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Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Abseits

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Leben oder erzählen

Fjo­dor Dos­to­jew­skis »Unter­grund­mensch« wird in einer neu­en Über­set­zung der Defor­ma­ti­on durch den reak­tio­nä­ren Zeit­geist geop­fert.

Von Jörg Auberg

 

Fjo­dor Dos­to­jew­skij (1876)

Fjodor M. Dos­to­jew­skis Novel­le Zapi­ski iz pod­polʹ­ja aus dem Jah­re 1864 zählt zu den gro­ßen lite­ra­ri­schen Tex­ten des 19. Jahr­hun­derts, die auf die intel­lek­tu­el­le Ent­wick­lung der Moder­ne eine immense Wir­kung aus­üb­ten. Von Dos­to­jew­skis »Unter­grund­men­schen« (wie der namen­lo­se Erzäh­ler häu­fig genannt wur­de) wur­den Autoren wie Tho­mas Mann und Franz Kaf­ka, Jean-Paul Sart­re und Albert Camus, Saul Bel­low und Isaac Rosen­feld, Richard Wright und Ralph Elli­son beein­flusst. Im ers­ten Teil der Novel­le wen­det sich der »Unter­grund­mensch«, ein vier­zig­jäh­ri­ger ehe­ma­li­ger Beam­ter der Peters­bur­ger Büro­kra­tie, an ein ima­gi­nä­res Publi­kum, um über sich, sei­ne Krank­hei­ten und psy­chi­schen Defek­te sowie die Welt im All­ge­mei­nen zu räso­nie­ren. Nach­dem ihm eine klei­ne Erb­schaft zuge­fal­len war, ging der »bös­ar­ti­ge Büro­krat« und »Gro­bi­an« in den Ruhe­stand und rich­te­te sich in sei­nem Win­kel abseits der Gesell­schaft ein. In einer fik­ti­ven Öffent­lich­keit ent­blößt sich der »Unter­grund­mensch«, um über die Ver­derbt­heit und Unmo­ral zu schwa­dro­nie­ren und gegen den west­li­chen intel­lek­tu­el­len Zeit­geist, gegen wis­sen­schaft­li­che Ratio­na­li­tät und libe­ra­len Fort­schritts­glau­ben vom Leder zu zie­hen. Nach­dem er sich aus dem gesell­schaft­li­chen Leben zurück­ge­zo­gen hat, sucht er – wenn auch mit einer gro­ßen Por­ti­on Skep­sis – sei­ne Erret­tung im Schrei­ben. »Das Schrei­ben ist […] doch tat­säch­lich so etwas wie Arbeit«, kon­ze­diert er. »Man sagt doch, dass der Mensch durch Arbeit gut und ehr­lich wird. Das ist zumin­dest eine Chan­ce.«1

 

Fjodor Dostojewskij - Aufzeichnungen aus dem Untergrund (DTV 1985)
Fjo­dor Dos­to­jew­skij — Auf­zeich­nun­gen aus dem Unter­grund (DTV 1985)

Im zwei­ten Teil des Romans geht Dos­to­jew­skis Anti­held in die erzäh­le­ri­sche Offen­si­ve. Zunächst schil­dert er einen Kon­flikt mit alten Klas­sen­ka­me­ra­den, die ein Abschieds­es­sen für den Offi­zier Swerk­ow geben. Unge­la­den dringt er in die Zusam­men­kunft, um sich für die frü­he­re Gering­schät­zung und Her­ab­wür­di­gung zu revan­chie­ren, doch schei­tert er mit sei­nem Ver­such der Revan­che und wird vom Offi­zier nicht wie ein eben­bür­ti­ger Geg­ner, son­dern wie ein läs­ti­ges Insekt behan­delt. Her­ab­las­send ver­wei­gert ihm der Offi­zier Satis­fak­ti­on in einem Duell. Nach die­ser Ernied­ri­gung fin­det er sich in einem Bor­dell mit der Pro­sti­tu­ier­ten Lisa wie­der, die er in einem lan­gen Mono­log mit her­ri­schem Bewusst­sein nie­der­zu­rin­gen ver­sucht, denen schließ­lich sei er – trotz aller Ver­derbt­heit – »nie­man­des Knecht«2, wäh­rend sie von Beginn an die Exis­tenz einer Skla­vin füh­re. Doch sei­ne vor­geb­li­che Frei­heit nützt ihm nicht viel: In sei­nem radi­ka­len Hass auf die Welt ver­gräbt er sich in sei­nem selbst gewähl­ten Exil. »Soll die Welt unter­ge­hen oder soll ich nie wie­der Tee trin­ken?«, fragt er rhe­to­risch. »Ich mei­ne, die Welt mag unter­ge­hen, wenn ich bloß wei­ter­hin mei­nen Tee zu trin­ken bekom­me.«3 Am Ende ver­en­det der »Unter­grund­mensch« als Klein­bür­ger, der sich im Behag­li­chen ein­rich­tet und über den eige­nen klei­nen Win­kel nicht hin­aus schaut. Für einen spä­te­ren Nach­fol­ger, den Außen­sei­ter Antoine Roquen­tin in Jean-Paul Sar­tres Debüt­ro­man La Nau­sée (1938), bestand eine exis­ten­zi­el­le Wahl: »Aber man muss wäh­len: leben oder erzäh­len.« Dos­to­jew­skis »Unter­grund­mensch« ent­schei­det sich für das Letz­te­re: Auch nach­dem ihn alle ver­las­sen haben, hört er nicht auf: »Er konn­te sich nicht zurück­hal­ten und mach­te wei­ter.«4

 

Fjodor Dostojewski - Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Fjo­dor Dos­to­jew­skij — Auf­zeich­nun­gen aus dem Kel­ler­loch (Fischer 2006)

In der Ver­gan­gen­heit erschien Dos­to­jew­skis Kurz­ro­man in ver­schie­de­nen Über­set­zun­gen auf Deutsch. Eli­sa­beth Kaer­rick (1886–1966) über­trug ihn unter dem Pseud­onym E. K. Rah­sin für den Piper-Ver­lag unter dem Titel Auf­zeich­nun­gen aus dem Unter­grund. Swet­la­na Gei­er (1923–2010) wähl­te als Titel ihrer Über­set­zung Auf­zeich­nun­gen aus dem Kel­ler­loch. Die neue Über­set­zung Felix Phil­ipp Ingolds unter dem Titel Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits ver­folgt ähn­lich wie Kirs­ten Lodges eng­li­sche Neu­über­set­zung5  aus dem Jah­re 2014 eine genaue­re Abbil­dung von Dos­to­jew­kis Ein­satz der Umgangs­spra­che, indem sie anders als die frü­he­ren Über­set­zun­gen all­tags­sprach­li­che und vul­gä­re Begrif­fe wie »Gut­mensch«, »Geil­heit«, »Schlam­pe« oder »Stin­ke­fin­ger« ver­wen­det. Ande­rer­seits ver­steigt sich Ingold auch in ver­schro­be­ne Ter­mi­ni wie »retro­grad« (in den frü­he­ren Über­set­zun­gen hieß es klar »reak­tio­när« oder »rück­schritt­lich«) oder »Ver­schlau­fun­gen« (um die Kom­ple­xi­tät des »Unter­grund­men­schen« gewis­ser­ma­ßen »ein­zu­schwei­zern«).6

 

Fjodor Dostojewskij: Notes from the Underground (Broadview Press, 2014)
Fjo­dor Dos­to­jew­skij: Notes from the Under­ground (Broad­view Press, 2014)

Vor allem aber der Begriff »Abseits« im Titel bleibt frag­wür­dig. Den Ter­mi­nus »Unter­grund«, den selbst Lodge in ihrer Neu­über­set­zung bei­be­hält, lehnt Ingold auf­grund einer vor­geb­li­chen poli­ti­schen Kon­no­ta­ti­on ab, wäh­rend er ande­rer­seits stark ideo­lo­gisch besetz­te Begrif­fe wie »Gut­mensch« oder »Stin­ke­fin­ger« beden­ken­los in den Text ein­führt. »Wohl bezeich­net das Wort podpol‘e eine Ört­lich­keit, die ›unter‹ (pod) dem ›Boden‹ gele­gen ist, doch ist der Begriff im Rus­si­schen durch­weg poli­tisch kon­no­tiert […]«7, behaup­tet der Über­set­zer. Der Ter­mi­nus »Unter­grund« bezeich­ne laut Ingold stets einen poli­ti­schen oder zumin­dest ver­schwö­re­ri­schen Wider­stand. So ist die­se Neu­über­tra­gung nicht der Ver­such einer bes­se­ren Über­set­zung, son­dern ein ideo­lo­gi­sches Unter­fan­gen. »Der Erzäh­ler wird […] von fal­schen poli­ti­schen Kon­no­ta­tio­nen befreit«, exkla­miert der Über­set­zer in auto­ri­tä­rem Ges­tus, »er ist kein regime­feind­li­cher Ver­schwö­rer oder Unter­grund­kämp­fer, son­dern ein eben­so kon­se­quen­ter wie exzen­tri­scher Ein­zel­gän­ger […].«8

 

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Abseits
Fjo­dor Dos­to­jew­skij: Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits (Dör­le­mann 2016)

Damit wird der »Unter­grund­mensch« in einer feind­li­chen Über­nah­me der Volks­ge­mein­schaft der »Wut­bür­ger« ein­ver­leibt, in der kei­ne gesell­schaft­li­che Oppo­si­ti­on mehr exis­tiert. Gedan­ken an »mora­li­sche Unter­grund­lin­ge«9 (wie sie Isaac Rosen­feld for­mu­lier­te) oder Ideen sub­kul­tu­rel­ler Devia­tio­nen (wie sie Jack Kerouac in The Sub­ter­ra­ne­ans beschrieb oder Bob Dylan in Sub­ter­ra­ne­an Home­sick Blues besang) wer­den aus­ge­löscht. So wird die letz­te Zel­le des Wider­stän­di­gen im Unter­ir­di­schen, in dem sich ein Frei­raum jen­seits der tota­len Ver­ge­sell­schaf­tung erhält, von der Bild­flä­che getilgt. Unter dem Vor­wand, einen alten Text von fal­schen Vor­stel­lun­gen zu befrei­en, wird die alte Zeit des Grau­ens neu auf­be­rei­tet. Oder mit Max Hork­hei­mer gespro­chen: »Ban­kerott ist der Glau­be dar­an, daß man etwas hin­ter sich hat.«10

 

 

 

Biblio­gra­phi­sche Angaben:

Fjo­dor Dos­to­jew­ski.
Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits.
Aus dem Rus­si­schen neu über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Felix Phil­ipp Ingold.
Zürich: Dör­le­mann, 2016.
256 Sei­ten, 19,00 EUR.

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Eine kür­ze­re Fas­sung erschien in literaturkritik.de, Nr. 12 (Dezem­ber 2016)

© Jörg Auberg 2016 

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Cover Auf­zeich­nun­gen aus dem Unter­grund — Deut­scher Taschen­buch Ver­lag 1985 
Cover Auf­zeich­nun­gen aus dem Kel­ler­loch — Fischer 2006 
Cover Notes from the Under­ground — Broad­view Press 2014
Cover Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits — Dör­le­mann
2016
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Nachweise

  1. Fjo­dor Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, hg. und übers. Felix Phil­ipp Ingold (Zürich: Dör­le­mann, 2016), S. 71
  2. Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, S. 156–157
  3. Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, S. 206
  4. Jean-Paul Sart­re, Der Ekel, übers. Uli Aumül­ler (Rein­bek: Rowohlt, 1982), S. 50
  5. Fyo­dor Dostoevs­ky, Notes from the Under­ground, übers. Kirs­ten Lodge (Peter­bo­rough, ON: Broad­view Press, 2014
  6. Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, S. 37, 132, 189, 49, 46, 243
  7. Ingold, Nach­wort zu: Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, S. 252
  8. Ingold, Nach­wort zu: Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Abseits, S. 254
  9. Isaac Rosen­feld, »Jour­nal of a Gene­ra­ti­on« (1943), rpt. in: Isaac Rosen­feld, An Age of Enor­mi­ty: Life and Wri­ting in the For­ties and Fif­ties, hg. Theo­do­re Solo­tar­off (Cleve­land: World Publi­shing Com­pa­ny, 1962), S. 47
  10. Max Hork­hei­mer, »Auto­ri­tä­rer Staat« (1940/1942), in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Band 5, hg. Gun­ze­lin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 313

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