Zwei Bürger im Lande der Parias
Gustave Flaubert und Maxime Du Camp reisen durch die Bretagne
von Jörg Auberg
Wie viele Franzosen seiner Zeit hatte Gustave Flaubert von den Bretonen keine große Meinung. In einem Brief an George Sand im September 1866 bezeichnete er sie als »abstoßende Wesen«1. Im 19. Jahrhundert galten die Bretonen in der Wahrnehmung des französischen Bürgertums als Repräsentanten eines reaktionären und ignoranten Provinzialismus und waren in der Öffentlichkeit zumeist Zielscheibe des Spotts, der sich beispielsweise in der Figur der tumben Bretonin Bécassine ausdrückte. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine breite Migrationswelle von Bretonen nach Paris einsetzte, waren die Neuankömmlinge in der Metropole schlecht gelitten. Sie galten als Inbegriff eines von Ignoranz, Alkoholismus und Entwurzelung geprägten Prekariats, das sich auf der niedrigsten Stufe der französischen Gesellschaft und Kultur befand. Nur als Handlanger und Domestiken wurden diese »Parias« in den Niederungen der französischen Bürgergesellschaft geduldet.2
Als Flaubert mit seinem Freund Maxime du Camp am 1. Mai 1847 zu einer dreimonatigen Reise durch die Bretagne aufbrach, floh er vor dem Derangement seiner bürgerlichen Existenz. Ein Jahr zuvor war sein Vater gestorben; seine Schwester Caroline hatte ihr Leben in Folge eines Kindbettfiebers verloren; seine schriftstellerische Karriere kam nicht voran, und seine Liaison mit Louise Colet war in einer Krise. Die Reise durch die Bretagne, die Flaubert minutiös vorbereitete, war auch eine Flucht in raue Landschaften, welche die französische Zivilisation bislang nicht durchdrungen hatte. Darüber hinaus war es eine Art Desertion, mit der Flaubert zumindest zeitweise seine Beziehung zu Louise Colet dispensierte. Für den Flaubert-Biografen Michel Winock ist es keineswegs nur eine Reise zweier Schriftstellerfreunde, sondern eine Exkursion in homoerotische Sphären, wie angeblich Louise Colet eifersüchtig mutmaßte.3
Die Reise führte die beiden Freunde zunächst durch das Tal der Loire (»dem französischsten der französischen Flüsse«4, wie Flaubert in einem überschwänglichen Nationalismus exklamierte), ehe sie die Küste der Bretagne vorbei an Vannes, Locmariaquer, Carnac, Quiberon, Auray, Lorient, Brest und Saint-Malo durchquerten, um schließlich nach drei Monaten wieder nach Rouen, Flauberts Heimatstadt, zurückzukehren. Größtenteils legten sie ihren Weg zu Fuß zurück; hin und wieder bedienten sie sich moderner Transportmittel wie einer Kutsche, eines Fischerbootes oder einer Fähre, um auf entlegene Orte wie die Belle-Île zu gelangen. Nach ihrer Rückkehr schrieben sie ein gemeinsames Buch über ihre Reise, zu dem Flaubert die Kapitel mit den ungeraden Kapitelnummern und Du Camp jene mit den geraden beisteuerte, ohne dass zu Lebzeiten der beiden Autoren dieses Werk veröffentlicht wurde. Nach Flauberts Tod wurden ausschließlich seine Kapitel unter dem Titel Par les Champs et par les Grèves veröffentlicht.5
Von Beginn an sind die Reflexionen über die Reise von einer konservativen Kulturkritik geprägt. »Wenn man sich früher von einem Ort zum anderen begab«, heißt es in Flauberts erstem Kapitel, »sei es im Wagen oder mit dem Schiff, hatte man Zeit, etwas zu sehen, und Abenteuer zu erleben: Eine Reise von Paris nach Rouen konnte ein Buch ergeben.«6 Die Beschleunigung durch den technischen Fortschritt in Form von Eisenbahn und Dampfschiff zerstörten in den Augen Flauberts die schönen Momente des Reisens und die traditionelle französische Landschaft selbst. »Die Beschleunigung, ursprünglich als Hilfe bei der Anstrengung gedacht, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, ist der Aufklärung entglitten«, konstatierte Lothar Baier in seinem großen Essay Keine Zeit, »und hat sich am Ende mit Technik und Ökonomie zu einer nicht mehr steuerbaren Gewalt verbunden.«7 Die Gewalt des Fortschritts grub sich als Zeichen der Zivilisation in die französische Landschaft ein, während sie die Bretagne noch nicht erreicht hatte.
Ironischerweise flohen Flaubert und Du Camp in die bretonische Wildnis, wo sie – mit den Worten des Flaubert-Biografen Herbert Lottman – als »Botschafter der Zivilisation«8 auftraten. »Du Camp gibt uns … einen Einblick in die Wildheit der westlichen Bretagne mit ihren holprigen Straßen«, schreibt Lottmann, »der fremdartigen Sprache, ihrer unterentwickelten Landwirtschaft, ihren armseligen Dörfern, schmutzigen Häusern, ihrem Aberglauben und Elend …«9. Herablassend nimmt Du Camp die Bretonen wahr: Bei einem Aufenthalt lernen sie einen jungen Zollangestellten kennen, der in der Trostlosigkeit seines Daseins in den dunklen Landschaften festgewachsen zu sein scheint. Beim Abschied schaue er die Reisenden voller Neid an, weiß Du Camp zu berichten, »denn wir besitzen das höchste Gut, das er nicht kennt und nie kennenlernen wird: die Freiheit.«10
Ohnehin haben die beiden Reisenden nicht viel Respekt gegenüber den bretonischen »Eingeborenen« und ihren Orten. Bei einem Abstecher auf die Belle-Île erscheint Flaubert die Hauptstadt der Insel, Le Palais, als »eine ziemlich dumme Stadt«, der »die Langeweile einer Garnison aus allen Poren dringt«.11 Zur Strafe ihrer Hochnäsigkeit verlaufen sich die beiden französischen Touristen beim Versuch, die Insel in ihrer Breite zu durchqueren, und kehren erst nach vierzehn Stunden nach Le Palais zurück.
»Gleichwohl, selbst in einer hässlichen Gegend ist es immer eine Freude, zu zweit querfeldein zu wandern und dabei über Gras zu laufen, Hecken zu überwinden, über Gräben zu springen, mit dem Stock die Disteln abzumähen, mit den Händen Blätter und Dornen abzureißen, aufs Geratewohl dahinzuspazieren, wie es einem einfällt, wie die Füße einen tragen, singend, pfeifend, plaudernd, träumend, ohne ein Ohr, das einen belauscht, ohne das Geräusch von Schritten hinter den eigenen, frei wie in der Wüste!«.12
Für die Reisenden bleibt die Bretagne eine verschlossene Landschaft der Einöde. »Denn hier zu leben ist der Mensch nicht geschaffen«, resümiert Du Camp: »für seine Schwachheit ist die Natur hier zu stark.«13 Die Bretagne ist für ihn der Inbegriff der Barbarei, wobei auch seine »Axiome«, die er in seinen Reisebeschreibungen zum Besten gibt, von einer außerordentlichen reaktionären Weltanschauung geprägt sind. »Straßen sind wie Frauen«, exklamiert er an einer Stelle: »ihr Unterhalt ist teuer«.14 Erst in Quimperlé erscheinen ihm keine typischen »bretonische Bretonen«, sondern »zivilisierte Leute«15. Am Ende zeichnen Flaubert und Du Camp ein wenig erfreuliches Bild der Bretagne, wobei ihnen ihre Arroganz und Blasiertheit den freien Blick auf die Landschaft und ihre Bewohner verstellt. So moniert Nathalie Couilloud mit Recht, dass der Leser dieses Reiseberichtes über die Bretagne an zahlreichen Stellen zu einem mitleidigen Lächeln über die Urteile der Autoren verführt wird.16
Die neue im Züricher Verlag Dörlemann erschienene Übersetzung basiert auf dem vollständigen Text beider Autoren, die 2013 im Rahmen der Flaubert-Werkausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade erschien, und wurde von der versierten Übersetzerin Cornelia Hasting kongenial ins Deutsche übertragen. Obwohl das Buch in einer aufwändigen Leinenausgabe mit Lesebändchen den Leser umschmeichelt, fehlt leider ein Nachwort, das über die Hintergründe der Reise und und die Biografien der beiden Autoren Aufschluss gibt. Trotz allem aber ist es ein außerordentlicher Schatz aus einer untergegangenen Zeit.
Bibliografische Angaben:
Gustave Flaubert und Maxime du Camp. Über Felder und Strände: Eine Reise durch die Bretagne. Aus dem Französischen übersetzt von Cornelia Hasting. Zürich: Dörlemann, 2016. 480 Seiten, 35,00 Euro.
© Text und Fotos: Jörg Auberg (2016)
Nachweise
- Gustave Flaubert, Briefe, hg. und übers. Helmut Scheffel (Zürich: Diogenes, 1977), S. 496 ↩
- Cf. Leslie Page Moch, The Pariahs of Yesterday: Breton Migrants in Paris (Durham und London: Duke University Press, 2012), S. 1–30 ↩
- Michel Winock, Flaubert (Paris: Gallimard, 2013), S. 137; Julian Barnes, Flaubert’s Parrot (London: Vintage, 2009), S. 140–141 ↩
- Gustave Flaubert und Maxime Du Camp, Über Felder und Strände: Eine Reise durch die Bretagne, übers. Cornelia Hasting (Zürich: Dörlemann, 2016), S. 20 ↩
- Gustave Flaubert, Voyage en Bretagne: Par les champs et par les grèves, hg. Maurice Nadeau (Brüssel: Éditions Complexe, 2001). Die Ausgabe enthält einen Auszug aus den Souvenirs littéraires von Maxime Du Camp. ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 9 ↩
- Lothar Baier, Keine Zeit: 18 Versuche über die Beschleunigung (München: Verlag Antje Kunstmann, 2000), S. 25 ↩
- Herbert Lottman, Flaubert: Eine Biographie, übers. Joachim Schultz (Frankfurt/Main: Insel, 1992), S. 112 ↩
- Ibid., S. 112 (Auslassungen im Original) ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 110 ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 147 ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 152 ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 152 ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 152 ↩
- Flaubert und Du Camp, Über Felder und Strände, S. 324 ↩
- Nathalie Couilloud, Promenades littéraires en Finistère (Spézet: Coop Breizh, 2009), S. 23 ↩