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Moleskin Blues

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  • Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die MedienDie »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en27. Okto­ber 2024Die Maschi­ne­rie der Ver­blen­dung Auf­stieg und Nie­der­gang der Zeit­schrift »Film­kri­tik« von Jörg Auberg In einem pro­gram­ma­ti­schen Arti­kel zur gesell­schaft­li­chen Rol­le des Film­kri­ti­kers kon­sta­tier­te Sieg­fried Kra­cau­er weni­ge Mona­te vor der Macht­über­nah­me der Natio­nal­so­zia­lis­ten, der »Film­kri­ti­ker von Rang« sei »nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denk­bar«. Die Mis­si­on die­ses Kri­ti­kers sei es, »die in den Durch­schnitts­fil­men ver­steck­ten sozia­len Vor­stel­lun­gen und Ideo­lo­gien zu ent­hül­len und durch die­se Ent­hül­lun­gen den Ein­fluß der Fil­me sel­ber über­all dort, wo es not­tut, zu bre­chen«.1 Die­se empha­ti­sche Beto­nung der kri­ti­schen Funk­ti­on des pro­fes­sio­nel­len Film­jour­na­lis­ten stand im fun­da­men­ta­len Wider­spruch zur »Depro­fes­sio­na­li­sie­rung« des Kri­ti­kers zum blo­ßen Cla­queur der Unter­hal­­tungs- und spä­te­ren Kul­tur­in­dus­trie, wie sie – mit den Wor­ten des His­to­ri­kers Richard J. Evans – Joseph Goeb­bels in sei­ner strom­li­ni­en­för­mi­gen Pro­gram­ma­tik der »Mobi­li­sie­rung des Geis­tes« in die media­le Pra­xis (die sich auf Agi­ta­ti­on und Pro­pa­gan­da beschränk­te) umsetz­te.2 Wie deutsch ist es Kri­tik sei aller Demo­kra­tie wesent­lich, insis­tier­te Theo­dor W. Ador­no 1969 in einem sei­ner »Kri­ti­schen Model­le«, das vom Alp der Ver­gan­gen­heit gezeich­net ist. »Daß Goeb­bels den Begriff des Kri­ti­kers zu dem des Kri­tik­as­ters ernied­ri­gen und mit dem des Mecke­rers hämisch zusam­men­brin­gen konn­te«, schrieb Ador­no, »und daß er die Kri­tik jeg­li­cher Kunst ver­bie­ten woll­te, soll­te nicht nur freie geis­ti­ge Regun­gen gän­geln.«3 Für Ador­no waren die »deut­sche Kri­tik­feind­schaft« und die »Ran­cu­ne gegen den Intel­lek­tu­el­len« (als Trans­por­teur der Kri­tik) Teil des auto­ri­tä­ren, obrig­keits­staat­li­chen Sys­tems, das sich in den 1930er Jah­ren durch­setz­te und in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit in Form neo­fa­schis­ti­scher und auto­kra­ti­scher Ten­den­zen gegen kri­ti­sches Den­ken neu­er­lich for­miert. Ador­no, der »Remi­grant« (wie die aus dem erzwun­ge­nen Exil zurück­ge­kehr­ten Emi­gran­ten nach 1945 bezeich­net wur­den), hielt den Fin­ger in die Wun­de, »das beschä­dig­te deut­sche Ver­hält­nis zur Kri­tik«, das – mit einem Wort Ulrich Son­ne­manns – im »Land der unbe­grenz­ten Zumut­bar­kei­ten« in der Fol­gen­lo­sig­keit ver­en­de­te.4 Film­kri­tik als oppo­si­tio­nel­le Pra­xis Für den eins­ti­gen Feuil­le­ton­chef der Frank­fur­ter Rund­schau, Wolf­ram Schüt­te, war die 1957 gegrün­de­te Zeit­schrift Film­kri­tik ein lin­kes Oppo­si­ti­ons­or­gan gegen das restau­ra­ti­ve Nach­kriegs­deutsch­land5. In einer Geschich­te der »Frank­fur­ter Schu­le« cha­rak­te­ri­siert der His­to­ri­ker Jörg Spä­ter die Zeit­schrift als »ein Semi­nar, das in Frank­furt hät­te ange­sie­delt sein kön­nen«.6 In dem von Rolf Aurich und Micha­el Wedel her­aus­ge­ge­be­nen Band Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en wird weni­ger die Geschich­te der Zeit­schrift (die in der »Wen­de­zeit« der Bun­des­re­pu­blik nach län­ge­rem Siech­tum 1984 ver­scharrt wur­de) auf­be­rei­tet, als die Rol­len ein­zel­ner Mit­ar­bei­ter (in der Män­ner­wirt­schaft war ein­zig die Film­pu­bli­zis­tin Frie­da Gra­fe prä­sent) in den Medi­en­ma­schi­nen der Bun­des­re­pu­blik aus­zu­leuch­ten, die damals noch aus­schließ­lich öffen­t­­lich-rech­t­­lich orga­ni­siert und struk­tu­riert waren (in ers­ter Linie WDR, NDR, SFB, SWF und ZDF). Im eröff­nen­den Essay über den Fil­m­­kri­­tik-Begrün­­der Enno Pata­l­as (1929–2018) – neben Ulrich Gre­gor (geb. 1932) einer der Doy­ens der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Film­ge­schichts­schrei­bung – rekur­riert Clau­dia Lens­sen auf die opu­len­te, aber unvoll­endet geblie­be­ne Stu­die Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik des His­to­ri­kers Axel Schildt, in der Intel­lek­tu­el­le, die sich mit Film beschäf­tig­ten, außen vor blie­ben. »Die ›Medi­en‹ wer­den aus­schließ­lich als Platt­for­men für ihre publi­zis­ti­sche Text­pro­duk­ti­on betrach­tet«, kri­ti­siert Lens­sen, »sind jedoch nicht Gegen­stand der Refle­xi­on.«7 Selbst Alex­an­der Klu­ge – der als Fil­me­ma­cher, Autor, Intel­lek­tu­el­ler und Medi­en­pro­du­zent zwi­schen den ver­schie­de­nen Berei­chen der intel­lek­tu­el­len Pro­duk­ti­on wan­del­te – wird als »Medi­en­in­tel­lek­tu­el­ler« bei Schildt nur ein­mal in einem Zitat erwähnt.8 Obwohl die Film­kri­tik sich in der Tra­di­ti­on von Theo­dor W. Ador­no, Wal­ter Ben­ja­min und Sieg­fried Kra­cau­er begriff und die Kri­tik der Kul­tur­in­dus­trie aus der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung in ihren Sei­ten fort­führ­te, haf­te­te dem Film noch immer der Ruch des Ver­kom­me­nen und der Ver­blö­dung an. Auch wenn Ador­no spä­ter Klu­ge und ande­re »Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le« pro­te­gier­te, blieb doch sein Urteil aus den Mini­ma Mora­lia prä­sent: »Aus jedem Besuch des Kinos kom­me ich bei aller Wach­sam­keit düm­mer und schlech­ter wie­der her­aus.«9 Poli­tik vs. Ästhe­tik Von Beginn an durch­zog die Redak­ti­on der Zeit­schrift ein Riss zwi­schen einer »ästhe­ti­schen Lin­ken« (reprä­sen­tiert von Enno Pata­l­as, Hel­mut Fär­ber u. a.) und einer »poli­ti­schen Lin­ken« resp. der »Kra­­cau­er-Frak­­ti­on« (in Per­son von Ulrich Gre­gor, Theo­dor Kotul­la u. a.), der nicht nur das anfäng­lich gemein­sam von Pata­l­as und Gre­gor betrie­be­ne Pro­jekt Geschich­te des Films (1962) zum Ein-Mann-Unter­­neh­­men mach­te10, son­dern auch nach 1969 zu einer grund­sätz­li­chen neu­en Aus­rich­tung unter der Ägi­de der »ästhe­ti­schen Lin­ken« führ­te, da die »poli­ti­sche Lin­ke« der Zeit­schrift den Rücken gekehrt hat­te.11 Zunächst aber setz­ten Autoren wie Theo­dor Kotul­la (1928–2001) und Ger­hard Schoen­ber­ner (1931–2012), die ihre publi­zis­ti­sche Arbeit als Zeit­schrif­ten­re­dak­teu­re mit einer prak­ti­schen Film- und Fern­seh­ar­beit ver­ban­den, Akzen­te im Sin­ne Kra­cau­ers und der »Kri­ti­schen Theo­rie« nach 1945, indem sie einer­seits das Ver­dräng­te in der Gegen­wart in einem kri­­tisch-rea­­lis­­ti­­schen Ansatz the­ma­ti­sier­ten und zum ande­ren die »Nach­hal­tig­keit« des Natio­nal­so­zia­lis­mus – sowohl im insti­tu­tio­na­li­sier­ten Den­ken als auch in der nahe­zu bruch­lo­sen Fort­füh­rung von NS-Kar­rie­­ren in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Kul­tur­in­dus­trie in Per­so­nen wie Alfred Wei­den­mann, Her­bert Rein­ecker und Wolf­gang Lie­ben­ei­ner vor Augen führ­ten, wie es bei­spiels­wei­se Schoen­ber­ner in sei­ner zwölf­tei­li­gen WDR-Rei­he Film im Drit­ten Reich: Exkur­se zur pro­pa­gan­dis­ti­schen Mas­sen­füh­rung aus dem Jah­re 1969 demons­trier­te. Wie vie­le Fil­me­ma­cher aus dem Fil­m­­kri­­tik-Umfeld war auch Kotul­la (der bis 1968 für die Film­kri­tik schrieb und 1988 einen Schi­­man­­ski-Tat­ort mit Götz Geor­ge insze­nier­te) von Jean-Luc Godard und Robert Bres­son geprägt. »Theo­dor Kotul­la kam zur ›Film­kri­tik‹, weil er auf­bgehr­te gegen die Tra­di­tio­nen des zeit­ge­nös­si­schen Feuil­le­tons, und er ging zum Fern­se­hen, obwohl er die dort vor­herr­schen­den Kon­ven­tio­nen ablehn­te«, schreibt Anna Koken­ge in ihrem Kotul­­la-Essay. »Die ›Film­kri­tik‹ war sei­ne Schu­le und wenn­gleich sie kei­ne gute Ein­kom­mens­quel­le gewe­sen sein mag, so war sie für sei­ne spä­te­re Arbeit doch unbe­zahl­bar.«12 Die Stren­ge der Fil­m­­kri­­tik-Publi­­zis­­tik sah auch Ulrich Gre­gor in Kotul­las bekann­tes­tem Film – Aus einem deut­schen Leben (1977) – fort­wir­ken: In die­sem Film por­trä­tier­te Götz Geor­ge einen KZ-Kom­­man­­dan­­ten, der auf der his­to­ri­schen Per­son Rudolf Höß basier­te. »Die Film war intel­li­gent struk­tu­riert und mit bres­son­haf­ter Stren­ge gemacht«, lob­te Gre­gor. Die »manch­mal gespens­ti­sche Küh­le der Bil­der, der ruhi­ge Rhyth­mus der Dra­ma­tur­gie unter­strei­chen die didak­­tisch-auf­­klä­­re­ri­­sche Wir­kung des Films«, der eine metho­di­scher Gegen­ent­wurf zur US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Fern­seh­se­rie Holo­caust war.13 »Dass Kotul­la sei­ne Gegen-Geschich­­te als Kri­ti­ker der ›Kul­tur­in­strie‹ stets im Mas­sen­me­di­um erzähl­te«, schreibt Koken­ge, »mag wider­sin­nig srschei­nen, kann aber eben­so als die emp­fun­de­ne Ver­ant­wor­tung gedeu­tet wer­den, gera­de dort ›gesell­schaft­li­chen Sinn für Rea­li­tät‹ mit­zu­ge­stal­ten.« Die­sen »gesell­schaft­li­chen Sinn für Rea­li­tät« las­sen ande­re Bei­trä­ge des Ban­des ver­mis­sen. So ver­liert sich Gary Vani­si­an in der Ana­ly­se von Ulrich Gre­gors Bei­trä­gen unter dem Titel Film kri­tisch (die zwi­schen 1967 und 1970 unter der Regie von Micha­el Strau­ven im NDR und SFB ent­stan­den) in detail­lier­ten Ana­ly­sen über die medi­en­struk­tu­rel­le Reprä­sen­ta­ti­on des Gese­he­nen und Gehör­ten, wäh­rend die kri­ti­sche Form ver­lo­ren geht. Rau­nend wird ein Dis­put zwi­schen Gre­gor und dem Film­pu­bli­zis­ten Rein­hold E. Thiel über das Pro­jekt der »Freun­de der Deut­schen Kine­ma­thek« in West-Ber­­lin zur Spra­che gebracht, ohne dass der Autor jeg­li­che Hin­ter­grund­in­for­ma­ti­on lie­fert. Erst in einem spä­te­ren Arti­kel wird das Rät­sel auf­ge­löst.14 Nie­der­gang und Ende In den 1970er und 1980er Jah­ren ver­lor die Zeit­schrift – trotz Mit­ar­bei­ter wie Harun Faro­cki (1944–2014)15 – zuneh­mend an Bedeu­tung, da die Autoren der Zeit­schrift sich für wich­ti­ger nah­men als die kri­ti­sche Ana­ly­se. Sym­pto­ma­tisch für die­se Ten­denz war Wolf-Eck­art Büh­ler (1945–2020), der in den spä­ten 1970er-Jah­­ren Prot­ago­nis­ten des »ande­ren Ame­ri­kas« wie Leo T. Hur­witz, Abra­ham Polon­sky, Irving Ler­ner und Ster­ling Hay­den für sich ent­deck­te. Im Gegen­satz zu ande­ren inter­na­tio­na­len Zeit­schrif­ten wie Jump Cut, Film Quar­ter­ly, Sight & Sound, Cahiers du Ciné­ma oder Posi­tif (die zur glei­chen Zeit auf die lin­ke Gegen­kul­tur der 1930er und 1940er Jah­re stie­ßen16) blie­ben die Film-Essays Büh­lers zumeist in der Ver­klä­rung der »roten Hel­den« der Ver­gan­gen­heit ste­cken und betrie­ben eine »Ästhe­ti­sie­rung des Poli­ti­schen«, in der poli­ti­sche Mythen in ein his­to­ri­sches Kon­ti­nu­um ein­ge­gra­ben wur­den, wäh­rend die Kon­struk­ti­on einer kon­kre­ten poli­ti­schen Uto­pie außen vor blieb. In den spä­te­ren kri­ti­schen Abhand­lun­gen über Hay­den und Polon­sky fan­den sie kei­ne Erwäh­nung.17 Im Gegen­satz zu Kotul­la und ande­ren »Medi­en­ar­bei­tern« des Betrie­bes wird Büh­ler (WEB) von dem Kul­­tur-Feuil­­le­­to­­nis­­ten Alf May­er18 zum Maqui­sard gegen den bür­ger­li­chen Kul­tur­be­trieb sti­li­siert, ohne dass er zu einer kri­ti­schen Selbst­re­fle­xi­on inner­halb des Betrie­bes fähig wäre. »Kra­cau­ers Ideo­lo­gie­kri­tik, auf die Pata­l­as & Co sich ger­ne berie­fen«, gibt das Betriebs­sprach­rohr zum Bes­ten, »ist für WEB blo­ße Agen­tin des Zeit­geis­tes, ›nicht des Geis­tes‹, ist über­kom­me­nes Instru­ment, rein retro­spek­tiv, nicht nach vor­ne, in die neue Zeit gerich­tet …«19 Die­se intel­lek­tu­el­le Arm­se­lig­keit ließ auch die Film­kri­tik ver­dien­ter­ma­ßen auf der Müll­hal­de der Geschich­te ver­en­den. Oder mit Ador­no gespro­chen: »Der tota­le Zusam­men­hang der Kul­tur­in­dus­trie, der nichts aus­läßt, ist eins mit der tota­len gesell­schaft­li­chen Ver­blen­dung.«20 © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Rolf Aurich und Micha­el Wedel (Hg.). Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en. Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2024. 290 Sei­ten, 29 Euro. ISBN: 978–3‑96707–925‑8. Bild­quel­len (Copy­rights) Por­trät Sieg­fried Kra­cau­er Archiv des Autors Cover How Ger­man Is It © New Direc­tions Cover Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en © edi­ti­on text + kri­tik Cover Film­kri­tik Archiv des Autors Foto Wolf-Eck­art Büh­ler und Abra­ham Polon­sky © Edi­ti­on Film­mu­se­um Mün­chen       Nach­wei­se Sieg­fried Kra­cau­er, »Über die Auf­ga­be des Film­kri­ti­kers« (1932), in: Kra­cau­er, Wer­ke, Bd. 6:3: Klei­ne Schrif­ten zum Film, 1932–1961, hg. Inka Mül­­der-Bach (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2004), S. 63 ↩ Cf. Richard J. Evans, The Third Reich in Power, 1933–1939 (Lon­don: Pen­gu­in, 2006), S. 129–133; und Evans, Hitler’s Peo­p­le: The Faces of the Third Reich (Lon­don: Allen Lane, 2024), S. 177–178 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Kri­tik« (1969), in: Ador­no, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 788 ↩ Ador­no, »Kri­tik«, S. 791; Ulrich Son­ne­mann, »Das Land der unbe­grenz­ten Zumut­bar­kei­ten: Deut­sche Reflexionen(1963/85)«, in: Son­ne­mann, Schrif­ten, Bd. 4, hg, Paul Fie­big (Sprin­ge: zu Klam­pen, 2014), S. 101–118 ↩ Rolf Aurich und Micha­el Wedel, Ein­lei­tung zu: Die »Film­kri­tik«: Eine Zeit­schrift und die Medi­en, hg. Aurich und Wedel (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2024), S. 14; hier­nach zitiert als FZM ↩ Jörg Spä­ter, Ador­nos Erben: Eine Geschich­te aus der Bun­des­re­pu­blik (Ber­lin: Suhr­kamp, 2024), S. 102 ↩ Clau­dia Lens­sen, »Lebens­the­ma Kino und Publi­zis­tik: Enno Pata­l­as und die Medi­en«, in: FZM, S. 16 ↩ Axel Schildt, Medi­en­in­tel­lek­tu­el­le in der Bun­des­re­pu­blik, hg. Gabrie­le Kandz­o­ra und Dete­lef Sieg­fried (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2020), S. 537 ↩ Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 21; zur dif­fe­ren­zier­ten Ana­ly­se von Ador­nos Ver­hält­nis zum Kino cf. Miri­am Bra­tu Han­sen, »Intro­duc­tion to Ador­no, ›Tran­spe­ren­ci­es on Film‹ (1966)«, New Ger­man Cri­tique, Nr. 24–25 (Herbst-Win­­ter 1981–82), S. 186–198 ↩ Sie­he Ulrich Gre­gors Vor­wort zu: Geschich­te des Films ab 1960 (Rein­bek: Rowohlt, 1983), S. 9 ↩ Rolf Aurich, »Der Publi­zist: Rein­hold E. Thiel zwi­schen Film­kul­tur, Film­kri­tik und Medi­en«, FZM, S. 158 ↩ Anna Koken­ge, »Das Schrei­ben als Schu­le: Theo­dor W. Kotul­las Weg von der Film­kri­tik zum Fern­seh­film«, FZM, S. 87 ↩ Gre­gor, Geschich­te des Films ab 1960, S. 149 ↩ Gary Vanis­si­an, »Medi­um des per­sön­li­chen Aus­drucks: Die Fern­seh­bei­trä­ge von Ulrich Gre­gor«, FZM, S. 96; Aurich, »Der Publi­zist«, S. 158–159 ↩ Cf. Vol­ker Pan­ten­burg, »Film-Pra­xis und Text-Pra­xis: Harun Faro­cki und die Film­kri­tik«, in: Harun Faro­cki, Schrif­ten, Bd. 4, hg. Vol­ker Pan­ten­burg (Ber­lin: Neu­er Ber­li­ner Kunst­ver­ein, 2019), S. 449–466 ↩ Cf. Rus­sell Camp­bell, »Film and Pho­to League: Radi­cal Cine­ma in the 30s – Intro­duc­tion«, Jump Cut, Nr. 14 (1977), S. 23–25, https://ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC14folder/FilmPhotoIntro.html; Max Pearl, »Came­ras for Class Strugg­le«, Art in Ame­ri­ca, März-April 2021, https://www.artnews.com/art-in-america/features/cameras-for-class-struggle-workers-film-and-photo-league-1234590463/) ↩ Cf. Phil­ip­pe Gar­nier, Ster­ling Hay­den – L’Irrégulier (Paris: La Rab­bia, 2019); Paul Buh­le und Dave Wag­ner, A Very Dan­ge­rous Citi­zen: Abra­ham Lin­coln Polon­sky and the Hol­ly­wood Left (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 2001); Abra­ham Polon­sky: Inter­views, hg, Andrew Dic­kos (Jack­son: Uni­ver­si­ty Press of Mis­sis­sip­pi, 2013); Lar­ry Cep­lair und Ste­ven Eng­lund, The Inqui­si­ti­on in Hol­ly­wood: Poli­tics in the Film Com­mu­ni­ty, 1930–1960 (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 1983); Jörg Auberg, »Auf­recht gehen: Abra­ham Polon­sky, Hol­ly­wood und die Schwar­ze Lis­te«, Thea­ter­Zeit­Schrift, Nr. 27 (Früh­jahr 1989), S. 120–133 ↩ Zur Selbst­dar­stel­lung cf. https://culturmag.de/author/alf-mayer ↩ Alf May­er, »›Dabei­sein heißt gehor­chen‹: Zum Werk von Wolf-Eck­art Büh­ler«, FZM, S. 252 ↩ Ador­no, Mini­ma Mora­lia, S. 275 ↩ […]
  • Thomas Sparr: ZauberbergeTho­mas Sparr: Zau­ber­ber­ge18. Juli 2024Der demo­kra­ti­sche Tod Tho­mas Manns »Jahr­hun­der­t­ro­man« Der Zau­ber­berg von Jörg Auberg »Der Faschis­mus ist grei­sen­haft und böse, in jeg­li­cher Gestalt.« Hans May­er1 Rück­bli­cke auf den Zau­ber­berg IIm Herbst 1924 erschie­nen die bei­den Bän­de des Romans Der Zau­ber­berg, die – mit den Wor­ten Tho­mas Manns in einer Ein­füh­rung des Wer­kes für Stu­den­ten an der Prince­ton Uni­ver­si­ty im Jah­re 1939 – »aus der der Kon­zep­ti­on der short sto­ry ent­stan­den waren« und ihren Autor »zwölf Jah­re in den Bann gehal­ten hat­ten«.2 Ursprüng­lich soll­te der Text »nichts wei­ter sein als ein humo­ris­ti­sches Gegen­stück zum ›Tod in Vene­dig‹, ein Gegen­stück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas aus­ge­dehn­te short sto­ry«.  Die »Arbeits­zeit« an die­sem Werk war durch­aus not­wen­dig, da sowohl Autor als auch inten­dier­tes Lese­pu­bli­kum eine schock­haf­te Ent­wick­lung zu absol­vie­ren hat­ten, wie Wal­ter Ben­ja­min 1936 die Erfah­rung der ers­ten drei Jahr­zehn­te des 20. Jahr­hun­derts beschrieb: »Eine Gene­ra­ti­on, die noch mit der Pfer­de­bahn zur Schu­le gefah­ren war, stand unter frei­em Him­mel in einer Land­schaft, in der nichts unver­än­dert geblie­ben war als die Wol­ken unter ihnen, in einem Kraft­feld zer­stö­ren­der Strö­me und Explo­sio­nen, der win­zi­ge, gebrech­li­che Men­schen­kör­per.«3 In der Dik­ti­on Tho­mas Manns hieß es: Es sei­en »Erleb­nis­se nötig gewe­sen, die der Autor mit sei­ner Nati­on gemein­sam hat­te, und die er bei­zei­ten in sich hat­te kunst­reif machen müs­sen, um mit sei­nem gewag­ten Pro­dukt, wie ein­mal schon, im güns­tigs­ten Augen­blick her­vor­zu­tre­ten.« Die »Pro­ble­me« des Romans sei­en nicht »mas­sen­ge­recht« gewe­sen, kon­ze­dier­te der Dich­ter der Nati­on, »aber sie brann­ten der gebil­de­ten Mas­se auf den Nägeln, und die all­ge­mei­ne Not hat­te die Rezep­ti­vi­tät des brei­ten Publi­kums genau jene alchi­mis­ti­sche ›Stei­ge­rung‹ erfah­ren las­sen, die das eigent­li­che Aben­teu­er des klei­nen Hans Cas­torp aus­ge­macht hat­te«. Noch im unmit­tel­ba­ren Vor­feld des Zwei­ten Welt­krie­ges brüs­te­te sich Tho­mas Mann damit, dass der Zau­ber­berg »ein sehr deut­sches Buch« sei, und insis­tier­te Mann, dass »fremd­län­di­sche Beur­tei­ler sei­ne Welt­mög­lich­keit voll­kom­men unter­schätz­ten«. Sein Prot­ago­nist Hans Cas­torp sei ein »Grals­su­cher«, der den Gral der Huma­ni­tät auf­spü­ren möch­te, die auf »Ehr­furcht vor dem Geheim­nis des Men­schen« beru­he, wie der Autor des Zau­ber­bergs dun­kel for­mu­liert. Ein­wän­de wider­spens­ti­ger Leser en Stu­den­ten (ange­spro­chen als »Gen­tle­men«, da Prince­ton ein Män­ner­hort des zukünf­ti­gen eli­tä­ren Geis­tes war) emp­fahl der Dich­ter­fürst eine min­dest zwei­ma­li­ge Lek­tü­re sei­nes Wer­kes. »Wer aber mit dem ›Zau­ber­berg‹ über­haupt ein­mal zu Ende gekom­men ist, dem rate ich, ihn noch ein­mal zu lesen, denn sei­ne beson­de­re Mach­art, sein Cha­rak­ter als Kom­po­si­ti­on bringt es mit sich, daß das Ver­gnü­gen des Lesers sich beim zwei­ten Mal erhö­hen und ver­tie­fen wird, – wie man ja auch Musik ken­nen muß, um sie rich­tig zu genie­ßen.«  Das Ver­gnü­gen stell­te sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfra­ge der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on aus dem Jah­re 1975 bezüg­lich des gegen­wär­ti­gen Inter­es­ses am Werk Tho­mas Manns ant­wor­te­te Alfred Andersch: »Unlängst habe ich ver­sucht, den ›Zau­ber­berg‹ wie­der zu lesen – lei­der muß­te ich das Expe­ri­ment abbre­chen. Das all­zu inni­ge Beha­gen am Sti­lis­ti­schen ging mir ein­fach auf die Ner­ven.« In der glei­chen Umfra­ge gab Ror Wolf zu Pro­to­koll: »Das, was mich am meis­ten inter­es­siert im Zusam­men­hang mit Tho­mas Mann, ist die Fra­ge: war­um er mich nie inter­es­siert hat.«4 In einem Inter­view mit dem Autor Alain Elkann kate­go­ri­sier­te Alber­to Mora­via den Zau­ber­berg als »Unter­hal­tungs­ro­man« und stell­te ihn in eine Rei­he mit André Gides Die Falsch­mün­zer (1925) und Aldous Hux­leys Kon­tra­punkt des Lebens (1928): »drei Roma­ne, die mir nicht gefie­len und mir nichts sag­ten«, beschrieb Mora­via sei­ne Aver­si­on gegen die Prä­ten­tio­si­tät die­ser »Unter­hal­tungs­ro­ma­ne« der Moder­ne und füg­te wenig spä­ter hin­zu: »Italo Cal­vi­no hat etwas Rich­ti­ges gesagt: daß Tho­mas Mann alles gese­hen habe, aber von einem Bal­kon des 19. Jahr­hun­derts aus, wie alles zusam­men­stürz­te. Ich hal­te das für eine gute und rich­ti­ge Bemer­kung. Tho­mas Mann hat geahnt, wie Euro­pa enden wür­de, doch sei­ne Per­spek­ti­ve war die einer inzwi­schen über­hol­ten bür­ger­li­chen Kul­tur des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts. Wir dage­gen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wir­bel des Mahl­strom-Trich­­ters stürzt.«5  Jen­seits der Kri­tik elb­st im »roten Jahr­zehnt« der post­fa­schis­ti­schen Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war Tho­mas Mann als »Dich­ter der Nati­on« über Kri­tik weit­ge­hend erha­ben. »Wer kri­ti­siert, ver­geht sich gegen das Ein­heits­ta­bu, das auf tota­li­tä­re Orga­ni­sa­ti­on hin­aus­will«, dia­gnos­ti­zier­te Theo­dor W. Ador­no in einem Bei­trag für SDR im Mai 1969. »Der Kri­ti­ker wird zum Spal­ter und, mit einer tota­li­tä­ren Phra­se, zum Diver­sio­nis­ten.«6 Als Han­jo Kes­t­ing, der lang­jäh­ri­ge Lei­ter der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on, in einem kri­ti­schen The­sen­ar­ti­kel für den Spie­gel Manns Ver­strickt­heit in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus, sei­ne eli­tä­re Vor­stel­lung von Demo­kra­tie und sein Miss­trau­en gegen­über dem Volk (das er in ers­ter Linie als Mas­se und Mob wahr­nahm) the­ma­ti­sier­te und ihn als »Statt­hal­ter der bür­ger­li­chen Kul­tur­tra­di­ti­on« beschrieb, die längst ver­fault sei, echauf­fier­te sich augen­blick­lich der zum absur­den Kli­schee geron­ne­ne Phan­­tom­­bür­­ger-Mob in den Leser­brief­spal­ten des Spie­gel, der den »Dich­ter­fürs­ten« nicht von einem »Kri­tik­as­ter« des noto­ri­schen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen woll­te.7 Mitt­ler­wei­le ist der »Rot­funk« abge­wi­ckelt, Han­jo Kes­t­ing seit 2006 im Ruhe­stand, und dem Autor der »pole­mi­schen The­sen« ist das »auf­säs­si­ge Pro­dukt« aus sei­ner »Sturm- und Drang-Zeit« pein­lich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kes­t­ing im Vor­wort zu sei­nem Buch Tho­mas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Ver­eh­rern des ›Zau­be­rers‹.« Mitt­ler­wei­le ist auch der ehe­ma­li­ge Kri­ti­ker Kes­t­ing zum »Ver­eh­rer« Tho­mas Manns kon­ver­tiert, auch wenn er nicht jeden Kri­tik­punkt wider­ru­fen will. Doch erscheint ihm im Rück­blick »das aus einem ödi­pa­len Reflex ent­stan­de­ne The­sen­pa­pier ziem­lich unaus­ge­go­ren«. 8 Schon weni­ge Jah­re nach der Revol­te und dem ver­kün­de­ten Tod der Lite­ra­tur ver­zwerg­ten sich die »Schreib­pro­du­zen­ten« im Schat­ten des Rie­sen Tho­mas Mann. »Die Revol­te ist vor­über, die Nost­al­gie geblie­ben«9, gab der lin­ke Schrift­stel­ler Ger­hard Zwe­renz 1979 zu Pro­to­koll. Vier Jah­re zuvor hat­te Zwe­renz in Rowohlts Lite­ra­tur­ma­ga­zin, dem Zen­tral­or­gan für die »Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur«, den »Unter­hal­tungs­schrift­stel­ler« Tho­mas Mann als Vor­bild für künf­ti­ge Autor*innen der Lite­ra­tur­pro­duk­ti­on emp­foh­len. Von ihm sei zu ler­nen, insis­tier­te Zwe­renz, »wie man anschreibt gegen einen Vul­ga­ris­mus, der die Welt zurück­zie­hen« wol­le. »Tho­mas Mann und der Faschis­mus waren unver­träg­lich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwil­lig aus­schei­den ließ. Wir kön­nen das Poten­ti­al der Unver­träg­lich­keit mit dem Faschis­mus durch Lite­ra­tur ver­grö­ßern. Mehr kön­nen wir nicht. Aber ich hal­te das schon für sehr viel.«10 Selbst für den Mar­xis­ten Georg Lukács reprä­sen­tier­te Tho­mas Mann im ideo­lo­gi­schen Ver­fall der bür­ger­li­chen Klas­se noch »das Bes­te in der deut­schen Bour­geoi­sie« und war in sei­nen Augen der »letz­te gro­ße bür­ger­li­che Autor«.11 Demo­kra­tie einer Eli­te n sei­nem schma­len Band Zau­ber­ber­ge titu­liert der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Ver­lags­lek­tor Tho­mas Sparr Tho­mas Manns Roman Der Zau­ber­berg als »Jahr­hun­der­t­ro­man«, wobei unklar bleibt, wodurch die­ser Roman den Rang eines »Jahr­hun­der­t­ro­mans« erhält. »Was macht die­sen Roman«, fragt Sparr in sei­nem Vor­wort, »nach ein­hun­dert Jah­ren so zugäng­lich, ver­gan­gen und doch gegen­wär­tig, erschlos­sen und doch rätsel‑, ja zau­ber­haft?«12 Für Sparr ist »Demo­kra­tie« das »Schlüs­sel­wort des Romans«, und der Zau­ber­berg ist eine über­di­men­sio­nier­te Revo­ka­ti­on von Manns anti­eu­ro­päi­schen und anti­de­mo­kra­ti­schen Sua­den in den Zei­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, als bei­spiels­wei­se US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Autoren wie John Dos Pas­sos gegen die Bar­ba­rei der moder­nen indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie oppo­nier­ten, die sowohl die Eroi­­ca-Sym­­­pho­­nie als auch die Rui­nen von Reims pro­du­ziert hat­te.13 »In den Jah­ren des Ers­ten Welt­kriegs führt Tho­mas Mann einen Feld­zug gegen die Moder­ne«, schreibt Sparr, »gegen die Demo­kra­tie, gegen das, was er mit Gering­schät­zung ›Civi­li­sa­ti­on‹ nann­te, an ihrer Spit­ze den ›Civi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten‹, das vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum.«14 Im Zau­ber­berg erwei­se sich »die Dis­kus­si­on, die Aus­ein­an­der­set­zung, das Für und Wider« als »Kern­ele­ment der Demo­kra­tie«, argu­men­tiert Sparr und stellt die The­se auf, der Zau­ber­berg las­se sich »als demo­kra­ti­scher, ja sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Roman lesen«.15 Selt­sam mutet Sparrs Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie an. Der Tod sei, behaup­tet er, »im Zau­ber­berg das gro­ße demo­kra­ti­sche Ele­ment, so wie der Roman auf die sozia­len Unter­schie­de ach­tet.«16 Ist das Wesen der Demo­kra­tie, dass alle an Krank­heit oder auf dem »Welt­fest des Todes«17 ster­ben kön­nen? Im Zau­ber­berg exis­tiert allen­falls eine »Demo­kra­tie von Ehren­ti­schen«18 für die sol­ven­ten kran­ken Bür­ger jen­seits des »Flach­lan­des«, wo die Krea­tu­ren hau­sen, wel­che die Zeche für die Bar­ba­rei zu zah­len haben. Die Dicho­to­mie von Gesund­heit und Krank­heit, die den Roman durch­zieht, ist von Beginn von ver­schlei­er­ten Klas­sen­ver­hält­nis­sen gezeich­net, als ein »ein­fa­cher jun­ger Mensch« namens Hans Cas­torp, der rea­li­ter ein Abkömm­ling einer bür­ger­li­chen han­sea­ti­schen Fami­lie ist, sich mit sei­ner »kro­ko­dils­lern­den Hand­ta­sche« auf die Rei­se zum Zau­ber­berg begibt.19 Gesund­heit sei in die­sem Roman »so etwas wie die leib­li­che Sei­te von Demo­kra­tie«, kon­sta­tiert Sparr, wäh­rend Krank­heit »immer als mora­li­sches, see­li­sches, auch geis­ti­ges Defi­zit« erschei­ne: Gesund­heit sei in den Bil­dern Tho­mas Manns »immer nur vor­über­ge­hend, ein Zustand vol­ler Täu­schun­gen, Selbst­täu­schun­gen«, wäh­rend die Krank­heit, »die unaus­weich­li­che Ent­täu­schung«, das letz­te Wort behal­te.20 Wie der mar­xis­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans May­er kurz nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges kon­sta­tier­te, ent­hal­te der Zau­ber­berg den Quer­schnitt durch die bür­ger­li­che Gesell­schaft der Zeit um 1914, doch alle sei­en krank und ver­ur­teilt. »Die bür­ger­li­che Demo­kra­tie weist zwar den Weg ins Freie, doch die­se freie Ebe­ne hat die Gestalt eines Schüt­zen­gra­bens ange­nom­men«, resü­miert May­er. »Nun geht es dar­um, mag Cas­torp unter­ge­hen, daß neue Gene­ra­tio­nen, die nicht mehr krank sind, bewuß­te Par­tei­gän­ger des Lebens wer­den, statt sol­cher Krank­heit und der todes­süch­ti­gen Nacht.«21 Unmit­tel­bar nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges domi­nier­te die Erin­ne­rung an Manns Enga­ge­ment gegen den Faschis­mus in sei­nem US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil, wäh­rend sei­ne For­mu­lie­rung »Welt­fest des Todes« im Zau­ber­berg »beschwie­gen« wur­de.  Zumin­dest bei Kes­t­ing bestehen wei­ter Zwei­fel, ob Mann »die Rea­li­tät des vier Jah­re wäh­ren­den gro­ßen Mor­dens auf den Schlacht­fel­dern Euro­pas an sich her­an­kom­men ließ, als er sei­nen wüten­den Geis­tes­kampf aus­trug«22. Wäh­rend der Schul­ab­bre­cher Mann, der sich als Künst­ler und Bür­ger in Per­so­nal­uni­on insze­nier­te und für das »Neger­fran­zö­sisch«23 sei­ner Schul­zeit schäm­te, das »Men­schen­ma­te­ri­al« der indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie igno­rier­te, lob­te ihn Lukács als »Autor und Rea­list«, der nie »modern im deka­den­ten Sin­ne« gewe­sen sei.24 Die Kop­pe­lung von Moder­ne und Deka­denz als Gegen­bild zum »Rea­lis­mus« repe­tiert die Ran­kü­ne gegen das »vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum«, das sowohl dem Bür­ger als auch dem Büro­kra­ten im Auf­trag der Herr­schaft suspekt ist. Das Gegen­pro­gramm zur kran­ken Eli­ten­ge­sell­schaft ist nicht die Uto­pie einer ega­­li­­tär-demo­­kra­­ti­­schen Gesell­schaft, son­dern das inner­li­che Stramm­ste­hen. »Wir sind wirk­lich etwas ver­sim­pelt«, erklärt Cas­torps sol­da­ti­scher Vet­ter Joa­chim. »Aber man kann sich schließ­lich zusam­men­rei­ßen.«25 Der geis­ti­ge Dienst mit der Waf­fe as sol­da­ti­sche Ver­ständ­nis war schon in der Figur des Gus­tav Aschen­bach in der Novel­le der Tod im Vene­dig (1912) ange­legt (»auch er war Sol­dat und Kriegs­mann gewe­sen«26). Der »High-School-Dro­­pout« Tho­mas Mann erwarb sei­ne »deut­sche Bil­dung«, wie der Mann-Bio­­­graph Her­mann Kurz­ke schrieb, »auto­di­dak­tisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«27. Im Jah­re 1914 führ­te die »deut­sche Bil­dung« zu der Erkennt­nis, dass der Krieg »Rei­ni­gung« und »Befrei­ung« dar­stel­le. In dem Auf­satz »Gedan­ken im Krie­ge« (»Essay« hät­te für den Natio­na­lis­ten Tho­mas Mann ver­mut­lich zu »fremd­län­disch« geklun­gen) wand­te sich der bür­ger­li­che Autor gegen den »gal­li­schen Radi­ka­lis­mus«, der ihm als Sack­gas­se erschien, »an deren Ende es nichts als Anar­chie und Zer­set­zung« gebe. »Deutsch­lands gan­ze Tugend und Schön­heit« ent­fal­te sich erst im Krieg, pos­tu­lier­te Mann, der als Lite­ra­tur­pro­du­zent von dem Ver­lan­gen nach bil­li­gen Buch­aus­ga­ben pro­fi­tier­te, die an die Front­sol­da­ten ver­schickt wer­den konn­ten. Im natio­na­lis­ti­schen Fie­ber sah der Dich­ter der Nati­on sein Vater­land als Opfer eines bösen Euro­pas: »Ihr woll­tet uns umzin­geln, abschnü­ren, aus­til­gen, aber Deutsch­land, ihr sehet es schon, wird sein tie­fes, ver­haß­tes Ich wie ein Löwe ver­tei­di­gen, und das Ergeb­nis eures Anschla­ges wird sein, daß ihr stau­nend genö­tigt sehn wer­det, uns zu stu­die­ren.«28 In sei­nem über­bor­den­den Essay Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen (den er im US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil spä­ter als »ein müh­se­li­ges Werk der Selbst­er­for­schung und des Durch­le­bens der euro­päi­schen und Streit­fra­gen« und als »geis­ti­gen Dienst an der Waf­fe« bezeich­ne­te) erei­fer­te er sich in manisch-chau­­vi­­nis­­ti­­scher Manier über den Typus des »Zivil­a­ti­ons­li­te­ra­ten« – ein Begriff, der nach der Zäh­lung eines Rezen­sen­ten etwa 200 Mal in dem Werk auf­taucht29. Ihm grau­te vor der Vor­stel­lung, eine mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge Deutsch­land hät­te ein »Impe­ri­um der Zivi­li­sa­ti­on« zur Fol­ge haben kön­nen. Das »Ergeb­nis wäre«, mut­maß­te der deutsch­na­tio­na­le Bür­ger Mann, »ein Euro­pa gewe­sen, – nun, ein wenig drol­lig, ein wenig platt-human, tri­­vi­al-ver­­­derbt, femi­­nin-ele­­gant, ein Euro­pa, schon etwa all­zu ›mensch­lich‹, etwas preß­ban­di­ten­haft und gro­ß­­mäu­­lig-demo­­kra­­tisch, ein Euro­pa der Tan­­go- und Two-Step-Gesi­t­­tung, ein Geschäfts- und Lust­eu­ro­pa«, »ein Mon­­te-Car­­lo-Euro­­pa, lite­ra­risch wie eine Pari­ser Kokot­te«.30 Die »Demo­kra­ti­sie­rung Deutsch­lands« lie­fe auf die »Ent­deut­schung« hin­aus31, befürch­te­te Mann, ohne dass er mit sei­nem Essay die­sen Pro­zess auf­hal­ten konn­te. »Das Erschei­nen die­ses anti­de­mo­kra­ti­schen Buches«, kon­sta­tiert der Mann-Bio­­­graf Ronald Hay­man, »fiel zusam­men mit der Bil­dung einer demo­kra­tisch ori­en­tier­ten Regie­rung.«32 Wie Wal­ter Boeh­lich in einem Argu­men­ta­ti­ons­ver­such gegen den Zeit­geist der Tho­­mas-Mann-Ido­la­­trie insis­tier­te, gehör­te das Buch »in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus«33 und war »der wort­rei­che Ver­such, das poli­ti­sche Ver­sa­gen des Bür­ger­tums in sei­ne eigent­li­che Tugend umzu­schmin­ken«. Die Betrach­tun­gen hät­ten Furo­re gemacht, urteil­te Boeh­lich, »und es ist gleich­gül­tig, wie Tho­mas Mann selbst sie jeweils ver­stan­den sehen woll­te; nicht gleich­gül­tig ist, wie sie gewirkt haben.« Das kon­ser­va­ti­ve Deutsch­land habe sie als »Recht­fer­ti­gungs­schrift« ver­stan­den. »Ent­schul­det« wird Tho­mas Mann – bei­spiels­wei­se von dem Essay­is­ten Erich Hel­ler – mit dem Hin­weis auf sei­nen Cha­rak­ter als »iro­ni­scher Deut­scher« und Künst­ler, der gegen »den Sozi­al­mo­ra­lis­mus des Zivi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten« mit einer »skep­ti­schen Intel­li­genz« beharrt und in den Betrach­tun­gen »ein qua­­si-poli­­ti­­sches Traum­bild der kon­ser­va­ti­ven Phan­ta­sie« ent­wor­fen habe.34 Die Argu­men­ta­ti­on von kon­ser­va­ti­ven Autoren wie Hel­ler oder Mar­cel Reich-Rani­­cki baga­tel­li­siert das poli­ti­sche Enga­ge­ment Manns mit der Begrün­dung, dass sei­ne poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen ama­teur­haft gewe­sen sei­en und daher nicht ernst genom­men wer­den müss­ten.35 Auf die­se Wei­se wird der intel­lek­tu­el­le Ästhet vor dem poli­ti­schen Kom­men­ta­tor geret­tet. Für Sparr wer­den im Zau­ber­berg »die Argu­men­te für Huma­ni­tät, für Maß und Mäßi­gung geschärft«36, ohne dass er selbst die­se Argu­men­te kri­tisch hin­ter­fragt. Der »Poli­ti­ker« Tho­mas Mann plä­die­re »für einen mili­tan­ten Huma­nis­mus; Frei­heit und Duld­sam­keit hät­ten das Recht und die Pflicht, sich zu weh­ren«37. Mann ver­knüpft auf zwei­fel­haf­te Wei­se Huma­ni­tät und Mas­ku­li­ni­tät. »Euro­pa wird nur sein«, sag­te er in einer Rede in Buda­pest im Juni 1936, »wenn der Huma­nis­mus sei­ne Männ­lich­keit ent­deckt und nach der Erkennt­nis han­delt, daß die Frei­heit selbst kein Frei­brief ihrer Tod­fein­de und ihrer Mör­der wer­den darf.«38 In den Ohren Sparrs klin­gen die­se »Sät­ze wie aus der Gegen­wart«, wobei das auto­ri­­tär-regier­­te Ungarn von 1936 wie ein Spie­gel­bild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In die­ser Vor­stel­lung erscheint Poli­tik stets nur als Wie­der­ho­lung des Immer­glei­chen, als käme der Faschis­mus wie ein unab­wend­ba­res Unheil aus dem Nichts. Tho­mas Mann man­gel­te es »an Kon­se­quenz des Den­kens«, insis­tier­te Wal­ter Boeh­lich. »Nichts wäre anders gewor­den, wenn er weni­ger bür­ger­lich, weni­ger kon­ser­va­tiv gewe­sen wäre; er konn­te nichts ändern.« Aber gera­de des­halb sei er »zum Lieb­lings­schrif­stel­ler der Deut­schen« gewor­den. Ver­mut­lich macht auch dies den Zau­ber­berg zu einem »Jahr­hun­der­t­ro­man«. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Tho­mas Sparr. Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos. Ber­lin: Beren­berg, 2024. 80 Sei­ten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑949203–82‑4. Han­jo Kes­t­ing. Tho­mas Mann: Glanz und Qual. Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023. 400 Sei­ten, 28 Euro. ISBN: 978–3‑8353–5413‑5. Bild­quel­len (Copy­rights) Foto Der Zau­ber­berg © Foto H.-P.Haack — Quel­le: «Erst­aus­ga­ben Tho­mas Manns» (2011). Her­aus­ge­ber: Anti­qua­ri­at Dr. Haack D – 04105 Leip­zig Foto Alber­to Mora­via © Pao­lo Mon­ti, via Wiki­me­dia Com­mons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 Cover Tho­mas Mann: Glanz und Qual © Wall­stein Ver­lag Cover Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4 © Rowohlt Ver­lag Foto Tho­mas Mann in sei­nem Haus in Mün­chen Quel­le: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbe­kannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 Cover Hans May­er: Tho­mas Mann © Suhr­kamp Ver­lag Sze­nen­fo­to All Quiet on the Wes­tern Front Archiv des Autors Cover Text + Kri­tik © edi­ti­on text + kri­tik Foto Fami­lie Mann am Strand von Los Ange­les © Tho­­mas-Mann-Archi­­v/ETH-Biblio­­thek Zürich Nach­wei­se Hans May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S 170 ↩ Tho­mas Mann, »Ein­füh­rung in den Zau­ber­berg für Stu­den­ten der Prince­ton Uni­ver­si­tät«, in: Mann, Der Zau­ber­berg, Stock­hol­mer Gesamt­aus­ga­be (Stock­holm: Ber­­mann-Fischer Ver­lag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hin­ter­grund cf. Stan­ley Corn­gold, The Mind in Exi­le: Tho­mas Mann in Prince­ton (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2022), S. 186–189 ↩ Wal­ter Ben­ja­min, »Der Erzäh­ler«, in: Ben­ja­min, Gesam­mel­te Schrif­ten, Band II, hg. Rolf Tie­de­mann und Her­mann Schwep­pen­häu­ser (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 439 ↩ »Deut­sche Schrift­stel­ler über Tho­mas Mann«, in: Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, hg, Heinz Lud­wig Arnold (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩ Alber­to Mora­via und Alain Elkann, Vita di Mora­via: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hart­mann (Frei­burg: Beck & Glück­ler, 1991), S. 53 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Kri­tik«, in: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10, hg. Rolf Tie­de­mann et al. (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 788 ↩ Han­jo Kes­t­ing, »Tho­mas Mann oder der Selbst­er­wähl­te«, Spie­gel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001–0000–000041521068; Spie­­gel-Haus­­mi­t­­tei­­lung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001–0000–000041483678 Leser­brie­fe in der glei­chen Aus­ga­be: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001–0000–000041483691 ↩ Han­jo Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023), S. 8 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Der Schock sitzt tie­fer«, in: Nach dem Pro­test: Lite­ra­tur im Umbruch, hg, W. Mar­tin Lüd­ke (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1979), S. 41 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Wir Zwer­ge hin­ter den Rie­sen: Über Tho­mas Mann und uns«, in: Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4: Die Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur – Bilanz der Poli­ti­sie­rung, hg. Hans Chris­toph Buch (Rein­bek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩ Georg Lukács, Essays on Tho­mas Mann, übers. Stan­ley Mit­chell (Lon­don: Mer­lin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩ Tho­mas Sparr, Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos (Ber­lin: Beren­berg, 2024), S. 8 ↩ John Dos Pas­sos, »A Hum­ble Pro­test« (1916), in: John Dos Pas­sos: The Major Non­fic­tion­al Pro­se, hg. Donald Pizer (Detroit: Way­ne Sta­te Uni­ver­si­ty Press, 1988), S. 30–34 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 22–23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 26, 28 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 27–28 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1022 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1009 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 3 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 35 ↩ Hans May­er, »Der ›Zau­ber­berg‹ als päd­ago­gi­sche Pro­vinz« (1949), in: May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S. 131 ↩ Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩ Her­mann Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk – Eine Bio­gra­phie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩ Lukács, Essays on Tho­mas Mann, S. 45 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 79 ↩ Tho­mas Mann, Der Tod in Vene­dig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩ Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk, S. 38 ↩ Tho­mas Mann, »Gedan­ken im Krie­ge«, in: Tho­mas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy (Lon­don: Bloomsbu­ry, 1997), S. 284 ↩ Flo­ri­an Kei­sin­ger, Rezen­si­on von: Tho­mas Mann: Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, Frank­furt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehe­punk­te 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩ Tho­mas Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, hg, Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩ Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, S. 75 ↩ Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy, S. 309 ↩ Wal­ter Boeh­lich, »Zu spät und zu wenig: Tho­mas Mann und die Poli­tik«, Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, S. 55 ↩ Erich Hel­ler, Tho­mas Mann: Der iro­ni­sche Deut­sche (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1970), S. 157, 192 ↩ Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Bio­graph­ers«, Jour­nal of Eng­lish and Ger­ma­nic Phi­lo­lo­gy, 96, Nr. 4 (Okto­ber 1997), S. 599 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 36 ↩ Tho­mas Mann, »Der Huma­nis­mus und Euro­pa«, in: Mann, An die gesit­te­te Welt: Poli­ti­sche Schrif­ten und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩ […]
  • Leonardo Sciascia: Die Affaire MoroLeo­nar­do Scia­scia: Die Affai­re Moro10. Juni 2024Das Ita­lie­ni­sche Ver­häng­nis Leo­nar­do Scia­sci­as Refle­xio­nen zur »Affä­re« Aldo Moro   von Jörg Auberg   Am Mor­gen des 16. März 1978 lau­er­te in der Via Fani in Rom ein Kom­man­do der »Roten Bri­ga­den« (Bri­ga­te Ros­se, eines Zer­falls­pro­dukts der ita­lie­ni­schen Revol­te der spä­ten 1960er Jah­re) dem christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Aldo Moro auf und ent­führ­te ihn, nach­dem es inner­halb von drei Minu­ten die fünf Beglei­ter sei­ner Eskor­te erschos­sen hat­te. Die fol­gen­den 55 Tage ver­brach­te Moro in einem »Volks­ge­fäng­nis« der Bri­ga­te Ros­se (BR), in dem ihm die selbst­er­mäch­tig­ten Terrorist*innen den Pro­zess mach­ten, ehe sie ihn am 9. Mai 1978 erschos­sen und sei­nen Leich­nam in einem Renault 4 in der Via Caeta­ni in Rom abstell­ten. Wie Adri­an Lyt­tel­ton betont, wur­de die­ser Ort aus sym­bo­li­schen Grün­den aus­ge­wählt: Er lag auf hal­bem Wege zwi­schen den Zen­tra­len der Christ­de­mo­kra­ten und der Kom­mu­nis­ten.1 Der detek­ti­vi­sche Leser ährend die­ser Gefan­gen­schaft schrieb Moro 80 Brie­fe an sei­ne Fami­lie und eini­ge »Par­tei­freun­de«, auf deren Hil­fe er ver­ge­bens hoff­te. Die­se Brie­fe unter­zog Leo­nar­do Scia­scia, der vor allem als Autor von Kri­mi­nal­ro­ma­nen über das Mafia-Milieu bekannt ist, in sei­nem Buch Die Affai­re Moro (1978) einer detail­lier­ten und prä­zi­sen Lek­tü­re und zeig­te (mit den Wor­ten der Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin Mai­ke Albath) auf, »wie die Christ­de­mo­kra­ten ihren Vor­sit­zen­den, den lang­jäh­ri­gen Minis­ter­prä­si­den­ten und Archi­tek­ten des com­pro­mes­so sto­ri­co im Stich gelas­sen und des­sen Äuße­run­gen miss­ver­stan­den hat­ten«2 Ob sei­ne »Par­tei­freun­de« ihn tat­säch­lich »miss­ver­stan­den« hat­ten, ist eher frag­lich. Für die ita­lie­ni­schen Christ­de­mo­kra­ten war Moro – wie Scia­scia schreibt – »eine Art schmer­zen­der Gal­len­stein« gewor­den, den es »aus einem Orga­nis­mus zu ent­fer­nen galt«3 Scia­scia beleuch­tet den Fall Moro nicht im Sti­le eines spek­ta­kel­haf­ten und spe­ku­la­ti­ven Polit-Thril­­lers, son­dern in einem kom­ple­xen, viel­schich­ti­gen und enig­ma­ti­schen Text, der in sei­nem mora­li­schen Impe­tus an Émi­le Zolas klas­si­sches Intel­lek­tu­el­len­pam­phlet J’accuse erin­nert.4 Die Geschich­te Moros in sei­ner letz­ten Lebens­pha­se reflek­tiert Scia­scia durch lite­ra­ri­sche Pris­men (wie Pier Pao­lo Paso­li­ni, Lui­gi Piran­del­lo, Jor­ge Luis Bor­ges und Edgar Allan Poe) und gewinnt auf die­se Wei­se Ein­sich­ten, die ihn in sei­ner Uner­bitt­lich­keit und Unbe­irr­bar­keit gegen die herr­schen­de Mei­nung nahe­zu aller poli­ti­schen Rich­tun­gen bestär­ken. Bel­la Ita­lia in schwarz n einer Kri­tik von Scia­sci­as Roman Can­di­do oder ein Traum in Sizi­li­en (1977), der das Schei­tern des demo­kra­ti­schen Neu­auf­baus nach der Nie­der­la­ge ver­han­delt, kon­sta­tier­te Gore Vidal, dass es Ita­li­en nach dem Zwei­ten Welt­krieg »mit cha­rak­te­ris­ti­scher Kunst­fer­tig­keit« gelun­gen sei, ein gesell­schaft­li­ches Gemisch aus den am wenigs­ten attrak­ti­ven Aspek­ten des Sozia­lis­mus und prak­tisch allen Las­tern des Kapi­ta­lis­mus her­zu­stel­len. Über die schö­nen Land­stri­che Ita­li­ens wucher­te so eine »rie­si­ge metas­ti­sie­ren­de Büro­kra­tie«, die sich aus den Geschwü­ren der Ver­gan­gen­heit wie der Gegen­wart nähr­te.5 In den Augen des gro­ßen ita­lie­ni­schen Roman­ciers Alber­to Mora­via war es zuvör­derst iro­nisch, dass – mit den Wor­ten des Roma­nis­ten Tho­mas Erling Peter­son – »so vie­le Ita­lie­ner tole­rant gegen­über auto­ri­tä­ren Ideo­lo­gien waren, so dass die Nati­on nach dem Sturz des Faschis­mus bestrebt zu sein schien, dem Regime zu ver­ge­ben und sei­ne Feh­ler zu wie­der­ho­len«.6 Die Ver­harm­lo­sung des faschis­ti­schen Regimes – trotz der Ermor­dung und Ein­ker­ke­rung von poli­ti­schen Gegner*innen, der Zer­schla­gung der Gewerk­schaf­ten, der »Ver­ban­nung« oder domic­i­lio coat­to von Oppo­si­tio­nel­len und Homo­se­xu­el­len auf abge­le­ge­ne Inseln oder die Depor­ta­ti­on von Jüd*innen im Zuge der ita­lie­ni­schen Ras­sen­ge­set­ze nach 1938 – gehör­te zum ideo­lo­gi­schen Inven­tar der ita­lie­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft. »Der ita­lie­ni­sche Faschis­mus«, schrieb Umber­to Eco, »war der ers­te, der sich eine mili­tä­ri­sche Lit­ur­gie, eine Folk­lo­re und sogar eine eige­ne Klei­der­mo­de schuf – womit er im Aus­land mehr Erfolg als Arma­ni, Benet­ton oder Ver­sace haben soll­te.« Er stell­te einen Arche­typ für Nach­ah­mer in Euro­pa und Sym­pa­thi­san­ten selbst in den USA dar, wo der faschis­ti­sche Staat als Erlö­sung in der demo­kra­ti­schen Des­il­lu­si­on erschien und als Gar­ten der Schön­heit, der Tran­szen­denz und des Frie­dens idea­li­siert wur­de.7 Das Land befrei­te sich nach 1945 nie von der Herr­schaft der Rackets, die – mit den Wor­ten Max Hork­hei­mers – mit der »Bru­ta­li­tät der Stär­ke­ren gegen die Schwä­che­ren, als die unbe­schrie­be­ne Gemein­heit des Mobs gegen die Ohn­macht« agier­ten.8 In ihrer Rein­form ope­rier­ten die Rackets unter den Appa­ra­tu­ren und Kos­tü­men der Mafia, deren Prak­ti­ken Scia­scia in sei­nen Kri­mi­nal­ro­ma­nen beschrieb oder auch par­odier­te. In den Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Par­tei­en in den kar­gen ideo­lo­gi­schen Land­schaf­ten sah er ledig­lich eine poli­ti­sche Klas­se am Wer­ke, »wo nur die Macht um der Macht wil­len zähl­te«9 Rackets agier­ten als Platt­for­men der Macht, die über öko­no­mi­sche, tech­no­lo­gi­sche und medi­en­po­li­ti­sche Mecha­nis­men ihre Herr­schaft sicher­ten, wobei die in sich gekap­sel­te Kom­mu­ni­ka­ti­on eine beson­de­re Form der Herr­schafts­si­che­rung spiel­te.10 In den 1970er Jah­ren ent­glitt den Platt­for­men in der ita­lie­ni­schen poli­ti­schen Land­schaft zuneh­mend die tech­ni­sche Hand­hab­bar­keit der Macht, wie Pier Pao­lo Paso­li­ni in sei­nen Frei­beu­ter­schrif­ten kon­sta­tier­te. Bei­spiel­haft sei Aldo Moro, schrieb Paso­li­ni, »der gera­de am wenigs­ten in all die abscheu­li­chen Din­ge ver­wi­ckelt sce­int, die von 1969 bis heu­te von denen orga­ni­siert wur­den, die um kei­nen Preis die Macht aus den Hän­den geben wol­len – was ihnen bis­lang auch, for­mal gese­hen, gelun­gen ist.«11 In Paso­li­nis Sicht agier­ten die »christ­de­mo­kra­ti­schen Poten­ta­ten« in einer Lee­re, in einem Vaku­um. »Die rea­le Macht braucht sie nicht mehr, und sie haben nichts mehr in der Hand außer ein paar nutz­lo­sen Appa­ra­ten, die höchs­tens noch ihren trau­ri­gen Zwei­rei­hern Rea­li­tät ver­lei­hen.«12 In der für vie­le ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Sze­na­ri­en emp­fäng­li­chen ita­lie­ni­schen Land­schaft schloss die Erwar­tung für die Zukunft ledig­lich einen Staats­streich und die Restau­ra­ti­on des Faschis­mus ein. Die Unsicht­bar­keit des Offen­sicht­li­chen m Zuge der zuneh­men­den poli­ti­schen Gewalt wur­de Paso­li­ni, der kurz von sei­nem Tod 1975 noch die »Kri­mi­na­li­tät des Staa­tes«13 anpran­ger­te, als intel­lek­tu­el­ler Urhe­ber des Ter­ro­ris­mus stig­ma­ti­siert. Paso­li­ni habe, hieß es, in sei­nen öffent­li­chen Invek­ti­ven gefor­dert, den füh­ren­den christ­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­kern den »Pro­zess« zu machen – einen Pro­zess, den nun die Mit­glie­der des BR-Ter­ror­­kom­­man­­dos in ihrem »Volks­ge­fäng­nis« in die Tat umsetz­ten. »Abge­se­hen von der rein for­ma­len Tat­sa­che«, insis­tier­te Paso­li­nis Bio­graf Enzo Sici­lia­no, dass »Paso­li­ni von einem ›Pro­zess vor einem ordent­li­chen Gericht‹ gespro­chen hat­te, muß­te man in sei­nen Wor­ten jedoch das Fest­hal­ten an rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en und an sozia­lis­ti­schen Wer­te her­aus­hö­ren . Gera­de die ›Ord­nungs­mä­ßig­keit‹ und die Öffent­lich­keit des Gerichts­ver­fah­rens waren für Paso­li­ni schon wegen ihres Sym­bol­ge­halts höchs­te Wer­te.«14 Auch Scia­scia war – ob sei­ner vor­geb­li­chen intel­lek­tu­el­len Käl­te und sei­ner »Wei­ge­rung, sich vor­be­halt­los an die Sei­te des Staa­tes zu stel­len« – star­ken Anfein­dun­gen aus­ge­setzt und des »ver­ba­len Ter­ro­ris­mus« bezich­tigt. Wie Poes detek­ti­vi­scher Pri­va­tier Augus­te Dupin agiert Scia­scia mit einer »intel­lek­tu­el­len Arro­ganz« gegen­über den Akteu­ren des Staa­tes, der Medi­en und der ver­meint­li­chen Stadt­gue­ril­la, die für ihn in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen das immer­glei­che auto­ri­tä­re Phä­no­men in der ita­lie­ni­schen Land­schaft reprä­sen­tie­ren. »Scia­scia ist sein eige­ner Dupin«, kon­sta­tiert Joseph Far­rell, »aber sein Ziel ist nicht, den Schul­di­gen zu iden­ti­fi­zie­ren, son­dern ein Ver­ständ­nis für den Zustand eines Men­schen zu gewin­nen, der dem Tod ins Auge blickt, für die Denk­wei­se derer, die mit dem Tod Han­del trei­ben, und die Wer­te jener Mäch­ti­gen, die ihn zulas­sen.«15 In den Augen Scia­sci­as war Moro – trotz sei­ner lang­jäh­ri­gen par­tei­po­li­ti­schen Kar­rie­re – bis zum Tag sei­ner Ent­füh­rung kei­nes­wegs – wie ihn die öffent­li­che Mei­nung im Nach­hin­ein sti­li­sier­te – ein »gro­ßer Staats­mann« gewe­sen. Selbst im »Volks­ge­fäng­nis« der BR blieb er »ein gewal­ti­ger Strip­pen­zie­her der Poli­tik«, die »Anten­nen immer auf Emp­fang, scharf­sin­nig, berech­nend«16 Aus der Sicht Scia­sci­as war Moro weder ein »gro­ßer Staats­mann« noch ein »Held«, der sich für den ita­lie­ni­schen Staat im Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus opfern woll­te. Die Brie­fe, die sei­ne Ent­füh­rer aus dem Ker­ker des »Volks­ge­fäng­nis­ses« nach drau­ßen lie­ßen, waren »in der Spra­che der Nicht­kom­mu­ni­ka­ti­on« abge­fasst, die sich im schein­bar aus­drucks­lo­sen Argot der Rackets an den »Boss der Scher­gen« Fran­ces­co Cos­si­ga (sei­nes Zei­chens Innen­mi­nis­ter in der aktu­el­len ita­lie­ni­schen Regie­rung) rich­te­ten. Wie Poes Dupin ent­deckt Scia­scia in den Brie­fen Moros ein »Über­maß an Offen­sicht­li­chem«, etwa die Anwei­sung für das stra­te­gi­sche Hin­hal­ten der Ent­füh­rer in Ver­hand­lun­gen, um die Zeit zu nut­zen, den Ent­führ­ten aus dem Ker­ker zu befrei­en.17 Doch wie schon bei Poe ist der dumpf agie­ren­de Poli­zei­ap­pa­rat nicht in der Lage den »ver­steck­ten Gegen­stand« (in die­sem Fall ein Ent­füh­rungs­op­fer) zu ent­de­cken. Die Intel­li­genz der poli­zei­li­chen Agen­tu­ren konn­te sich auf die »Geris­sen­heit« der Straf­tä­ter nicht ein­stel­len: »Ihre Unter­su­chungs­me­tho­den«, heißt es bei Poe, »ken­nen kei­ne Fle­xi­bi­li­tät.«18 Tri­umph des Mobs Ich bin ein poli­ti­scher Gefan­ge­ner«, heißt es in einem Brief Moros an den christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Benig­no Zac­ca­gni­ni, »den eure brüs­ke Ent­schei­dung, euch jeg­li­cher Dis­kus­si­on über ande­re gleich­falls gefan­ge­ne Per­so­nen zu ver­schlie­ßen, in eine unhalt­ba­re Situa­ti­on gebracht hat. Die Zeit eilt dahin und ist lei­der knapp. Jeden Moment könn­te es zu spät sein.«19 Nach der Inter­pre­ta­ti­on Scia­sci­as befand sich Moro in der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen zwei »Sta­li­nis­men«: den des ita­lie­ni­schen Staa­tes, den sich das Racket der Demo­cra­zia Cris­tia­na (DC) als Beu­te­stück unter den Nagel geris­sen hat­te, und dem der BR, die sich »in ihrer Mona­de ideo­­lo­­gisch-rech­t­spre­chen­­den Wahn­sinns«20 ver­kap­selt hat­ten und allen ideo­lo­gi­schen Eska­mo­tie­run­gen zum Trotz nicht mehr als Tech­ni­ker einer abs­trak­ten Macht ope­rier­ten, die ledig­lich das Nega­tiv der »mili­­tä­risch-büro­­­kra­­ti­­schen Staats­ma­schi­ne« reprä­sen­tier­ten, das sie zu atta­ckie­ren vor­ga­ben. Moro »beginnt«, heißt es bei Scia­scia, »sich à la Piran­del­lo von Form zu lösen, da er sich nun auf tra­gi­sche Wei­se ins Leben ein­ge­las­sen hat.« 21 Von der öffent­li­chen Per­sön­lich­keit wan­delt er sich zum »allein­ge­las­se­nen Men­schen«, zur »Krea­tur«, die sich nach sei­ner »Ver­wand­lung« dage­gen sträubt, von den herr­schen­den »Sta­li­nis­men« zer­quetscht zu wer­den, als wäre sie am Ende »ganz und gar kre­piert«22. Wie ande­re Ter­ro­ris­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen der Zeit agie­ren die roten Bri­ga­den (mit den Wor­ten des Sozi­al­wis­sen­schaft­lers Peter Brück­ner) »im Gefan­ge­nen­la­ger des Extrems«23 und beflei­ßig­ten sich eines »Faschis­mus der Anti­fa­schis­ten«24 (um einen Aus­druck Paso­li­nis zu bemü­hen). Scia­scia betont jedoch den expli­zit ita­lie­ni­schen Cha­rak­ter der roten Bri­ga­den: »Die Bri­ga­te ros­se funk­tio­nie­ren per­fekt: Aber (und das Aber braucht es hier) sie sind ita­lie­nisch. Sie sind ›cosa nos­t­ra‹, unse­re Sache, wie sehr sie auch mit revo­lu­tio­nä­ren Sek­ten oder Geheim­diens­ten ande­rer Staa­ten ver­zahnt sein mögen.«25 Vor­ge­wor­fen wird Scia­scia, dass er Moro (oder des­sen Figur in einer poli­ti­schen Tra­gö­die) als Opfer eines dia­bo­li­schen Macht­kar­tells mit mafiö­sen Struk­tu­ren sti­li­sie­re, wobei er mit sim­pli­fi­zie­ren­den Über­tra­gun­gen aus sei­nen sizi­lia­ni­schen Kri­mi­nal­ro­ma­nen die Mög­lich­keit von Dif­fe­ren­zie­run­gen unter­lau­fe. »Scia­scia ist nicht ein­mal im Ansatz in der Lage«, urteilt die Roma­nis­tin Hele­ne Harth, »die – wie immer auch spä­ter durch tat­säch­li­che Aktio­nen per­ver­tier­ten – Zie­le des lin­ken Ter­ro­ris­mus als von ihrer Inten­ti­on her revo­lu­tio­nä­re Zie­le zu begrei­fen. Für ihn sind viel­mehr die Bri­ga­te Ros­se iden­tisch mit der Mafia und die­nen mit sta­li­nis­ti­schen Metho­den der Zemen­tie­rung eines tod­brin­gen­den Macht­blocks.«26 Wor­in die »revo­lu­tio­nä­ren Zie­le« der BR bestehen soll­ten, ver­mag Harth nicht dar­zu­le­gen. Wie bereits die lin­ke Publi­zis­tin Rossa­na Ross­an­da insis­tier­te, befan­den sich die roten Bri­ga­den mit ihren bru­ta­len Tak­ti­ken und ihrem sta­li­nis­ti­schen Jar­gon im Wider­spruch zu den meis­ten Strö­mun­gen der zeit­ge­nös­si­schen Lin­ken in Ita­li­en, doch gehör­ten sie auch zum »Fami­li­en­al­bum«, zu einer Geschich­te, die nie ver­ging.27 Scia­sci­as Buch lässt einen auf­ge­wühl­ten, wenn nicht beun­ru­hig­ten Leser zurück. Mit den Wor­ten Jor­ge Luis Bor­ges’: »Der beun­ru­hig­te Leser sieht sich noch ein­mal in den ent­spre­chen­den Kapi­teln um und ent­deckt eine ande­re Lösung, die ech­te.«28 Die Beun­ru­hi­gung hält bis zum Moment an, da das euro­päi­sche Pro­jekt – einst untrenn­bar ver­bun­den mit der Befrei­ung vom Faschis­mus und der Über­win­dung eng­stir­ni­ger Natio­na­lis­men – mit einem ita­lie­ni­schen Zom­­bie-Faschis­­mus kon­fron­tiert ist, der den Kon­ti­nent zurück in die vor­de­mo­kra­ti­sche, auto­ri­tä­re Dun­kel­heit einer längst über­wun­den geglaub­ten Ver­gan­gen­heit zu kata­pul­tie­ren droht.29 Dass in den Mas­sen tat­säch­lich die Demo­kra­tie »ein ver­dräng­tes, unter­ir­di­sches Dasein führt«, wie Hork­hei­mer in den 1940er Jah­ren mut­maß­te, ist ange­sichts der aktu­ell herr­schen­den Zustän­de ver­mut­lich eher ein Wunsch­traum. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Leo­nar­do Scia­scia. Die Affai­re Moro. Ein Roman. Mit einem Nach­wort von Fabio Stas­si. Über­setzt von Moni­ka Lus­tig. Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023. 240 Sei­ten, 24 Euro. ISBN: 978–3‑949558–18‑4. Bild­quel­len (Copy­rights) Foto Aldo Moro Quel­le: Auf­nah­me eines BR-Mit­­glie­­des, Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Cover L’Af­fai­re Moro © Édi­ti­ons Gras­set Cover Die Affai­re Moro © Edi­ti­on Con­ver­so Foto Pier Pao­lo Paso­li­ni Quel­le: clubalfa.it Illus­tra­ti­on zu Der ent­wen­de­te Brief Quel­le: Fré­dé­ric Théo­do­re Lix, Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Leo­nar­do Scia­scia Quel­le: Dop­pio­ze­ro Nach­wei­se Adri­an Lyt­tel­ton, »Mur­der in Rome«, New York Review of Books, 34, Nr. 11 (25. Juni 1987), https://www.nybooks.com/articles/1987/06/25/murder-in-rome/ ↩ Mai­ke Albath, »Klar­heit, Ver­nunft und Häre­sie«, in: Leo­nar­do Scia­scia, Ein Sizi­lia­ner von fes­ten Prin­zi­pi­en (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2021), S. 158 ↩ Leo­nar­do Scia­scia, Die Affai­re Moro. Ein Roman, übers. Moni­ka Lus­tig (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023), S. 63 ↩ Joseph Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter (Flo­renz: Leo S. Olsch­ki Edi­to­re, 2022), S. 198 ↩ Gore Vidal, »On the Assassin’s Trail«, New York Review of Books, 26, Nr. 16 (25. Okto­ber 1979), https://www.nybooks.com/articles/1979/10/25/on-the-assassins-trail/ ↩ Tho­mas Erling Peter­son, Ein­lei­tung zu: Alber­to Mora­via, Two Fri­ends (New York: Other Press, 2011), S. xvii ↩ Umber­to Eco, Der ewi­ge Faschis­mus, übers. Burk­hart Kroeber (Mün­chen: Han­ser, 2020), S. 23, 27–28; Ian Kers­haw, To Hell and Back: Euro­pe 1914–1949 (Lon­don: Allen Lane, 2015), S. 228–232, 274–282; Nun­zio Per­ni­co­ne und Fraser M. Otta­nel­li, Ass­as­sins Against the Old Order: Iali­an Anar­chist Vio­lence in Fin de Siè­cle Euro­pe (Cham­paign, IL: Uni­ver­si­ty of Illi­nois Press, 2018); Alan John­s­ton, »A Gay Island Com­mu­ni­ty Crea­ted by Italy’s Fascists«, BBC, 13. Juni 2013, https://www.bbc.com/news/magazine-22856586; Katy Hull, The Maschi­ne Has a Soul: Ame­ri­can Sym­pa­thy with Ita­li­an Fascism (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2021), S. 65–83, 116–149 ↩ Max Hork­hei­mer, »Die Rackets und der Geist«, in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, hg. Gun­ze­lin Schmid-Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 291 ↩ Leo­nar­do Scia­scia, Das Gesetz des Schwei­gens: Sizi­lia­ni­sche Roma­ne, übers. Hele­ne Moser et al. (Wien: Zsol­nay, 2018), S. 368 ↩ Cf. Ulri­ke Klin­ger et al., Plat­forms, Power, and Poli­tics: An Intro­duc­tion to Poli­ti­cal Com­mu­ni­ca­ti­on in the Digi­tal Age (Lon­don: Poli­ty Press, 2024), S. 32–49 ↩ Pier Pao­lo Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten: Die Zer­stö­rung der Kul­tur des Ein­zel­nen durch die Kon­sum­ge­sell­schaft, übers. Tho­mas Eisen­hart (Ber­lin: Wagen­bach, 2011), S. 110 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 110 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 117 ↩ Enzo Sici­lia­no, Paso­li­ni: Leben und Werk, übers. Chris­tel Gal­lia­ni (Wein­heim: Beltz, 1994), S. 530Fn76 ↩ Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter, S. 199 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 31 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 37, 45, 53 ↩ Edgar Allan Poe, »Der ent­wen­de­te Brief«, übers. Andre­as Nohl, in: Poe, Unheim­li­che Geschich­ten, hg. Charles Bau­de­lai­re (Mün­chen: dtv, 2018), S. 72 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 60 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 103 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 75; zu Scia­sci­as Inter­pre­ta­ti­on von Piran­del­lo und Sizi­li­en als poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Meta­pher cf. Leo­anrdo Scia­scia, Piran­del­lo et la Sici­le, übers. Jean-Noël Schi­fa­no (Paris: Édi­ti­ons Gras­set, 1980) ↩ Franz Kaf­ka, Die Ver­wand­lung (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 2024), S. 83 ↩ Peter Brück­ner, Über die Gewalt: Sechs Auf­sät­ze zur Rol­le der Gewalt in der Ent­ste­hung und Zer­stö­rung sozia­ler Sys­te­me (Ber­lin: Wagen­bach, 1979), S. 90 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 62 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 137 ↩ Hele­ne Harth, »Macht und Gewalt im poli­ti­schen Ima­gi­nä­ren eines Sizi­lia­ners: Leo­nar­do Scia­scia und die Moro-Affä­­re«, in: Gewalt der Geschich­te – Geschich­ten der Gewalt: Zur Kul­tur und Lite­ra­tur Ita­li­ens von 1945 bis heu­te, hg. Peter Brock­mei­er und Caro­lin Fischer (Stutt­gart: M & P Ver­lag für Wis­sen­schaft und For­schung, 1998), S. 163 ↩ David Bro­der, Mussolini’s Grand­child­ren: Fascism in Con­tem­po­ra­ry Ita­ly (Lon­don: Plu­to Press, 2023), S. 11 ↩ Jor­ge Luis Bor­ges, Uni­ver­sal­ge­schich­te der Nie­der­tracht – Fik­tio­nen – Das Aleph, übers. Gis­bert Haefs et al. (Mün­chen: Han­ser, 2000), S. 146 ↩ David Bro­der, »Gior­gia Meloni’s Euro­pe«, Dis­sent, 71, Nr. 2 (Früh­jahr 2024):25–26 ↩ […]

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Die »Filmkritik«: Eine Zeitschrift und die Medien

Die Maschinerie der Verblendung Aufstieg und Niedergang der Zeitschrift »Filmkritik« von Jörg Auberg In einem pro­gram­ma­ti­schen Arti­kel zur gesell­schaft­li­chen Rol­le des Film­kri­ti­kers kon­sta­tier­te Sieg­fried Kra­cau­er weni­ge Mona­te vor der Macht­über­nah­me der Natio­nal­so­zia­lis­ten, der »Film­kri­ti­ker von Rang« sei »nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denk­bar«. Die Mis­si­on...

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Aus den Archiven: Paul Auster — Travels in the Scriptorium

Der Mensch und die Texte Über Paul Auster und die Exerzitien der Literaturkritik von Jörg Auberg Wie der Intel­lek­tu­el­le es macht, macht er es falsch«, heißt es in Ador­nos Mini­ma Mora­lia. Der Schrift­stel­ler (im Sartre’schen Sin­ne sei­nem Wesen nach ein Intel­lek­tu­el­ler, dem es um die Mit­tei­lung des Nicht-Mit­teil­ba­ren »unter Aus­nut­zung des Anteils an Des­in­for­ma­ti­on...

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Der Verlorene Guy de Mau­pas­sant und die Tor­tur der Seele von Jörg Auberg In Ray­mond Jeans Roman La Lec­tri­ce (1986, dt. Die Vor­le­se­rin) ver­sucht die arbeits­lo­se Ex-Stu­den­tin Marie-Con­s­tance1, mit der Grün­dung einer Ich-AG als Vor­le­se­rin in einer fran­zö­si­schen Klein­stadt sich zu eta­blie­ren. Ihr ehe­ma­li­ger Pro­fes­sor Roland emp­fiehlt ihr für ihr »Metier« die...

Christian Brückner: Hinab in den Maelström

Christian Brückner mit dem Martin Auer Quintett: Hinab in den Maelström (Argon Verlag, 2023)

Im Maul des Abgrunds Marginalien zum Erzählkonzert »Hinab in den Maelström« von Jörg Auberg Der Begriff des Fort­schritts ist in der Idee der Kata­stro­phe zu fun­die­ren. Daß es ›so wei­ter‹ geht, ist die Kata­stro­phe. Sie ist nicht das jeweils Bevor­ste­hen­de son­dern das jeweils Gegebene. Wal­ter Ben­ja­min1   In sei­nem Stan­dard­werk zur Erfah­rung der Moder­ni­tät im 19. und 20...

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Trouvailles (I) Vom Spiel mit dem Buch als Buch Nachbetrachtungen zu Richard Brautigans Roman »Forellenfischen in Amerika« von Jörg Auberg Kürz­lich erstand ich in dem exqui­sit bestück­ten Ver­sand­an­ti­qua­ri­at Abend­stun­de, das von Wolf­gang Schä­fer in Lud­wigs­ha­fen betrie­ben wird, ein Exem­plar von Richard Brau­tig­ans Roman Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, der 1971 in der...

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Unversöhnliche Erinnerungen Ernst Schoens Tagebuch einer Deutschlandreise 1947 von Jörg Auberg In einer mit dem Titel »Staats-Räson« über­schrie­be­nen Notiz kurz nach sei­ner Rück­kehr nach West­deutsch­land in den spä­ten 1940er Jah­ren umriss Max Hork­hei­mer das »ver­stärk­te Lei­den« jener Men­schen, »die schon zivi­li­siert waren und nun aufs neue durch die Müh­le müs­sen«1 Die­se...

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Marseille Transfer

Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Büchergilde Gutenberg, 2023)

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Blick zurück nach vorn

Blick zurück nach vorn  Eine Bücherlese des zurückliegenden Jahres 2022  von Jörg Auberg The Beat Goes On u den ver­dienst­vol­len Unter­neh­mun­gen des Rowohlt-Ver­la­ges gehört die Pfle­ge des »klas­si­schen Erbes« im sonst vor­nehm­lich auf Pro­fit und Ren­di­te aus­ge­rich­te­ten Holtz­brinck-Kon­zern. Seit Jah­ren wer­den Wer­ke von Autoren, wel­che die »Mar­ke« Rowohlt...

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Sylvia Asmus und Uwe Wittstock - Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen (Frankfurt/Main: Deutsches Exilarchiv 1933-1945/Deutsche Nationalbibliothek, 2022)

Der Grosse Zampano Marcel Reich-Ranickis Rollen in kritischen Zeiten von Jörg Auberg In der Lite­ra­tur­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik nimmt Mar­cel Reich-Rani­cki die Rol­le des »mäch­ti­gen Lite­ra­tur­kri­ti­kers« ein, wie Hel­mut Böt­ti­ger in sei­ner per­sön­lich gehal­te­nen Lite­ra­tur­ge­schich­te der 1970er Jah­re unter­strich1. In der Retro­spek­ti­ve war er in den Augen von...

Die Politik der Rackets

Kai Lindemann - Die Politik der Rackets

Herrschaft oder Anarchie Kai Lin­de­mann durch­leuch­tet die Pra­xis der Rackets von Jörg Auberg Der Begriff »Racket« hat im gän­gi­gen Sprach­ge­brauch mitt­ler­wei­le eine Rei­he von Bedeu­tun­gen. In ers­ter Linie wird er mit dem Ten­nis­schlä­ger in Ver­bin­dung gebracht. Dar­über hin­aus bezeich­net er (unter ande­rem) eine Pro­gram­mier­spra­che, eine Social-Media-Audio-App (»Let’s Make a...

Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär

Bert Rebhandl - Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär (Zsolnay, 2020)

Ungenügend Bert Reb­handls Godard-Biografie Von Wolf­ram Schütte Jean-Luc Godard ist unter den Film­ma­chern, was Picas­so unter den Bil­den­den Künst­lern war: »Der per­ma­nen­te Revo­lu­tio­när«. Zutref­fend für das heu­te kaum noch zu über­bli­cken­de Oeu­vre des Neun­zig­jäh­ri­gen lau­tet so der Unter­ti­tel der Bio­gra­phie, die der 1964 gebo­re­ne öster­rei­chi­sche Film­kri­ti­ker Bert...

Mordecai Richler — Eine Straße in Montreal

Mordecai Richler: Eine Straße in Montreal (ars vivendi, 2021)

Erinnerung und Befreiung Mordecai Richlers autobiografische Erzählungen über St. Urbain von Jörg Auberg   Das Mont­rea­ler Vier­tel um die St. Urbain Street war – dem kana­di­schen Film­re­gis­seur Ted Kotcheff zufol­ge – für Mor­de­cai Rich­ler das, was für Wil­liam Faul­k­ner Yokna­pa­taw­pha war: sei­ne Domä­ne der Erin­ne­rung und lite­ra­ri­schen Fik­ti­on.1 Hat­te er sich in sei­nem...

Defining the Age — Daniel Bell, His Time and Ours

Defining the Age: Daniel Bell, His Time and Ours (Columbia University Press, 2022)

Verloren und abtrünnig   Daniel Bells Lamento einer verblassten Geschichte von Jörg Auberg Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Dani­el Bell (1919–2011) gilt als ein pro­to­ty­pi­scher Reprä­sen­tant der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len des 20. Jahr­hun­derts, der nicht nur den Weg von der »alten Lin­ken« in den 1930er Jah­ren zum Neo­kon­ser­va­tis­mus der Rea­gan-Ära beschritt, son­dern auch den...

Hommage an Cineaste

Cineaste: Ausgabe Frühjahr 2022 (47:2)

Kritik und Gegenöffentlichkeit Seit 1967 setzt die Zeitschrift Cineaste Massstäbe in der Filmpublizistik   von Jörg Auberg   »Kurz­um, der Film­kri­ti­ker von Rang ist nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denkbar.« Sieg­fried Kra­cau­er 1   Im Som­mer 1967 erschien die ers­te drei­ßig­sei­ti­ge Aus­ga­be der New Yor­ker Film­zeit­schrift Ciné­as­te (damals noch in der fran­zö­si­schen...

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