Doppelte Enttäuschungen
Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger beschreiben das Jahr 1968 aus einer Frankfurter Perpektive
Von Jörg Auberg
Die Zeit ist die Komplizin der Entfremdung und beläßt als Trost nur die Erinnerung an die Illusion der Jugend.1
Erich Köhler
Am Ende von Gustave Flauberts Roman L’Éducation sentimentale stehen die Freunde Frédéric Moreau und Charles Deslauriers vor den Trümmern ihrer Hoffnungen und müssen sich ihr Scheitern eingestehen. Schließlich bleibt nur die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch: »Das ist doch das Beste, was wir erlebt haben!«2 lautet das Resümee. Dieses Ende, das auf die Zeit vor dem Beginn der Erzählung verweist, wurde von der zeitgenössischen Kritik als »zynisch« empfunden und Ausdruck von Flauberts »Bourgeoisphobie« gedeutet. Der Roman sei die künstlerische Antwort, argumentiert der Literaturhistoriker Peter Brooks, auf die »verlorenen Illusionen« der Revolution von 1848 und stelle die »Moralgeschichte« von Flauberts Generation dar. Für Eric J. Hobsbawm thematisierte Flaubert eine »doppelte Enttäuschung«: In der nachfolgenden kapitalistischen Restauration Europas verriet die bürgerliche Klasse nicht nur die Ideale ihrer Revolution, sondern zerstörte in der Errichtung des zweiten Kaiserreichs alle einmal gehegten Träume.3
Die Kuchenschlacht ums Café Laumer
120 Jahre nach den bürgerlichen Revolutionen in Europa parodierten die Frankfurter Studenten die Aufstände aus der alten Zeit in neuen Kostümen. Wie Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger in ihrer Lokalgeschichte Das Jahr der Revolte: Frankfurt 1968 ironisch beschreiben, suchten sich die studentischen Revolutionäre im September 1968 das ehrwürdige Café Laumer in der Bockenheimer Landstraße 67 als Ort der gesellschaftlichen Revolte aus: Wo Professor Adorno morgens frühstückte, sollte mit dem aus Berlin importierten Guerilla-Clown Fritz Teufel der »Gilb« vertrieben werden. Die »Kuchenschlacht ums Café Laumer«, zu der Teufel und einige lokale Mitstreiter mit »Mohrenköpfen« und Kuchenstücken angetreten waren, endete jedoch ähnlich kläglich wie der Bordellbesuch der beiden jugendlichen Freunde in Flauberts Roman: Es war »das schönste Getümmel im Gange«, und Teufel posierte für die Fotografen mit einem Tortenstück vor dem Café. Es war eines dieses »glänzenden Erinnerungsstücke«, das der Nachwelt überantwortet wurde.4
In ihrem Buch werfen Göpfert – ein langjähriger Lokalredakteur der Frankfurter Rundschau – und Messinger – der über viele Jahre für die hessischen Grünen tätig war – einen »Frankfurter« Blick auf die Ereignisse von 1968. Im Vordergrund steht dabei ein journalistisch-aufklärerischer Anspruch: Die Autoren möchten vor allem den Nachgeborenen einen Hauch von Mythos und Magie vermitteln, den »1968« als Chiffre einer weit zurückliegenden Erfahrung verströmt, und die gesellschaftskritische Revolte gegen den neuen rechten antidemokratischen Zeitgeist verteidigen, wie er von Akteuren des Neofaschismus und rechtskonservativen Politikern mit agitatorischen Mitteln von »1968« in Stellung gebracht wird. Nicht zufällig bezeichnet der rechte Publizist Ulf Poschardt den CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der mittels des reaktionären Kampfbegriffes »konservative Revolution« gegen die Liberalisierung der Gesellschaft der letzten vierzig Jahre agitiert, im Frontblatt der Springer-Presse Die Welt als den »Fritz Teufel unserer Zeit«.5
Ein lokaler Blick auf »1968«
Der gelungenste Teil des Buches ist die gründlich recherchierte und gut lesbare Chronik des Jahres 1968 in Frankfurt, in der die Autoren die studentischen Akteure mit kritischer Empathie durch die urbanen Kulissen der hessischen Metropole begleiten. Der Reiz des Buches liegt in der Verknüpfung von Studentenrevolte und Stadtpolitik, der Evokation der Revolte in Politik und Kultur und den Rückblicken von Zeitzeugen wie Micha Brumlik, Peter Härtling, Harry Oberländer, Rupert von Plottnitz, Arno Widmann und anderen. Zwar scheint immer wieder eine konventionelle Historiografie von »1968« auf, doch im lokalen Blick auf die Frankfurter Geschichte ringen die Autoren dem Thema »1968« neue Seiten ab, indem sie regionale Spezifika wie den Club Voltaire, die Frankfurter Verlagsszene jener Zeit oder die sich etablierende Gegenkultur hervorheben.
Zugleich tritt im Buch ein penetranter Frankfurter Lokalpatriotismus zutage, der jegliche Kritik an den »Frankfurter Verhältnissen« abschmettert. Stets schon wird Frankfurt als »politisches Labor« für die Bundesrepublik oder als »Stützpunkt der US-amerikanischen Hippie-Bewegung«6 verklärt. Negative Aspekte in der politischen Entwicklung Frankfurts werden von den Autoren kaum thematisiert.
Dies äußert sich vor allem in den Porträts von Hans-Jürgen Krahl, Daniel Cohn-Bendit und KD Wolff wie auch in der Beschreibung der politischen Entwicklung ehemaliger »68er« in den Jahren nach der Revolte. Weder können sich Göpfert und Messinger dazu aufraffen, einen kritischen Blick auf die Frankfurter Lokalgrößen zu werfen, noch hinterfragen sie die vorherrschende Geschichtsschreibung der Frankfurter Historiografen Wolfgang Kraushaar und Gerd Koenen. In der Porträtierung des SDS-Leaders Hans-Jürgen Krahl, den die Autoren als »Robespierre aus Bockenheim«7 bezeichnen, lassen sie dessen Vergangenheit aus dem rechten ländlichen Milieu in der niedersächsischen Steppe außen vor und bringen auch dessen Fremdheit in Frankfurt – abgesehen von seinem eher untypischen Musikgeschmack und seiner realen oder gemutmaßten Homosexualität – kaum zur Sprache. Stattdessen rekurrieren sie auf die gängige Historiografie des ehemaligen langjährigen KBW-Mitglieds Gerd Koenen (den der linke Publizist Hermann L. Gremliza als »Plechanow von Bockenheim«8 verhöhnte) und adeln ihn als Erklärer der »linken Frankfurter Geschichte«.
Die Legende der Frankfurter Boy Gang
Auch in den Porträts Daniel Cohn-Bendits und KD Wolffs bleibt Kritik eine im Hintergrund verschwimmende Marginalie. Ausgerechnet der ehemalige SDS-Vorsitzende Wolff kann sich als »zorniger alter Mann« präsentieren, der alles besser weiß, jedoch nichts zu ändern vermag. Getilgt sind die Spuren von Antizionismus und Antiamerikanismus, die Wolff mit seinem »Verlag Roter Stern« zu einem explosiven Gemisch für den »speziellen Terrorismus made in Frankfurt«9 vermengte, oder seine Propaganda für einen phantomhaften Proletkult. In ihrem Buch schreiben Göpfert und Messinger die gängige Frankfurter Geschichte der »linken« Boy Gang um Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Tom Koenigs und ihren buddies im kulturellen Milieu wie Johnny Klinke und Matthias Beltz fort, während die bad boys wie die ehemaligen Roter-Stern-Mitarbeiter Johannes Weinrich und Winfried Böse, die nicht den Absprung in die Institutionen von Politik und Kultur schafften und im Terror oder Gefängnis endeten, außen vor bleiben.
KD Wolff tritt in der Rolle des Geläuterten auf, der trotz allem seine scheinbare Unversöhnbarkeit mit den herrschenden Verhältnissen zur Schau trägt, »der geachtete Frankfurter Bildungsbürger, der allerlei Jugendsünden beging, heute aber dank Hölderlin wieder in den Schoß der bürgerlichen Familie zurückgekehrt ist«10, wie Gunnar Hink in seiner kritischen Geschichte der bundesrepublikanischen Linken der 1970er Jahre schreibt. Auch der Neuaufmarsch der Rechten bewege ihn nicht, beobachten Göpfert und Messinger, neue »Kampfbroschüren« zu machen (eine Neuauflage der Texte vom Kim Il Sung, die er in den 1970er Jahren unter das Volk zu bringen suchte, wären vermutlich eher kontraproduktiv). Stattdessen rühmt er sich damit, »gute Bücher« (ein Kriterium dafür liefert er nicht) zu machen. An der »schönsten Hölderlin-Ausgabe der Welt« (die sein Roter-Stern-Nachfolger Stroemfeld herausgibt) schließlich sollen sich »die Leute« berauschen.
Dummheit des Gescheitseins
Bereits der von den SDS-Praxisfetischisten gescholtene Theodor W. Adorno hatte kurz vor seinem Tod im August 1969 festgestellt, dass »in den Anti-Autoritären Autorität fortwest« und die »Unterdrückungstendenz« sich gegen »Gedanken als solchen« richte.11 Die »Anti-Autoritären« von einst haben die kleinen Buchläden verlassen und sitzen heute in den Aufsichtsräten von Industrieunternehmen. Am Ende triumphiert die »Dummheit des Gescheitseins« (wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt); im Tausch bekommt jeder das Seine, wobei am Ende das soziale Unrecht perpetuiert wird. Für Flaubert war das wirkliche Verbrechen der Geschichte, schreibt Peter Brooks, der »Sieg der Idiotie über die Intelligenz«.12 Den »68ern« ist nicht das Aufbegehren gegen die verkrusteten Verhältnisse in Deutschland, sondern der Rücksturz in die Stupidität des Alten anzukreiden. Daher wartet der aufklärerische und emanzipatorische Ansatz der Revolte immer noch auf ihre gesellschaftliche Realisierung.
Bibliografische Angaben:
Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger.
Das Jahr der Revolte:
Frankfurt 1968.
Frankfurt: Schöffling & Co., 2017.
304 Seiten, 42 Abbildungen, 22,70 EUR.
ISBN: 978–3‑89561–665‑5
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Das Jahr der Revolte | © Schöffling & Co. |
Foto Hans-Jürgen Krahl | Bibliotheca Augustana |
Cover Erziehung und Klassenkampf |
Verlag Roter Stern, 1974 — Archiv des Autors |
© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- Erich Köhler, »Zum Verständnis des Werks«, in: Gustave Flaubert, Lehrjahre des Gefühls, übers. Paul Wiegler (Frankfurt/Main: Insel, 1977), S. 509 ↩
- Gustave Flaubert, Die Erziehung der Gefühle, übers. Cornelia Hasting (Frankfurt/Main: Fischer, 2010), S. 513 ↩
- Peter Brooks, Flaubert in the Ruins of Paris: The Story of a Friendship, a Novel, and a Terrible Year (New York: Basic Books, 2017), S. 14, 42; Eric J. Hobsbawm, The Age of Capital: 1848–1875 (London: Abacus, 1997), S. 348 ↩
- Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger, Das Jahr der Revolte: Frankfurt 1968 (Frankfurt/Main: Schöffling, 2017), S. 117–118 ↩
- Ulf Poschardt, »Erst die Kritik macht Dobrindt wirklich gut«, Die Welt, 5. Januar 2018, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article172208493/Buergerliche-Wende-Erst-die-Kritik-macht-Alexander-Dobrindt-wirklich-gut.html ↩
- Göpfert und Messinger, Das Jahr der Revolte, S. 17 ↩
- Göpfert und Messinger, Das Jahr der Revolte, S. 153 ↩
- Hermann L. Gremliza, »Gremlizas Express«, Konkret, Nr. 10 (Oktober 2003), S. 66 ↩
- Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen: Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre (Berlin: Rotbuch, 2012), S. 249 ↩
- Hinck, Wir waren wie Maschinen, S. 248 ↩
- Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 774, 799 ↩
- Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 240; Brooks, Flaubert in the Ruins of Paris, S. 16 ↩