SPUREN EINES VERGESSENEN
In ihrem Buch Der argentinische Krösus lässt Jeanette Erazo Heufelder dem Gründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Felix Weil, Gerechtigkeit widerfahren
von Jörg Auberg
Als in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Anzahl von Monografien, Zeitschriftenartikeln, Dissertationen, Symposien und Seminaren zur Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung exorbitant anwuchs, fühlte sich der letzte Überlebende der Gründergeneration der »Frankfurter Schule«, Leo Löwenthal, von einem Unbehagen gegenüber dieser akademischen Nekromantik umweht. In seinen Augen breitete sich an den Universitäten eine Art »Frankfurter Schul-Industrie« aus, die keinen Beitrag zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft lieferte, sondern sich in der Interpretation einer vergangenen Geschichte erschöpfte. »Gelegentlich«, meinte der höfliche Grandseigneur der »Kritischen Theorie«, hätten diese Elaborate »den Charakter talmudischer Auseinandersetzungen über die zu verschiedenen Zeiten divergierende Bedeutung dieses oder jenes Theorems oder über die wechselseitigen Beziehungen dieses oder jenes Mitglieds der Gruppe in dieser oder jener Phase.«1
Obgleich auch in den Jahrzehnten nach Löwenthals Kritik die Bibliothek über die »Frankfurter Schule« weiter anwuchs, erhielt nicht jedes Mitglied der Gründungsgruppe jene Aufmerksamkeit, die es verdiente. In den einschlägigen Historiografien der »Frankfurter Schule« wird zwar Felix Weil als junger, wohlhabender Sympathisant erwähnt, der seinen Vater Hermann Weil, einen reichen deutsch-argentinischen Getreidehändler aus Steinsfurt, dazu überredete, mittels einer großzügigen Stiftung den Grundstein für das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu legen, doch wurde nie seine lebenslange Verbindung zur Gründergeneration der »Frankfurter Schule« genauer beleuchtet. Noch in der jüngsten Historiografie Grand Hotel Abyss des Journalisten Stuart Jeffries kommt Felix Weil über einen Cameo-Auftritt nicht hinaus und erscheint als klischeebehaftete Figur des radikalen Filius eines reichen konservativen Vaters. »In den frühen 1920er Jahren bat Felix seinen Vater um etwas Geld«, schreibt Jeffries. »Er hätte um alles bitten können – eine Yacht, ein Landgut, einen Porsche [sic!]. Doch stattdessen bat er Hermann, ein marxistisches, multidisziplinäres Universitätsinstitut zu finanzieren.«2
Diesem gängigen Bild des Mäzens der »Frankfurter Schule« setzt die Ethnologin und Dokumentarfilmerin Jeanette Erazo Heufelder ihre Biografie Der argentinische Krösus entgegen. Darin unterzieht sie einige Mythen, die Friedrich Pollock und andere Gründungsmitglieder des Instituts in den 1970er Jahren in die Welt setzten und von Historiografen späterer Generationen ungeprüft als historische Fakten übernommen wurden, einer grundlegenden faktischen Überprüfung. Felix Weil war weit mehr als der reiche Erbe, der »seinen Namen unter einen Scheck malen« konnte, als den ihn Pollock später abschätzig beschrieb.3 Zwar hat sich in der Geschichtsschreibung mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht Pollock für die Gründung des Instituts für Sozialforschung verantwortlich war (wie er in den frühen 1970er Jahre behauptete), sondern Felix Weil4, doch verlieren sich seine Spuren nach den Gründungsjahren in den Institutsbiografien. Der argentinische Krösus lässt Felix Weil Gerechtigkeit widerfahren. Heufelder nutzt nicht allein die umfangreiche Forschungsliteratur und zahlreiche Archivmaterialien für die Rekonstruktion ihrer Geschichte, sondern auch die Fragment gebliebenen, unveröffentlichten Lebenserinnerungen Felix Weils. Mit ihrem vielschichtigen Buch gelingt Heufelder ein kritisches Korrektiv zur bisherigen herrschenden Geschichtsschreibung der »Frankfurter Schule«, ohne in ein momentan modisches Denunziantentum abzurutschen, wie es etwa der Historiker Jörg Später in seiner Biografie Siegfried Kracauers vorführte, in der er diffamatorisch über die »Horkheimer-Bande« schwadronierte.5
Ihre Geschichte des Lebensweges Felix Weils erzählt Heufelder in drei Teilen. 1898 in Buenos Aires geboren und im »Reich aus Weizen« als »Kronprinz« seines Vaters aufgewachsen, kehrte er mit neun Jahren nach Frankfurt zurück und studierte nach dem Abitur Nationalökonomie in Tübingen und Frankfurt. Im Zuge der revolutionären Ereignisse 1918 begann er, mit der radikalen Linken und dem Marxismus zu sympathisieren. In den frühen 1920ern lernte er Max Horkheimer und Friedrich Pollock kennen, zu denen er im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft aufbaute.
1922 organisierte er ein Symposium unter dem Titel »Erste marxistische Arbeitswoche«, dessen Ziel es sein sollte, unterschiedliche marxistische Strömungen zu vereinen. Zu den Teilnehmern gehörten Georg Lukács, Karl Korsch, Karl August Wittfogel, Julian Gumperz, Richard Sorge Friedrich Pollock und andere. Der Erfolg dieses Symposiums bestärkte Weil in dem Vorhaben, ein Institut ins Leben zu rufen, dessen Ziel es war, auf marxistischer Basis gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen zu erforschen, ohne sich von den aktuellen Querelen zwischen Sozialisten und Kommunisten beeinflussen zu lassen. Der Grundstock für dieses Institut sollte aus dem Vermögen seines Vaters kommen. Obwohl Hermann Weil eher konservative Vorstellungen prägten, hielt er dennoch ein gesellschaftskritisches Institut für notwendig – gerade in einer Zeit, da der Antisemitismus in Deutschland triumphierte und Gewalt gegen Exponenten des deutschen Judentums ausübte. Mit der Aussicht auf künftige Stiftungsgelder wurde der konservativen Frankfurter Universität – wie Heufelder schreibt – ein marxistisches Institut wie ein Kuckucksei untergejubelt.6 Neben der Finanzierung des Instituts engagierte sich Weil auch in der Unterstützung des linken Malik-Verlages und von Theater-Inszenierungen des Regisseurs Erwin Piscator.
Als sich in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre eine Machtübernahme der Nationalsozialisten abzeichnete, wurde das Stiftungsvermögen des Instituts für Sozialforschung zunächst nach Holland transferiert, ehe es nach 1933 in die USA verlagert wurde. In den 1930er Jahren führten Familienstreitigkeiten Felix Weil in die Nervenzerrüttung und das Institut an den Rand des Bankrotts. Schließlich löste sich die Institutsgruppe zu Beginn des Zweiten Weltkrieges auf: Während Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und Franz Neumann im Office of Strategic Services (OSS) neue Betätigung fanden, zogen Horkheimer und sein Adlatus Pollock sowie Theodor W. Adorno an die kalifornische Westküste. Unterdessen hatte sich Weil aus Lateinamerika verabschiedet und erhielt 1946 seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
In der Nachkriegszeit gewann das von ihm gegründete Institut im restaurierten Deutschland an sozialem und wirtschaftlichem Renommee und reüssierte im institutionellen Geschäft der Bundesrepublik, während der einstige Krösus, der sein Vermögen nahezu vollständig dem Institut für Sozialforschung überantwortet hatte, auch auf Grund mehrerer gescheiterter Ehen und zunehmender Kosten für Krankenhausaufenthalte mehr und mehr verarmte. Am Ende stieg der Stifter, für den das Wohl des Instituts an oberster Stelle stand, in der sozialen Hierarchie ab. Im Gegensatz zu seinen einstigen Freunden Horkheimer und Pollock, die ihren Lebensabend im schweizerischen Tessin verbrachten und ihr Lebenswerk in sicheren Händen wussten, musste Weil um seine Rolle in der Historiografie der »Frankfurter Schule« kämpfen, ohne dass es ihm bis 1975, als ein Herzinfarkt seinem Leben ein Ende bereitete, gelang, seine Lebenserinnerungen zu vollenden. Nie hatten Horkheimer und Pollock seine wissenschaftlichen Ambitionen ernst genommen. Sie akzeptierten ihn als Geldgeber, jedoch nicht als Mitglied der »Gruppe«. Familiäre Intrigen in den 1930er Jahren, welche die Existenz des Instituts im Exil gefährdeten, schwächten nicht allein Weils Position als Mäzen, sondern Horkheimer und Pollock nutzten diese Gelegenheit auch dazu, Weil »unter ihre Fittiche« zu nehmen. Damit verlor er im Institut weiter an Ansehen.
Es ist das Verdienst Jeanette Erazo Heufelders, dass sie diese »unterseeische« Geschichte akribisch recherchierte und zu einer engagierten, lesenswerten Erzählung gestaltete, die einer lange vernachlässigten Figur der »Frankfurter Schule« zu einer längst überfälligen Aufmerksamkeit verhilft. So gelingt ihr ein kritischer Beitrag, der eine notwendige Richtigstellung zur Historiografie der »Frankfurter Schul-Industrie« darstellt.
Bibliografische Angaben:
Jeanette Erazo Heufelder.
Der argentinische Krösus:
Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule.
Berlin: Berenberg Verlag, 2017.
208 Seiten, 24,00 Euro.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Der argentinische Krösus | © Berenberg Verlag |
Foto Erste marxistische Arbeitswoche | Marxists Internet Archive: The Frankfurt School and »Critical Theory« |
© Jörg Auberg 2017
Nachweise
- Leo Löwenthal, »Adorno und seine Kritiker«, in: Löwenthal, Schriften, Band 4, hg Helmut Dubiel (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990), S. 65 ↩
- Stuart Jeffries, Grand Hotel Abyss: The Lives of the Frankfurt School (London: Verso, 2016), S. 75. Das erste Serienmodell des Porsche wurde 1948 produziert. ↩
- Jeanette Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus: Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule (Berlin: Berenberg, 2017), S. 173 ↩
- Cf. Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2009), S. 6. »Das Institut für Sozialforschung (…) war die Schöpfung Felix Weils (…).« – Andy Blunden, »The Frankfurt School and ›Critical Theory‹«, https://www.marxists.org/subject/frankfurt-school/ ↩
- Jörg Später, Siegfried Kracauer: Eine Biographie (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 376 ↩
- Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 52 ↩