feuilletons, und er ging zum Fernsehen, obwohl er die dort vorherrschenden Konventionen ablehnte«, schreibt Anna Kokenge in ihrem Kotulla-Essay. »Die ›Filmkritik‹ war seine Schule und wenngleich sie keine gute Einkommensquelle gewesen sein mag, so war sie für seine spätere Arbeit doch unbezahlbar.«12 Die Strenge der Filmkritik-Publizistik sah auch Ulrich Gregor in Kotullas bekanntestem Film – Aus einem deutschen Leben (1977) – fortwirken: In diesem Film porträtierte Götz George einen KZ-Kommandanten, der auf der historischen Person Rudolf Höß basierte. »Die Film war intelligent strukturiert und mit bressonhafter Strenge gemacht«, lobte Gregor. Die »manchmal gespenstische Kühle der Bilder, der ruhige Rhythmus der Dramaturgie unterstreichen die didaktisch-aufklärerische Wirkung des Films«, der eine methodischer Gegenentwurf zur US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust war.13 »Dass Kotulla seine Gegen-Geschichte als Kritiker der ›Kulturinstrie‹ stets im Massenmedium erzählte«, schreibt Kokenge, »mag widersinnig srscheinen, kann aber ebenso als die empfundene Verantwortung gedeutet werden, gerade dort ›gesellschaftlichen Sinn für Realität‹ mitzugestalten.« Diesen »gesellschaftlichen Sinn für Realität« lassen andere Beiträge des Bandes vermissen. So verliert sich Gary Vanisian in der Analyse von Ulrich Gregors Beiträgen unter dem Titel Film kritisch (die zwischen 1967 und 1970 unter der Regie von Michael Strauven im NDR und SFB entstanden) in detaillierten Analysen über die medienstrukturelle Repräsentation des Gesehenen und Gehörten, während die kritische Form verloren geht. Raunend wird ein Disput zwischen Gregor und dem Filmpublizisten Reinhold E. Thiel über das Projekt der »Freunde der Deutschen Kinemathek« in West-Berlin zur Sprache gebracht, ohne dass der Autor jegliche Hintergrundinformation liefert. Erst in einem späteren Artikel wird das Rätsel aufgelöst.14 Niedergang und Ende In den 1970er und 1980er Jahren verlor die Zeitschrift – trotz Mitarbeiter wie Harun Farocki (1944–2014)15 – zunehmend an Bedeutung, da die Autoren der Zeitschrift sich für wichtiger nahmen als die kritische Analyse. Symptomatisch für diese Tendenz war Wolf-Eckart Bühler (1945–2020), der in den späten 1970er-Jahren Protagonisten des »anderen Amerikas« wie Leo T. Hurwitz, Abraham Polonsky, Irving Lerner und Sterling Hayden für sich entdeckte. Im Gegensatz zu anderen internationalen Zeitschriften wie Jump Cut, Film Quarterly, Sight & Sound, Cahiers du Cinéma oder Positif (die zur gleichen Zeit auf die linke Gegenkultur der 1930er und 1940er Jahre stießen16) blieben die Film-Essays Bühlers zumeist in der Verklärung der »roten Helden« der Vergangenheit stecken und betrieben eine »Ästhetisierung des Politischen«, in der politische Mythen in ein historisches Kontinuum eingegraben wurden, während die Konstruktion einer konkreten politischen Utopie außen vor blieb. In den späteren kritischen Abhandlungen über Hayden und Polonsky fanden sie keine Erwähnung.17 Im Gegensatz zu Kotulla und anderen »Medienarbeitern« des Betriebes wird Bühler (WEB) von dem Kultur-Feuilletonisten Alf Mayer18 zum Maquisard gegen den bürgerlichen Kulturbetrieb stilisiert, ohne dass er zu einer kritischen Selbstreflexion innerhalb des Betriebes fähig wäre. »Kracauers Ideologiekritik, auf die Patalas & Co sich gerne beriefen«, gibt das Betriebssprachrohr zum Besten, »ist für WEB bloße Agentin des Zeitgeistes, ›nicht des Geistes‹, ist überkommenes Instrument, rein retrospektiv, nicht nach vorne, in die neue Zeit gerichtet …«19 Diese intellektuelle Armseligkeit ließ auch die Filmkritik verdientermaßen auf der Müllhalde der Geschichte verenden. Oder mit Adorno gesprochen: »Der totale Zusammenhang der Kulturindustrie, der nichts ausläßt, ist eins mit der totalen gesellschaftlichen Verblendung.«20 © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Rolf Aurich und Michael Wedel (Hg.). Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien. München: edition text + kritik, 2024. 290 Seiten, 29 Euro. ISBN: 978–3‑96707–925‑8. Bildquellen (Copyrights) Porträt Siegfried Kracauer Archiv des Autors Cover How German Is It © New Directions Cover Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien © edition text + kritik Cover Filmkritik Archiv des Autors Foto Wolf-Eckart Bühler und Abraham Polonsky © Edition Filmmuseum München Nachweise Siegfried Kracauer, »Über die Aufgabe des Filmkritikers« (1932), in: Kracauer, Werke, Bd. 6:3: Kleine Schriften zum Film, 1932–1961, hg. Inka Mülder-Bach (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004), S. 63 ↩ Cf. Richard J. Evans, The Third Reich in Power, 1933–1939 (London: Penguin, 2006), S. 129–133; und Evans, Hitler’s People: The Faces of the Third Reich (London: Allen Lane, 2024), S. 177–178 ↩ Theodor W. Adorno, »Kritik« (1969), in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩ Adorno, »Kritik«, S. 791; Ulrich Sonnemann, »Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten: Deutsche Reflexionen(1963/85)«, in: Sonnemann, Schriften, Bd. 4, hg, Paul Fiebig (Springe: zu Klampen, 2014), S. 101–118 ↩ Rolf Aurich und Michael Wedel, Einleitung zu: Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien, hg. Aurich und Wedel (München: edition text + kritik, 2024), S. 14; hiernach zitiert als FZM ↩ Jörg Später, Adornos Erben: Eine Geschichte aus der Bundesrepublik (Berlin: Suhrkamp, 2024), S. 102 ↩ Claudia Lenssen, »Lebensthema Kino und Publizistik: Enno Patalas und die Medien«, in: FZM, S. 16 ↩ Axel Schildt, Medienintellektuelle in der Bundesrepublik, hg. Gabriele Kandzora und Detelef Siegfried (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 537 ↩ Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 21; zur differenzierten Analyse von Adornos Verhältnis zum Kino cf. Miriam Bratu Hansen, »Introduction to Adorno, ›Transperencies on Film‹ (1966)«, New German Critique, Nr. 24–25 (Herbst-Winter 1981–82), S. 186–198 ↩ Siehe Ulrich Gregors Vorwort zu: Geschichte des Films ab 1960 (Reinbek: Rowohlt, 1983), S. 9 ↩ Rolf Aurich, »Der Publizist: Reinhold E. Thiel zwischen Filmkultur, Filmkritik und Medien«, FZM, S. 158 ↩ Anna Kokenge, »Das Schreiben als Schule: Theodor W. Kotullas Weg von der Filmkritik zum Fernsehfilm«, FZM, S. 87 ↩ Gregor, Geschichte des Films ab 1960, S. 149 ↩ Gary Vanissian, »Medium des persönlichen Ausdrucks: Die Fernsehbeiträge von Ulrich Gregor«, FZM, S. 96; Aurich, »Der Publizist«, S. 158–159 ↩ Cf. Volker Pantenburg, »Film-Praxis und Text-Praxis: Harun Farocki und die Filmkritik«, in: Harun Farocki, Schriften, Bd. 4, hg. Volker Pantenburg (Berlin: Neuer Berliner Kunstverein, 2019), S. 449–466 ↩ Cf. Russell Campbell, »Film and Photo League: Radical Cinema in the 30s – Introduction«, Jump Cut, Nr. 14 (1977), S. 23–25, https://ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC14folder/FilmPhotoIntro.html; Max Pearl, »Cameras for Class Struggle«, Art in America, März-April 2021, https://www.artnews.com/art-in-america/features/cameras-for-class-struggle-workers-film-and-photo-league-1234590463/) ↩ Cf. Philippe Garnier, Sterling Hayden – L’Irrégulier (Paris: La Rabbia, 2019); Paul Buhle und Dave Wagner, A Very Dangerous Citizen: Abraham Lincoln Polonsky and the Hollywood Left (Berkeley: University of California Press, 2001); Abraham Polonsky: Interviews, hg, Andrew Dickos (Jackson: University Press of Mississippi, 2013); Larry Ceplair und Steven Englund, The Inquisition in Hollywood: Politics in the Film Community, 1930–1960 (Berkeley: University of California Press, 1983); Jörg Auberg, »Aufrecht gehen: Abraham Polonsky, Hollywood und die Schwarze Liste«, TheaterZeitSchrift, Nr. 27 (Frühjahr 1989), S. 120–133 ↩ Zur Selbstdarstellung cf. https://culturmag.de/author/alf-mayer ↩ Alf Mayer, »›Dabeisein heißt gehorchen‹: Zum Werk von Wolf-Eckart Bühler«, FZM, S. 252 ↩ Adorno, Minima Moralia, S. 275 ↩ […]
- Thomas Sparr: Zauberberge18. Juli 2024Der demokratische Tod Thomas Manns »Jahrhundertroman« Der Zauberberg von Jörg Auberg »Der Faschismus ist greisenhaft und böse, in jeglicher Gestalt.« Hans Mayer1 Rückblicke auf den Zauberberg IIm Herbst 1924 erschienen die beiden Bände des Romans Der Zauberberg, die – mit den Worten Thomas Manns in einer Einführung des Werkes für Studenten an der Princeton University im Jahre 1939 – »aus der der Konzeption der short story entstanden waren« und ihren Autor »zwölf Jahre in den Bann gehalten hatten«.2 Ursprünglich sollte der Text »nichts weiter sein als ein humoristisches Gegenstück zum ›Tod in Venedig‹, ein Gegenstück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas ausgedehnte short story«. Die »Arbeitszeit« an diesem Werk war durchaus notwendig, da sowohl Autor als auch intendiertes Lesepublikum eine schockhafte Entwicklung zu absolvieren hatten, wie Walter Benjamin 1936 die Erfahrung der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschrieb: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.«3 In der Diktion Thomas Manns hieß es: Es seien »Erlebnisse nötig gewesen, die der Autor mit seiner Nation gemeinsam hatte, und die er beizeiten in sich hatte kunstreif machen müssen, um mit seinem gewagten Produkt, wie einmal schon, im günstigsten Augenblick hervorzutreten.« Die »Probleme« des Romans seien nicht »massengerecht« gewesen, konzedierte der Dichter der Nation, »aber sie brannten der gebildeten Masse auf den Nägeln, und die allgemeine Not hatte die Rezeptivität des breiten Publikums genau jene alchimistische ›Steigerung‹ erfahren lassen, die das eigentliche Abenteuer des kleinen Hans Castorp ausgemacht hatte«. Noch im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkrieges brüstete sich Thomas Mann damit, dass der Zauberberg »ein sehr deutsches Buch« sei, und insistierte Mann, dass »fremdländische Beurteiler seine Weltmöglichkeit vollkommen unterschätzten«. Sein Protagonist Hans Castorp sei ein »Gralssucher«, der den Gral der Humanität aufspüren möchte, die auf »Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen« beruhe, wie der Autor des Zauberbergs dunkel formuliert. Einwände widerspenstiger Leser en Studenten (angesprochen als »Gentlemen«, da Princeton ein Männerhort des zukünftigen elitären Geistes war) empfahl der Dichterfürst eine mindest zweimalige Lektüre seines Werkes. »Wer aber mit dem ›Zauberberg‹ überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik kennen muß, um sie richtig zu genießen.« Das Vergnügen stellte sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfrage der NDR-Kulturredaktion aus dem Jahre 1975 bezüglich des gegenwärtigen Interesses am Werk Thomas Manns antwortete Alfred Andersch: »Unlängst habe ich versucht, den ›Zauberberg‹ wieder zu lesen – leider mußte ich das Experiment abbrechen. Das allzu innige Behagen am Stilistischen ging mir einfach auf die Nerven.« In der gleichen Umfrage gab Ror Wolf zu Protokoll: »Das, was mich am meisten interessiert im Zusammenhang mit Thomas Mann, ist die Frage: warum er mich nie interessiert hat.«4 In einem Interview mit dem Autor Alain Elkann kategorisierte Alberto Moravia den Zauberberg als »Unterhaltungsroman« und stellte ihn in eine Reihe mit André Gides Die Falschmünzer (1925) und Aldous Huxleys Kontrapunkt des Lebens (1928): »drei Romane, die mir nicht gefielen und mir nichts sagten«, beschrieb Moravia seine Aversion gegen die Prätentiosität dieser »Unterhaltungsromane« der Moderne und fügte wenig später hinzu: »Italo Calvino hat etwas Richtiges gesagt: daß Thomas Mann alles gesehen habe, aber von einem Balkon des 19. Jahrhunderts aus, wie alles zusammenstürzte. Ich halte das für eine gute und richtige Bemerkung. Thomas Mann hat geahnt, wie Europa enden würde, doch seine Perspektive war die einer inzwischen überholten bürgerlichen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wir dagegen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wirbel des Mahlstrom-Trichters stürzt.«5 Jenseits der Kritik elbst im »roten Jahrzehnt« der postfaschistischen Bundesrepublik Deutschland war Thomas Mann als »Dichter der Nation« über Kritik weitgehend erhaben. »Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill«, diagnostizierte Theodor W. Adorno in einem Beitrag für SDR im Mai 1969. »Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten.«6 Als Hanjo Kesting, der langjährige Leiter der NDR-Kulturredaktion, in einem kritischen Thesenartikel für den Spiegel Manns Verstricktheit in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus, seine elitäre Vorstellung von Demokratie und sein Misstrauen gegenüber dem Volk (das er in erster Linie als Masse und Mob wahrnahm) thematisierte und ihn als »Statthalter der bürgerlichen Kulturtradition« beschrieb, die längst verfault sei, echauffierte sich augenblicklich der zum absurden Klischee geronnene Phantombürger-Mob in den Leserbriefspalten des Spiegel, der den »Dichterfürsten« nicht von einem »Kritikaster« des notorischen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen wollte.7 Mittlerweile ist der »Rotfunk« abgewickelt, Hanjo Kesting seit 2006 im Ruhestand, und dem Autor der »polemischen Thesen« ist das »aufsässige Produkt« aus seiner »Sturm- und Drang-Zeit« peinlich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kesting im Vorwort zu seinem Buch Thomas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Verehrern des ›Zauberers‹.« Mittlerweile ist auch der ehemalige Kritiker Kesting zum »Verehrer« Thomas Manns konvertiert, auch wenn er nicht jeden Kritikpunkt widerrufen will. Doch erscheint ihm im Rückblick »das aus einem ödipalen Reflex entstandene Thesenpapier ziemlich unausgegoren«. 8 Schon wenige Jahre nach der Revolte und dem verkündeten Tod der Literatur verzwergten sich die »Schreibproduzenten« im Schatten des Riesen Thomas Mann. »Die Revolte ist vorüber, die Nostalgie geblieben«9, gab der linke Schriftsteller Gerhard Zwerenz 1979 zu Protokoll. Vier Jahre zuvor hatte Zwerenz in Rowohlts Literaturmagazin, dem Zentralorgan für die »Literatur nach dem Tod der Literatur«, den »Unterhaltungsschriftsteller« Thomas Mann als Vorbild für künftige Autor*innen der Literaturproduktion empfohlen. Von ihm sei zu lernen, insistierte Zwerenz, »wie man anschreibt gegen einen Vulgarismus, der die Welt zurückziehen« wolle. »Thomas Mann und der Faschismus waren unverträglich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwillig ausscheiden ließ. Wir können das Potential der Unverträglichkeit mit dem Faschismus durch Literatur vergrößern. Mehr können wir nicht. Aber ich halte das schon für sehr viel.«10 Selbst für den Marxisten Georg Lukács repräsentierte Thomas Mann im ideologischen Verfall der bürgerlichen Klasse noch »das Beste in der deutschen Bourgeoisie« und war in seinen Augen der »letzte große bürgerliche Autor«.11 Demokratie einer Elite n seinem schmalen Band Zauberberge tituliert der Literaturwissenschaftler und Verlagslektor Thomas Sparr Thomas Manns Roman Der Zauberberg als »Jahrhundertroman«, wobei unklar bleibt, wodurch dieser Roman den Rang eines »Jahrhundertromans« erhält. »Was macht diesen Roman«, fragt Sparr in seinem Vorwort, »nach einhundert Jahren so zugänglich, vergangen und doch gegenwärtig, erschlossen und doch rätsel‑, ja zauberhaft?«12 Für Sparr ist »Demokratie« das »Schlüsselwort des Romans«, und der Zauberberg ist eine überdimensionierte Revokation von Manns antieuropäischen und antidemokratischen Suaden in den Zeiten des Ersten Weltkrieges, als beispielsweise US-amerikanische Autoren wie John Dos Passos gegen die Barbarei der modernen industriellen Staatsmaschinerie opponierten, die sowohl die Eroica-Symphonie als auch die Ruinen von Reims produziert hatte.13 »In den Jahren des Ersten Weltkriegs führt Thomas Mann einen Feldzug gegen die Moderne«, schreibt Sparr, »gegen die Demokratie, gegen das, was er mit Geringschätzung ›Civilisation‹ nannte, an ihrer Spitze den ›Civilisationsliteraten‹, das vagabundierende Literatentum.«14 Im Zauberberg erweise sich »die Diskussion, die Auseinandersetzung, das Für und Wider« als »Kernelement der Demokratie«, argumentiert Sparr und stellt die These auf, der Zauberberg lasse sich »als demokratischer, ja sozialdemokratischer Roman lesen«.15 Seltsam mutet Sparrs Verständnis von Demokratie an. Der Tod sei, behauptet er, »im Zauberberg das große demokratische Element, so wie der Roman auf die sozialen Unterschiede achtet.«16 Ist das Wesen der Demokratie, dass alle an Krankheit oder auf dem »Weltfest des Todes«17 sterben können? Im Zauberberg existiert allenfalls eine »Demokratie von Ehrentischen«18 für die solventen kranken Bürger jenseits des »Flachlandes«, wo die Kreaturen hausen, welche die Zeche für die Barbarei zu zahlen haben. Die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit, die den Roman durchzieht, ist von Beginn von verschleierten Klassenverhältnissen gezeichnet, als ein »einfacher junger Mensch« namens Hans Castorp, der realiter ein Abkömmling einer bürgerlichen hanseatischen Familie ist, sich mit seiner »krokodilslernden Handtasche« auf die Reise zum Zauberberg begibt.19 Gesundheit sei in diesem Roman »so etwas wie die leibliche Seite von Demokratie«, konstatiert Sparr, während Krankheit »immer als moralisches, seelisches, auch geistiges Defizit« erscheine: Gesundheit sei in den Bildern Thomas Manns »immer nur vorübergehend, ein Zustand voller Täuschungen, Selbsttäuschungen«, während die Krankheit, »die unausweichliche Enttäuschung«, das letzte Wort behalte.20 Wie der marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konstatierte, enthalte der Zauberberg den Querschnitt durch die bürgerliche Gesellschaft der Zeit um 1914, doch alle seien krank und verurteilt. »Die bürgerliche Demokratie weist zwar den Weg ins Freie, doch diese freie Ebene hat die Gestalt eines Schützengrabens angenommen«, resümiert Mayer. »Nun geht es darum, mag Castorp untergehen, daß neue Generationen, die nicht mehr krank sind, bewußte Parteigänger des Lebens werden, statt solcher Krankheit und der todessüchtigen Nacht.«21 Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte die Erinnerung an Manns Engagement gegen den Faschismus in seinem US-amerikanischen Exil, während seine Formulierung »Weltfest des Todes« im Zauberberg »beschwiegen« wurde. Zumindest bei Kesting bestehen weiter Zweifel, ob Mann »die Realität des vier Jahre währenden großen Mordens auf den Schlachtfeldern Europas an sich herankommen ließ, als er seinen wütenden Geisteskampf austrug«22. Während der Schulabbrecher Mann, der sich als Künstler und Bürger in Personalunion inszenierte und für das »Negerfranzösisch«23 seiner Schulzeit schämte, das »Menschenmaterial« der industriellen Staatsmaschinerie ignorierte, lobte ihn Lukács als »Autor und Realist«, der nie »modern im dekadenten Sinne« gewesen sei.24 Die Koppelung von Moderne und Dekadenz als Gegenbild zum »Realismus« repetiert die Ranküne gegen das »vagabundierende Literatentum«, das sowohl dem Bürger als auch dem Bürokraten im Auftrag der Herrschaft suspekt ist. Das Gegenprogramm zur kranken Elitengesellschaft ist nicht die Utopie einer egalitär-demokratischen Gesellschaft, sondern das innerliche Strammstehen. »Wir sind wirklich etwas versimpelt«, erklärt Castorps soldatischer Vetter Joachim. »Aber man kann sich schließlich zusammenreißen.«25 Der geistige Dienst mit der Waffe as soldatische Verständnis war schon in der Figur des Gustav Aschenbach in der Novelle der Tod im Venedig (1912) angelegt (»auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen«26). Der »High-School-Dropout« Thomas Mann erwarb seine »deutsche Bildung«, wie der Mann-Biograph Hermann Kurzke schrieb, »autodidaktisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«27. Im Jahre 1914 führte die »deutsche Bildung« zu der Erkenntnis, dass der Krieg »Reinigung« und »Befreiung« darstelle. In dem Aufsatz »Gedanken im Kriege« (»Essay« hätte für den Nationalisten Thomas Mann vermutlich zu »fremdländisch« geklungen) wandte sich der bürgerliche Autor gegen den »gallischen Radikalismus«, der ihm als Sackgasse erschien, »an deren Ende es nichts als Anarchie und Zersetzung« gebe. »Deutschlands ganze Tugend und Schönheit« entfalte sich erst im Krieg, postulierte Mann, der als Literaturproduzent von dem Verlangen nach billigen Buchausgaben profitierte, die an die Frontsoldaten verschickt werden konnten. Im nationalistischen Fieber sah der Dichter der Nation sein Vaterland als Opfer eines bösen Europas: »Ihr wolltet uns umzingeln, abschnüren, austilgen, aber Deutschland, ihr sehet es schon, wird sein tiefes, verhaßtes Ich wie ein Löwe verteidigen, und das Ergebnis eures Anschlages wird sein, daß ihr staunend genötigt sehn werdet, uns zu studieren.«28 In seinem überbordenden Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (den er im US-amerikanischen Exil später als »ein mühseliges Werk der Selbsterforschung und des Durchlebens der europäischen und Streitfragen« und als »geistigen Dienst an der Waffe« bezeichnete) ereiferte er sich in manisch-chauvinistischer Manier über den Typus des »Zivilationsliteraten« – ein Begriff, der nach der Zählung eines Rezensenten etwa 200 Mal in dem Werk auftaucht29. Ihm graute vor der Vorstellung, eine militärische Niederlage Deutschland hätte ein »Imperium der Zivilisation« zur Folge haben können. Das »Ergebnis wäre«, mutmaßte der deutschnationale Bürger Mann, »ein Europa gewesen, – nun, ein wenig drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein Europa, schon etwa allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa«, »ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte«.30 Die »Demokratisierung Deutschlands« liefe auf die »Entdeutschung« hinaus31, befürchtete Mann, ohne dass er mit seinem Essay diesen Prozess aufhalten konnte. »Das Erscheinen dieses antidemokratischen Buches«, konstatiert der Mann-Biograf Ronald Hayman, »fiel zusammen mit der Bildung einer demokratisch orientierten Regierung.«32 Wie Walter Boehlich in einem Argumentationsversuch gegen den Zeitgeist der Thomas-Mann-Idolatrie insistierte, gehörte das Buch »in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus«33 und war »der wortreiche Versuch, das politische Versagen des Bürgertums in seine eigentliche Tugend umzuschminken«. Die Betrachtungen hätten Furore gemacht, urteilte Boehlich, »und es ist gleichgültig, wie Thomas Mann selbst sie jeweils verstanden sehen wollte; nicht gleichgültig ist, wie sie gewirkt haben.« Das konservative Deutschland habe sie als »Rechtfertigungsschrift« verstanden. »Entschuldet« wird Thomas Mann – beispielsweise von dem Essayisten Erich Heller – mit dem Hinweis auf seinen Charakter als »ironischer Deutscher« und Künstler, der gegen »den Sozialmoralismus des Zivilisationsliteraten« mit einer »skeptischen Intelligenz« beharrt und in den Betrachtungen »ein quasi-politisches Traumbild der konservativen Phantasie« entworfen habe.34 Die Argumentation von konservativen Autoren wie Heller oder Marcel Reich-Ranicki bagatellisiert das politische Engagement Manns mit der Begründung, dass seine politischen Auffassungen amateurhaft gewesen seien und daher nicht ernst genommen werden müssten.35 Auf diese Weise wird der intellektuelle Ästhet vor dem politischen Kommentator gerettet. Für Sparr werden im Zauberberg »die Argumente für Humanität, für Maß und Mäßigung geschärft«36, ohne dass er selbst diese Argumente kritisch hinterfragt. Der »Politiker« Thomas Mann plädiere »für einen militanten Humanismus; Freiheit und Duldsamkeit hätten das Recht und die Pflicht, sich zu wehren«37. Mann verknüpft auf zweifelhafte Weise Humanität und Maskulinität. »Europa wird nur sein«, sagte er in einer Rede in Budapest im Juni 1936, »wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit selbst kein Freibrief ihrer Todfeinde und ihrer Mörder werden darf.«38 In den Ohren Sparrs klingen diese »Sätze wie aus der Gegenwart«, wobei das autoritär-regierte Ungarn von 1936 wie ein Spiegelbild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In dieser Vorstellung erscheint Politik stets nur als Wiederholung des Immergleichen, als käme der Faschismus wie ein unabwendbares Unheil aus dem Nichts. Thomas Mann mangelte es »an Konsequenz des Denkens«, insistierte Walter Boehlich. »Nichts wäre anders geworden, wenn er weniger bürgerlich, weniger konservativ gewesen wäre; er konnte nichts ändern.« Aber gerade deshalb sei er »zum Lieblingsschrifsteller der Deutschen« geworden. Vermutlich macht auch dies den Zauberberg zu einem »Jahrhundertroman«. © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Thomas Sparr. Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos. Berlin: Berenberg, 2024. 80 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑949203–82‑4. Hanjo Kesting. Thomas Mann: Glanz und Qual. Göttingen: Wallstein, 2023. 400 Seiten, 28 Euro. ISBN: 978–3‑8353–5413‑5. Bildquellen (Copyrights) Foto Der Zauberberg © Foto H.-P.Haack — Quelle: «Erstausgaben Thomas Manns» (2011). Herausgeber: Antiquariat Dr. Haack D – 04105 Leipzig Foto Alberto Moravia © Paolo Monti, via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 Cover Thomas Mann: Glanz und Qual © Wallstein Verlag Cover Literaturmagazin 4 © Rowohlt Verlag Foto Thomas Mann in seinem Haus in München Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 Cover Hans Mayer: Thomas Mann © Suhrkamp Verlag Szenenfoto All Quiet on the Western Front Archiv des Autors Cover Text + Kritik © edition text + kritik Foto Familie Mann am Strand von Los Angeles © Thomas-Mann-Archiv/ETH-Bibliothek Zürich Nachweise Hans Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S 170 ↩ Thomas Mann, »Einführung in den Zauberberg für Studenten der Princeton Universität«, in: Mann, Der Zauberberg, Stockholmer Gesamtausgabe (Stockholm: Bermann-Fischer Verlag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hintergrund cf. Stanley Corngold, The Mind in Exile: Thomas Mann in Princeton (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2022), S. 186–189 ↩ Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 439 ↩ »Deutsche Schriftsteller über Thomas Mann«, in: Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, hg, Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩ Alberto Moravia und Alain Elkann, Vita di Moravia: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hartmann (Freiburg: Beck & Glückler, 1991), S. 53 ↩ Theodor W. Adorno, »Kritik«, in: Kulturkritik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Bd. 10, hg. Rolf Tiedemann et al. (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩ Hanjo Kesting, »Thomas Mann oder der Selbsterwählte«, Spiegel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001–0000–000041521068; Spiegel-Hausmitteilung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001–0000–000041483678 Leserbriefe in der gleichen Ausgabe: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001–0000–000041483691 ↩ Hanjo Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual (Göttingen: Wallstein, 2023), S. 8 ↩ Gerhard Zwerenz, »Der Schock sitzt tiefer«, in: Nach dem Protest: Literatur im Umbruch, hg, W. Martin Lüdke (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), S. 41 ↩ Gerhard Zwerenz, »Wir Zwerge hinter den Riesen: Über Thomas Mann und uns«, in: Literaturmagazin 4: Die Literatur nach dem Tod der Literatur – Bilanz der Politisierung, hg. Hans Christoph Buch (Reinbek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩ Georg Lukács, Essays on Thomas Mann, übers. Stanley Mitchell (London: Merlin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩ Thomas Sparr, Zauberberge: Ein Jahrhundertroman aus Davos (Berlin: Berenberg, 2024), S. 8 ↩ John Dos Passos, »A Humble Protest« (1916), in: John Dos Passos: The Major Nonfictional Prose, hg. Donald Pizer (Detroit: Wayne State University Press, 1988), S. 30–34 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 22–23 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 26, 28 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 27–28 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 1022 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 1009 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 3 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 35 ↩ Hans Mayer, »Der ›Zauberberg‹ als pädagogische Provinz« (1949), in: Mayer, Thomas Mann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984), S. 131 ↩ Kesting, Thomas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩ Hermann Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk – Eine Biographie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩ Lukács, Essays on Thomas Mann, S. 45 ↩ Mann, Der Zauberberg, S. 79 ↩ Thomas Mann, Der Tod in Venedig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩ Kurzke, Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk, S. 38 ↩ Thomas Mann, »Gedanken im Kriege«, in: Thomas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hayman, Thomas Mann: A Biography (London: Bloomsbury, 1997), S. 284 ↩ Florian Keisinger, Rezension von: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩ Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg, Hermann Kurzke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩ Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 75 ↩ Hayman, Thomas Mann: A Biography, S. 309 ↩ Walter Boehlich, »Zu spät und zu wenig: Thomas Mann und die Politik«, Text + Kritik, Sonderband über Thomas Mann, S. 55 ↩ Erich Heller, Thomas Mann: Der ironische Deutsche (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970), S. 157, 192 ↩ Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Biographers«, Journal of English and Germanic Philology, 96, Nr. 4 (Oktober 1997), S. 599 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 23 ↩ Sparr, Zauberberge, S. 36 ↩ Thomas Mann, »Der Humanismus und Europa«, in: Mann, An die gesittete Welt: Politische Schriften und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩ […]
- Leonardo Sciascia: Die Affaire Moro10. Juni 2024Das Italienische Verhängnis Leonardo Sciascias Reflexionen zur »Affäre« Aldo Moro von Jörg Auberg Am Morgen des 16. März 1978 lauerte in der Via Fani in Rom ein Kommando der »Roten Brigaden« (Brigate Rosse, eines Zerfallsprodukts der italienischen Revolte der späten 1960er Jahre) dem christdemokratischen Funktionär Aldo Moro auf und entführte ihn, nachdem es innerhalb von drei Minuten die fünf Begleiter seiner Eskorte erschossen hatte. Die folgenden 55 Tage verbrachte Moro in einem »Volksgefängnis« der Brigate Rosse (BR), in dem ihm die selbstermächtigten Terrorist*innen den Prozess machten, ehe sie ihn am 9. Mai 1978 erschossen und seinen Leichnam in einem Renault 4 in der Via Caetani in Rom abstellten. Wie Adrian Lyttelton betont, wurde dieser Ort aus symbolischen Gründen ausgewählt: Er lag auf halbem Wege zwischen den Zentralen der Christdemokraten und der Kommunisten.1 Der detektivische Leser ährend dieser Gefangenschaft schrieb Moro 80 Briefe an seine Familie und einige »Parteifreunde«, auf deren Hilfe er vergebens hoffte. Diese Briefe unterzog Leonardo Sciascia, der vor allem als Autor von Kriminalromanen über das Mafia-Milieu bekannt ist, in seinem Buch Die Affaire Moro (1978) einer detaillierten und präzisen Lektüre und zeigte (mit den Worten der Literaturkritikerin Maike Albath) auf, »wie die Christdemokraten ihren Vorsitzenden, den langjährigen Ministerpräsidenten und Architekten des compromesso storico im Stich gelassen und dessen Äußerungen missverstanden hatten«2 Ob seine »Parteifreunde« ihn tatsächlich »missverstanden« hatten, ist eher fraglich. Für die italienischen Christdemokraten war Moro – wie Sciascia schreibt – »eine Art schmerzender Gallenstein« geworden, den es »aus einem Organismus zu entfernen galt«3 Sciascia beleuchtet den Fall Moro nicht im Stile eines spektakelhaften und spekulativen Polit-Thrillers, sondern in einem komplexen, vielschichtigen und enigmatischen Text, der in seinem moralischen Impetus an Émile Zolas klassisches Intellektuellenpamphlet J’accuse erinnert.4 Die Geschichte Moros in seiner letzten Lebensphase reflektiert Sciascia durch literarische Prismen (wie Pier Paolo Pasolini, Luigi Pirandello, Jorge Luis Borges und Edgar Allan Poe) und gewinnt auf diese Weise Einsichten, die ihn in seiner Unerbittlichkeit und Unbeirrbarkeit gegen die herrschende Meinung nahezu aller politischen Richtungen bestärken. Bella Italia in schwarz n einer Kritik von Sciascias Roman Candido oder ein Traum in Sizilien (1977), der das Scheitern des demokratischen Neuaufbaus nach der Niederlage verhandelt, konstatierte Gore Vidal, dass es Italien nach dem Zweiten Weltkrieg »mit charakteristischer Kunstfertigkeit« gelungen sei, ein gesellschaftliches Gemisch aus den am wenigsten attraktiven Aspekten des Sozialismus und praktisch allen Lastern des Kapitalismus herzustellen. Über die schönen Landstriche Italiens wucherte so eine »riesige metastisierende Bürokratie«, die sich aus den Geschwüren der Vergangenheit wie der Gegenwart nährte.5 In den Augen des großen italienischen Romanciers Alberto Moravia war es zuvörderst ironisch, dass – mit den Worten des Romanisten Thomas Erling Peterson – »so viele Italiener tolerant gegenüber autoritären Ideologien waren, so dass die Nation nach dem Sturz des Faschismus bestrebt zu sein schien, dem Regime zu vergeben und seine Fehler zu wiederholen«.6 Die Verharmlosung des faschistischen Regimes – trotz der Ermordung und Einkerkerung von politischen Gegner*innen, der Zerschlagung der Gewerkschaften, der »Verbannung« oder domicilio coatto von Oppositionellen und Homosexuellen auf abgelegene Inseln oder die Deportation von Jüd*innen im Zuge der italienischen Rassengesetze nach 1938 – gehörte zum ideologischen Inventar der italienischen Nachkriegsgesellschaft. »Der italienische Faschismus«, schrieb Umberto Eco, »war der erste, der sich eine militärische Liturgie, eine Folklore und sogar eine eigene Kleidermode schuf – womit er im Ausland mehr Erfolg als Armani, Benetton oder Versace haben sollte.« Er stellte einen Archetyp für Nachahmer in Europa und Sympathisanten selbst in den USA dar, wo der faschistische Staat als Erlösung in der demokratischen Desillusion erschien und als Garten der Schönheit, der Transzendenz und des Friedens idealisiert wurde.7 Das Land befreite sich nach 1945 nie von der Herrschaft der Rackets, die – mit den Worten Max Horkheimers – mit der »Brutalität der Stärkeren gegen die Schwächeren, als die unbeschriebene Gemeinheit des Mobs gegen die Ohnmacht« agierten.8 In ihrer Reinform operierten die Rackets unter den Apparaturen und Kostümen der Mafia, deren Praktiken Sciascia in seinen Kriminalromanen beschrieb oder auch parodierte. In den Auseinandersetzungen der Parteien in den kargen ideologischen Landschaften sah er lediglich eine politische Klasse am Werke, »wo nur die Macht um der Macht willen zählte«9 Rackets agierten als Plattformen der Macht, die über ökonomische, technologische und medienpolitische Mechanismen ihre Herrschaft sicherten, wobei die in sich gekapselte Kommunikation eine besondere Form der Herrschaftssicherung spielte.10 In den 1970er Jahren entglitt den Plattformen in der italienischen politischen Landschaft zunehmend die technische Handhabbarkeit der Macht, wie Pier Paolo Pasolini in seinen Freibeuterschriften konstatierte. Beispielhaft sei Aldo Moro, schrieb Pasolini, »der gerade am wenigsten in all die abscheulichen Dinge verwickelt sceint, die von 1969 bis heute von denen organisiert wurden, die um keinen Preis die Macht aus den Händen geben wollen – was ihnen bislang auch, formal gesehen, gelungen ist.«11 In Pasolinis Sicht agierten die »christdemokratischen Potentaten« in einer Leere, in einem Vakuum. »Die reale Macht braucht sie nicht mehr, und sie haben nichts mehr in der Hand außer ein paar nutzlosen Apparaten, die höchstens noch ihren traurigen Zweireihern Realität verleihen.«12 In der für viele verschwörungstheoretische Szenarien empfänglichen italienischen Landschaft schloss die Erwartung für die Zukunft lediglich einen Staatsstreich und die Restauration des Faschismus ein. Die Unsichtbarkeit des Offensichtlichen m Zuge der zunehmenden politischen Gewalt wurde Pasolini, der kurz von seinem Tod 1975 noch die »Kriminalität des Staates«13 anprangerte, als intellektueller Urheber des Terrorismus stigmatisiert. Pasolini habe, hieß es, in seinen öffentlichen Invektiven gefordert, den führenden christdemokratischen Politikern den »Prozess« zu machen – einen Prozess, den nun die Mitglieder des BR-Terrorkommandos in ihrem »Volksgefängnis« in die Tat umsetzten. »Abgesehen von der rein formalen Tatsache«, insistierte Pasolinis Biograf Enzo Siciliano, dass »Pasolini von einem ›Prozess vor einem ordentlichen Gericht‹ gesprochen hatte, mußte man in seinen Worten jedoch das Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien und an sozialistischen Werte heraushören . Gerade die ›Ordnungsmäßigkeit‹ und die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens waren für Pasolini schon wegen ihres Symbolgehalts höchste Werte.«14 Auch Sciascia war – ob seiner vorgeblichen intellektuellen Kälte und seiner »Weigerung, sich vorbehaltlos an die Seite des Staates zu stellen« – starken Anfeindungen ausgesetzt und des »verbalen Terrorismus« bezichtigt. Wie Poes detektivischer Privatier Auguste Dupin agiert Sciascia mit einer »intellektuellen Arroganz« gegenüber den Akteuren des Staates, der Medien und der vermeintlichen Stadtguerilla, die für ihn in verschiedenen Ausprägungen das immergleiche autoritäre Phänomen in der italienischen Landschaft repräsentieren. »Sciascia ist sein eigener Dupin«, konstatiert Joseph Farrell, »aber sein Ziel ist nicht, den Schuldigen zu identifizieren, sondern ein Verständnis für den Zustand eines Menschen zu gewinnen, der dem Tod ins Auge blickt, für die Denkweise derer, die mit dem Tod Handel treiben, und die Werte jener Mächtigen, die ihn zulassen.«15 In den Augen Sciascias war Moro – trotz seiner langjährigen parteipolitischen Karriere – bis zum Tag seiner Entführung keineswegs – wie ihn die öffentliche Meinung im Nachhinein stilisierte – ein »großer Staatsmann« gewesen. Selbst im »Volksgefängnis« der BR blieb er »ein gewaltiger Strippenzieher der Politik«, die »Antennen immer auf Empfang, scharfsinnig, berechnend«16 Aus der Sicht Sciascias war Moro weder ein »großer Staatsmann« noch ein »Held«, der sich für den italienischen Staat im Kampf gegen den Terrorismus opfern wollte. Die Briefe, die seine Entführer aus dem Kerker des »Volksgefängnisses« nach draußen ließen, waren »in der Sprache der Nichtkommunikation« abgefasst, die sich im scheinbar ausdruckslosen Argot der Rackets an den »Boss der Schergen« Francesco Cossiga (seines Zeichens Innenminister in der aktuellen italienischen Regierung) richteten. Wie Poes Dupin entdeckt Sciascia in den Briefen Moros ein »Übermaß an Offensichtlichem«, etwa die Anweisung für das strategische Hinhalten der Entführer in Verhandlungen, um die Zeit zu nutzen, den Entführten aus dem Kerker zu befreien.17 Doch wie schon bei Poe ist der dumpf agierende Polizeiapparat nicht in der Lage den »versteckten Gegenstand« (in diesem Fall ein Entführungsopfer) zu entdecken. Die Intelligenz der polizeilichen Agenturen konnte sich auf die »Gerissenheit« der Straftäter nicht einstellen: »Ihre Untersuchungsmethoden«, heißt es bei Poe, »kennen keine Flexibilität.«18 Triumph des Mobs Ich bin ein politischer Gefangener«, heißt es in einem Brief Moros an den christdemokratischen Funktionär Benigno Zaccagnini, »den eure brüske Entscheidung, euch jeglicher Diskussion über andere gleichfalls gefangene Personen zu verschließen, in eine unhaltbare Situation gebracht hat. Die Zeit eilt dahin und ist leider knapp. Jeden Moment könnte es zu spät sein.«19 Nach der Interpretation Sciascias befand sich Moro in der Konfrontation zwischen zwei »Stalinismen«: den des italienischen Staates, den sich das Racket der Democrazia Cristiana (DC) als Beutestück unter den Nagel gerissen hatte, und dem der BR, die sich »in ihrer Monade ideologisch-rechtsprechenden Wahnsinns«20 verkapselt hatten und allen ideologischen Eskamotierungen zum Trotz nicht mehr als Techniker einer abstrakten Macht operierten, die lediglich das Negativ der »militärisch-bürokratischen Staatsmaschine« repräsentierten, das sie zu attackieren vorgaben. Moro »beginnt«, heißt es bei Sciascia, »sich à la Pirandello von Form zu lösen, da er sich nun auf tragische Weise ins Leben eingelassen hat.« 21 Von der öffentlichen Persönlichkeit wandelt er sich zum »alleingelassenen Menschen«, zur »Kreatur«, die sich nach seiner »Verwandlung« dagegen sträubt, von den herrschenden »Stalinismen« zerquetscht zu werden, als wäre sie am Ende »ganz und gar krepiert«22. Wie andere Terroristenorganisationen der Zeit agieren die roten Brigaden (mit den Worten des Sozialwissenschaftlers Peter Brückner) »im Gefangenenlager des Extrems«23 und befleißigten sich eines »Faschismus der Antifaschisten«24 (um einen Ausdruck Pasolinis zu bemühen). Sciascia betont jedoch den explizit italienischen Charakter der roten Brigaden: »Die Brigate rosse funktionieren perfekt: Aber (und das Aber braucht es hier) sie sind italienisch. Sie sind ›cosa nostra‹, unsere Sache, wie sehr sie auch mit revolutionären Sekten oder Geheimdiensten anderer Staaten verzahnt sein mögen.«25 Vorgeworfen wird Sciascia, dass er Moro (oder dessen Figur in einer politischen Tragödie) als Opfer eines diabolischen Machtkartells mit mafiösen Strukturen stilisiere, wobei er mit simplifizierenden Übertragungen aus seinen sizilianischen Kriminalromanen die Möglichkeit von Differenzierungen unterlaufe. »Sciascia ist nicht einmal im Ansatz in der Lage«, urteilt die Romanistin Helene Harth, »die – wie immer auch später durch tatsächliche Aktionen pervertierten – Ziele des linken Terrorismus als von ihrer Intention her revolutionäre Ziele zu begreifen. Für ihn sind vielmehr die Brigate Rosse identisch mit der Mafia und dienen mit stalinistischen Methoden der Zementierung eines todbringenden Machtblocks.«26 Worin die »revolutionären Ziele« der BR bestehen sollten, vermag Harth nicht darzulegen. Wie bereits die linke Publizistin Rossana Rossanda insistierte, befanden sich die roten Brigaden mit ihren brutalen Taktiken und ihrem stalinistischen Jargon im Widerspruch zu den meisten Strömungen der zeitgenössischen Linken in Italien, doch gehörten sie auch zum »Familienalbum«, zu einer Geschichte, die nie verging.27 Sciascias Buch lässt einen aufgewühlten, wenn nicht beunruhigten Leser zurück. Mit den Worten Jorge Luis Borges’: »Der beunruhigte Leser sieht sich noch einmal in den entsprechenden Kapiteln um und entdeckt eine andere Lösung, die echte.«28 Die Beunruhigung hält bis zum Moment an, da das europäische Projekt – einst untrennbar verbunden mit der Befreiung vom Faschismus und der Überwindung engstirniger Nationalismen – mit einem italienischen Zombie-Faschismus konfrontiert ist, der den Kontinent zurück in die vordemokratische, autoritäre Dunkelheit einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit zu katapultieren droht.29 Dass in den Massen tatsächlich die Demokratie »ein verdrängtes, unterirdisches Dasein führt«, wie Horkheimer in den 1940er Jahren mutmaßte, ist angesichts der aktuell herrschenden Zustände vermutlich eher ein Wunschtraum. © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Leonardo Sciascia. Die Affaire Moro. Ein Roman. Mit einem Nachwort von Fabio Stassi. Übersetzt von Monika Lustig. Karlsruhe: Edition Converso, 2023. 240 Seiten, 24 Euro. ISBN: 978–3‑949558–18‑4. Bildquellen (Copyrights) Foto Aldo Moro Quelle: Aufnahme eines BR-Mitgliedes, Public domain, via Wikimedia Commons Cover L’Affaire Moro © Éditions Grasset Cover Die Affaire Moro © Edition Converso Foto Pier Paolo Pasolini Quelle: clubalfa.it Illustration zu Der entwendete Brief Quelle: Frédéric Théodore Lix, Public domain, via Wikimedia Commons Foto Leonardo Sciascia Quelle: Doppiozero Nachweise Adrian Lyttelton, »Murder in Rome«, New York Review of Books, 34, Nr. 11 (25. Juni 1987), https://www.nybooks.com/articles/1987/06/25/murder-in-rome/ ↩ Maike Albath, »Klarheit, Vernunft und Häresie«, in: Leonardo Sciascia, Ein Sizilianer von festen Prinzipien (Karlsruhe: Edition Converso, 2021), S. 158 ↩ Leonardo Sciascia, Die Affaire Moro. Ein Roman, übers. Monika Lustig (Karlsruhe: Edition Converso, 2023), S. 63 ↩ Joseph Farrell, Leonardo Sciascia: The Man and the Writer (Florenz: Leo S. Olschki Editore, 2022), S. 198 ↩ Gore Vidal, »On the Assassin’s Trail«, New York Review of Books, 26, Nr. 16 (25. Oktober 1979), https://www.nybooks.com/articles/1979/10/25/on-the-assassins-trail/ ↩ Thomas Erling Peterson, Einleitung zu: Alberto Moravia, Two Friends (New York: Other Press, 2011), S. xvii ↩ Umberto Eco, Der ewige Faschismus, übers. Burkhart Kroeber (München: Hanser, 2020), S. 23, 27–28; Ian Kershaw, To Hell and Back: Europe 1914–1949 (London: Allen Lane, 2015), S. 228–232, 274–282; Nunzio Pernicone und Fraser M. Ottanelli, Assassins Against the Old Order: Ialian Anarchist Violence in Fin de Siècle Europe (Champaign, IL: University of Illinois Press, 2018); Alan Johnston, »A Gay Island Community Created by Italy’s Fascists«, BBC, 13. Juni 2013, https://www.bbc.com/news/magazine-22856586; Katy Hull, The Maschine Has a Soul: American Sympathy with Italian Fascism (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2021), S. 65–83, 116–149 ↩ Max Horkheimer, »Die Rackets und der Geist«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid-Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 291 ↩ Leonardo Sciascia, Das Gesetz des Schweigens: Sizilianische Romane, übers. Helene Moser et al. (Wien: Zsolnay, 2018), S. 368 ↩ Cf. Ulrike Klinger et al., Platforms, Power, and Politics: An Introduction to Political Communication in the Digital Age (London: Polity Press, 2024), S. 32–49 ↩ Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften: Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, übers. Thomas Eisenhart (Berlin: Wagenbach, 2011), S. 110 ↩ Pasolini, Freibeuterschriften, S. 110 ↩ Pasolini, Freibeuterschriften, S. 117 ↩ Enzo Siciliano, Pasolini: Leben und Werk, übers. Christel Galliani (Weinheim: Beltz, 1994), S. 530Fn76 ↩ Farrell, Leonardo Sciascia: The Man and the Writer, S. 199 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 31 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 37, 45, 53 ↩ Edgar Allan Poe, »Der entwendete Brief«, übers. Andreas Nohl, in: Poe, Unheimliche Geschichten, hg. Charles Baudelaire (München: dtv, 2018), S. 72 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 60 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 103 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 75; zu Sciascias Interpretation von Pirandello und Sizilien als politische und kulturelle Metapher cf. Leoanrdo Sciascia, Pirandello et la Sicile, übers. Jean-Noël Schifano (Paris: Éditions Grasset, 1980) ↩ Franz Kafka, Die Verwandlung (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 2024), S. 83 ↩ Peter Brückner, Über die Gewalt: Sechs Aufsätze zur Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme (Berlin: Wagenbach, 1979), S. 90 ↩ Pasolini, Freibeuterschriften, S. 62 ↩ Sciascia, Die Affaire Moro, S. 137 ↩ Helene Harth, »Macht und Gewalt im politischen Imaginären eines Sizilianers: Leonardo Sciascia und die Moro-Affäre«, in: Gewalt der Geschichte – Geschichten der Gewalt: Zur Kultur und Literatur Italiens von 1945 bis heute, hg. Peter Brockmeier und Carolin Fischer (Stuttgart: M & P Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1998), S. 163 ↩ David Broder, Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (London: Pluto Press, 2023), S. 11 ↩ Jorge Luis Borges, Universalgeschichte der Niedertracht – Fiktionen – Das Aleph, übers. Gisbert Haefs et al. (München: Hanser, 2000), S. 146 ↩ David Broder, »Giorgia Meloni’s Europe«, Dissent, 71, Nr. 2 (Frühjahr 2024):25–26 ↩ […]