Texte und Zeichen

Bibliophilie in Zeiten der Cholera

B

Wahn und Paranoia

 

Angesichts der sich ausweitenden Digitalisierung der Bücher reflektiert Andrew Piper in seinem luziden und eloquenten Essay »Book Was There« über die Situation des Lesens im elektronischen Zeitalter.

 

von Jörg Auberg

 

 

 

»Mit kei­nem wech­sel­te er Wor­te, Anti­qua­re und Tröd­ler aus­ge­nom­men. Er war schweig­sam und in sich gekehrt, ver­düs­tert und trüb­sin­nig. Einen ein­zi­gen Gedan­ken hat­te er, eine ein­zi­ge Lei­den­schaft: die Bücher! Und die­se Lie­be, die­se Lei­den­schaft ver­brann­ten sein Inners­tes, ver­dar­ben sein Leben, ver­schlan­gen sein Dasein.«
Gust­ave Flau­bert, »Bücher­wahn«

»Der ehe­mals so ange­neh­me Duft zer­fal­len­den Papiers übt kei­ne Anzie­hungs­kraft mehr auf mich aus; er ist in mei­ner Erin­ne­rung zu eng mit para­noi­schen Kun­den und toten Flie­gen verbunden.«
Geor­ge Orwell, »Erin­ne­run­gen an eine Buchhandlung«

 

 

Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Bri­tish Muse­um (©Trus­tees of the Bri­tish Museum)

Nun ist es allent­hal­ben zu hören, das Ster­be­glöck­lein für das Buch. Kürz­lich pro­phe­zei­te der Blog­ger Harald Tag­lin­ger im Inter­net­ma­ga­zin Tele­po­lis den lang­sa­men Tod des Buches als Fol­ge der zuneh­men­den Digi­ta­li­sie­rung der »Con­tents«. »Bücher ver­schwin­den sozu­sa­gen von selbst«, ist Tag­lin­ger sich gewiss. »Sie wer­den digi­tal. Und nach den aktu­el­len Markt­zah­len aus den USA ist das inzwi­schen mehr als signi­fi­kant.« Das Buch wer­de den Weg der Lang­spiel­plat­te gehen und auf dem media­len Fried­hof der Mensch­heits­ge­schich­te enden. Die Auf­nah­me­be­reit­schaft der aktu­el­len Kund­schaft ver­lan­ge kür­ze­re For­ma­te, wäh­rend »län­ge­re Stü­cke«, zumal in einer kon­zep­tio­nel­len Form wie Buch oder »Long Play­er«, zuneh­mend obso­let seien.

Wäh­rend Blog­ger die eige­ne Bor­niert­heit zum Maß­stab aller Din­ge erklä­ren und als Sprach­roh­re eines tech­no­li­ber­tä­ren Posi­ti­vis­mus im Buch ledig­lich einen media­len Con­tai­ner sehen (der ent­spre­chend acht­los behan­delt wird), befürch­ten die Biblio­ma­nen ange­sichts der Digi­ta­li­sie­rung die kul­tu­rel­le Ver­elen­dung. Nicht mehr müs­sen Bar­ba­ren Bücher ver­bren­nen und Biblio­the­ken brand­schat­zen: Mit der Über­füh­rung des Buches in die elek­tro­ni­sche Form ver­schwin­det die »Signi­fi­kanz« in einem gigan­ti­schen Fun­dus amor­pher Tex­te und Zei­chen. Die ubi­qui­tä­re Ver­füg­bar­keit, die kra­ken­haf­te Kon­zer­ne wie Goog­le unter dem Deck­man­tel der Phil­an­thro­pie anprei­sen, ist kon­gru­ent mit abso­lu­ter Belie­big­keit, einer »alter­na­ti­ven« Zer­stö­rung. In die­sem Sze­na­rio ist das Pro­jekt Goog­le Books als uni­ver­sa­les, welt­um­span­nen­des Archiv die hohn­la­chen­de Erfül­lung des Unter­neh­mens »Fah­ren­heit 451«.

Zwi­schen die­sen Extre­men nimmt Andrew Piper eine Mit­tel­po­si­ti­on in sei­nem Essay Book Was The­re ein, einer kri­ti­schen Refle­xi­on über das Lesen im elek­tro­ni­schen Zeit­al­ter. Zum einen ist er durch sei­ne Affi­ni­tät zur Lite­ra­tur geprägt (er lehrt deut­sche und euro­päi­sche Lite­ra­tur an der McGill Uni­ver­si­ty in Mon­tré­al); zugleich kennt er sich durch eige­ne Erfah­rung in den Berei­chen Pro­gram­mie­rung und Inter­net aus. Sein Buch, das im Titel Ger­tru­de Stein zitiert, ist der Ver­such, zu einem Ver­ständ­nis zu kom­men, wie sich das Lesen im Zuge der flä­chen­de­cken­den Digi­ta­li­sie­rung zu ver­än­dern beginnt, wobei er in sei­nen Betrach­tun­gen über die tak­ti­len, visu­el­len, räum­li­chen und sozia­len Bezie­hun­gen des Lesers zum Buch und sei­nen ein­zel­nen Ele­men­ten wie Sei­te, Lay­out und Typo­gra­fie eine groß ange­leg­te Expe­di­ti­on durch die Kul­tur­ge­schich­te unter­nimmt, ohne sich prä­ten­ti­ös oder schul­meis­ter­haft zu gebä­ren. Pipers Stil ist elo­quent und luzi­de zugleich, frei von Manie­ris­men und feuil­le­to­nis­ti­scher Sal­ba­de­rei. »Es ist Zeit, die Sor­gen hin­ter sich zu las­sen und mit dem Den­ken anzu­fan­gen«, schreibt er in sei­nem Pro­log. »Es ist Zeit, den digi­ta­len Uto­pien und den Elo­gen auf das gedruck­te Buch ein Ende zu set­zen … Jetzt ist die Zeit, die reich­hal­ti­ge Geschich­te des­sen zu ver­ste­hen, was Bücher mög­li­cher­wei­se für uns getan haben und was digi­ta­le Tex­te viel­leicht anders tun könnten.«

Die­sen Anspruch ver­folgt Piper mit sei­nem Essay, der in sei­ner Tour de Force durch die Ver­gan­gen­heit noch­mals Mar­shall McLuhans »Rück­spie­gel­theo­rie« bekräf­tigt (»Wir sehen auf die Gegen­wart durch einen Rück­spie­gel«, gab der kana­di­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler zu Pro­to­koll. »Wir gehen rück­wärts in die Zukunft.«). Die mit­tel­al­ter­li­chen Schrif­ten haben mit ihrer Ver­knüp­fung von Text, Typo­gra­fie, Bil­dern und Deko­ra­tio­nen Andrew Piper - Book Was There (University of Chicago Press)Inter­ak­ti­on zwi­schen Medi­um, Text und Kör­per, wie sie heu­te von Inter­net-Sei­ten als Stan­dard ver­wen­det wer­den, vor­weg­ge­nom­men. Gleich­falls hat das öffent­li­che Lesen in lite­ra­ri­schen Salons, Lese­klubs und Unter­neh­mun­gen des »social rea­ding« stets auch Akt des Tei­lens beinhal­tet, der heu­te in hyper­kom­mer­zia­li­sier­ter Form wei­ter­ge­führt wird.

Zugleich aber wan­der­ten mit dem alten Medi­um auch alte Defor­ma­tio­nen in die schö­ne, neue Medi­en­welt ein. »Die Biblio­thek, der Ort der Bücher, ist auch der Geburts­ort von Obses­sio­nen«, kon­sta­tiert Piper. Die »Lese­wut« oder die »Lese­sucht«, die Gier nach immer mehr Text, wie sie bei­spiels­wei­se in der deut­schen Roman­tik gras­sier­te, wuchert in das schein­bar neue Medi­en­zeit­al­ter hin­ein, in dem die sucht­ge­trie­be­ne Jagd nach dem Text den Erkennt­nis­ge­winn über­schat­tet. Die schwär­men­de Suche nach Fetisch­ob­jek­ten, wel­che die Exis­tenz des Biblio­ma­nen bestimm­te, gene­riert auch im »Inter­net-Zeit­al­ter« ein »fal­sches« oder (wie es bei Georg Lukács heißt) ein »indi­vi­du­el­les, iso­lier­tes, robin­son­haf­tes« Bewusst­sein, das den »Benut­zer« vom Leben abtrennt und in eine »Par­al­lel­welt« abtau­chen lässt. Aber wäh­rend das tra­di­tio­nel­le Buch die Gedan­ken schwei­fen und einen dunk­len Raum der Fan­ta­sie offen lässt, beför­dert die aktu­el­le Inter­net-Kul­tur – kri­ti­siert Piper – ein Publi­kum »zer­streu­ter Leser«, denen die Kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit feh­le, um die Lek­tü­re eines Buches zu been­den. Die dar­aus resul­tie­ren­den Ver­hält­nis­se sind – wie in Ray Brad­bu­rys Fah­ren­heit 451 – nicht das Ergeb­nis einer dik­ta­to­ri­schen oder tota­li­tä­ren poli­ti­schen Macht, son­dern einer gesell­schaft­li­chen kul­tu­rel­len Pra­xis. Es bedarf kei­ner per­ver­tier­ten Feu­er­wehr mehr, um Bücher zu ver­nich­ten: Dies besorgt der kul­tur­in­dus­tri­el­le Appa­rat selbst, deren Agen­ten Autoren, Ver­le­ger, Redak­teu­re, Jour­na­lis­ten und PR-Beauf­trag­te sind. Sie tra­gen, stell­te Jurek Becker in sei­nen Vor­le­sun­gen unter dem Titel »War­nung vor dem Schrift­stel­ler« im Jah­re 1989 fest, »den Bedürf­nis­sen eines ver­ober­fläch­lich­ten Publi­kums Rech­nung, das an gesell­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen des­in­ter­es­siert« sei. »In der frei­en Markt­wirt­schaft«, fuhr der lei­der viel zu früh ver­stor­be­ne Autor in sei­ner Kri­tik fort, »ist ein Buch ein Pro­dukt wie jedes ande­re, es unter­liegt kei­nen beson­de­ren ethi­schen Rege­lun­gen. Die Ware hat mög­lichst pro­fi­ta­bel zu sein, ob sie nun Leber­wurst oder Pan­zer­faust oder Buch heißt.«

Die­se Ver­hält­nis­se wur­den in der digi­ta­len Vari­an­te von Aldous Hux­leys Bra­ve New World nicht über­wun­den, son­dern als »unter­bro­che­ne Fol­ge end­gül­ti­ger Ver­schlech­te­run­gen« (wie es bei Samu­el Beckett heißt) ver­stärkt. Bücher, als belie­bi­ge wie nich­ti­ge »Con­tents«, wer­den dem Fetisch der Mobi­li­tät und Ubi­qui­tät unter­wor­fen, wäh­rend die Kanä­le der Les­bar­keit durch eine pro­fit­ori­en­tier­te Indus­trie betrie­ben wer­den. Wie ein Text zu lesen ist, geben die Desi­gner des glo­ba­len Mark­tes vor, der nicht nur den Inhalt der Ware bestimmt, son­dern auch deren Kon­sump­ti­ons­pra­xis. Die Gefahr einer glo­ba­li­sier­ten Uni­for­mi­tät sieht auch Piper in der aktu­el­len Digi­ta­li­sie­rung des Buches. »Das uni­ver­sa­le Medi­um«, schreibt er in sei­nem Epi­log, »ist wie die uni­ver­sa­le Biblio­thek ein Traum, der mehr Scha­den anrich­tet, als dass er Gutes tut.« Der uni­ver­sa­le Wis­sens­spei­cher birgt Gefah­ren der Mono­po­li­sie­rung und Kar­tel­lie­rung in sich; zudem kön­nen sich in Form der insti­tu­tio­nel­len »Gate­kee­per« (die dar­über bestim­men, was im uni­ver­sa­len Spei­cher bewahrt wer­den soll und was nicht) Struk­tu­ren der Zen­sur eta­blie­ren. Die­se Gefah­ren las­sen sich auch nicht, wie es der Ver­le­ger André Schiffrin vor­schlug, durch eine öffent­lich-recht­li­che Regu­la­ti­on mini­mie­ren, denn längst haben Rackets Schlüs­sel­po­si­tio­nen in den gesell­schaft­li­chen Appa­ra­ten besetzt und die bru­ta­le Herr­schaft der Stär­ke­ren gegen die Schwä­che­ren zemen­tiert, sodass ein herr­schafts­frei­er Dis­kurs einer kri­ti­schen Öffent­lich­keit unter den gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen nicht mög­lich ist.

Die Tech­ni­fi­zie­rung des Lesens gehört zur Struk­tur der Rackets, die – wie Max Hork­hei­mer 1943 schrieb – ihren Pro­duk­ti­ons­ap­pa­rat »wie Räu­ber ihre Kano­ne« ein­set­zen. Tex­te wer­den nach puren öko­no­mi­schen Kri­te­ri­en in die digi­ta­le Rea­li­tät über­führt, wobei jedes Racket eige­ne For­ma­te und Beschrän­kun­gen für sein Herr­schafts­ter­ri­to­ri­um ein­führt, sodass der uni­ver­sa­le Cha­rak­ter der Tex­te unter dem Dik­tat der Öko­no­mie ver­lo­ren geht. Die Beschrän­kun­gen des digi­ta­len For­mats wer­den schon am vom Ver­lag zur Ver­fü­gung gestell­ten Rezen­si­ons­exem­plar von Pipers Buch deut­lich: Es wird im Rah­men des Digi­tal Rights Manage­ment (DRM) als Ado­be Digi­tal Edi­ti­on ver­trie­ben, die nicht mit jedem E‑Book-Rea­der (bei­spiels­wei­se dem weit­ver­brei­te­ten Ama­zon Kind­le) les­bar ist. Allein, wer sei­ne per­sön­li­chen Daten gegen eine Ado­be-ID ein­tauscht, kann das PDF-Doku­ment lesen. Offen­bar ist die­ses PDF-Doku­ment nicht für die Bild­schirm­grö­ße unter­schied­li­cher E‑Book-Rea­der opti­miert, son­dern stülpt die ursprüng­li­che Pagi­nie­rung des gedruck­ten Buches dem elek­tro­ni­schen Text über, sodass viel­fach wei­ße Abgrün­de in der elek­tro­ni­schen Dar­stel­lung unver­mit­telt auf­tau­chen. Glei­cher­ma­ßen sind in den Fuß­no­ten kei­ne Links hin­ter­legt, und Abbil­dun­gen – wie etwa ein von El Lis­sitz­ky ent­wor­fe­ner Buch­um­schlag aus dem Jah­re 1927 – ver­lie­ren alle gra­fi­schen und farb­li­chen Details, sodass das elek­tro­ni­sche Buch in die­ser Fas­sung von min­de­rer Qua­li­tät ist. Selbst Vor­zü­ge eines E‑Book-Rea­ders wie des Sony PRS-T2, Mar­kie­run­gen und Noti­zen zum Online-Notiz­pro­gramm Ever­no­te hoch­zu­la­den, wer­den durch die DRM-Beschrän­kung kon­ter­ka­riert: Eine Notiz wird auf die Län­ge von 140 Zei­chen beschnitten.

So wer­den selbst die Vor­tei­le neu­er Tech­no­lo­gien dem maschi­nel­len und auto­ri­tä­ren Dik­tat unter­ge­ord­net. »Im Umgang mit der Maschi­ne lernt der Mensch, daß die Befol­gung der Anlei­tun­gen der ein­zi­ge Weg ist, um die gewünsch­ten Resul­ta­te zu erzie­len«, schrieb Her­bert Mar­cu­se 1941. »Zurecht­zu­kom­men heißt, sich dem Appa­rat anzu­pas­sen.« Die Appa­ra­te wer­den selbst zu einem umschlie­ßen­den Envi­ron­ment. Die zur­zeit herr­schen­de Mes­al­li­ance aus tech­no­li­ber­tä­ren Appa­rat­schicks und Pro­pa­gan­dis­ten des Hyper­kom­mer­zia­lis­mus (die sich – mit einem Wort des Inter­net-Kapi­ta­lis­mus-Kri­ti­kers Robert W. McChes­ney – als »Tech­no­phil­an­thro­pen« auf der Welt­büh­ne zu gerie­ren ver­su­chen) revi­ta­li­siert nicht die Idee einer »neu­en Frei­heit«, son­dern befeu­ert anti-eman­zi­pa­to­ri­sche Ten­den­zen. Die Ratio­na­li­tät der Appa­ra­te (je klei­ner sie sich auch immer dimen­sio­nie­ren) för­dert die »Mecha­nik der Kon­for­mi­tät«, die auf jeden Punkt des gesell­schaft­li­chen Getrie­bes Zugriff hat. »Die Indi­vi­du­en wer­den ihrer Indi­vi­dua­li­tät beraubt«, beob­ach­te­te Mar­cu­se, »aber nicht durch äuße­ren Zwang, son­dern eben durch die Ratio­na­li­tät, die ihr Leben bestimmt.« Selbst das Lesen ist mitt­ler­wei­le in das Herr­schafts­sys­tem der Ratio­na­li­tät über die »ver­teil­ten Sys­te­me« (die einst­mals dem gigan­to­ma­ni­schen Moloch der Groß­rech­ner-Indus­trien Wider­stand ent­ge­gen­set­zen soll­ten) inte­griert wor­den. Die Frei­heit ist anderswo.

 

Bibliografische Angaben:

Andrew Piper. Book Was The­re. Rea­ding in Elec­tro­nic Times. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press, 2012. 208 Sei­ten, $ 22,50.

 

Zuerst erschie­nen in:  satt.org (Juli 2013)

© Text Jörg Auberg

© Abbil­dung: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press

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