Aus dem Dunkel der Grossstadt
Elizabeth Hardwicks Essays und Kritiken liegen in einer Edition ihres Schülers Darryl Pinckney vor
Von Jörg Auberg
»Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist.«
Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«1
In den einschlägigen Historiografien jener New Yorker Intellektuellengruppe, für die sich der Namen »New York Intellectuals« eingebürgt hat, kommt die Autorin zumeist nur als marginale Nebendarstellerin vor, wenn sie denn überhaupt Erwähnung findet.2 Bezeichnenderweise wählte Alexander Bloom für seine männlich dominierte Geschichte der New Yorker Intellektuellen das Bild der »verlorenen Söhne«, und dort tauchten Akteurinnen wie Mary McCarthy, Hannah Arendt, Elizabeth Hardwick und Susan Sontag letztlich auch nur unter ferner liefen auf.3
»Dark Ladies of New York«
In der Geschichte triumphierten die männlichen New York Intellektuellen als Agenten der Moderne, die den US-amerikanischen Boden für die europäische Avantgarde aus der »Zwischenzeit« der beiden Weltkriege bereiteten und die Grundlagen für einen »Cold War Modernism« nach 1945 legten. Für europäische Autoren wie Serge Guilbaut bildeten die New Yorker Intellektuellen ein Racket, die die Idee der modernen Kunst stahlen und eine »Ent-Marxisierung der Intelligenz« betrieben.4 Im Subtext des Triumphes der New Yorker Intellektuellen, die in den 1970er Jahren das Terrain für den Neokonservatismus in der US-amerikanischen Politik ebneten, blieben die weiblichen New Yorker Intellektuellen weitgehend auf der Strecke. Wie Walter Benjamin unterstrich, gehörten die am Boden Liegenden zur Beute des Triumphzuges.5 Symptomatisch für den männlichen Blick auf die Geschichte der New Yorker Intellektuellen war Norman Podhoretz’ Kategorisierung von weiblichen Intellektuellen in seiner Autobiographie Making It (1967) als »Dark Ladies of New York«, die ihre männlichen Gegenstücke mit Witz, beißendem Spott und Angriffslustigkeit quälten und ihre Autorität in der Kulturindustrie in Frage stellten.6
Zu den »Dark Ladies« zählte auch Elizabeth Hardwick (1916–2007), deren Essays nun in einer Auswahl ihres Schülers Darryl Pinckney vorliegen. In der Typologie der New Yorker Intellektuellen, wie sie Irving Howe in seinem grundlegenden Essay »The New York Intellectuals«7 beschrieb, war sie eher untypisch für das Milieu. 1916 in Lexington (Kentucky) geboren, absolvierte sie ein Studium an der University of Kentucky, ehe sie in den frühen 1940er Jahren nach New York aufbrach. Dort schlug sie sich nach der Publikation ihres Debütromans The Ghostly Lover (1945) als freie Autorin durch, ehe sie die Aufmerksamkeit des Herausgebers der Partisan Review, Philip Rahv, auf sich zog und zu einem festen Bestandteil des New Yorker Intellektuellenmilieus wurde. Auf einer Party im Greenwich Village lernte sie den Dichter Robert Lowell kennen, den sie 1949 heirate, doch wurde die Ehe von Lowells manischer Depression überschattet.8
Niedergang der Literaturkritik
In Pinckneys Auswahlband finden sich Hardwicks Essays, die in den Jahren zwischen 1953 und 2003 in Zeitschriften wie Partisan Review, New York Review of Books, The New Republic, Harper’s Magazine, Daedalus und Threepenny Review sowie als Vorworte zu Buchausgaben erschienen. Zentrales Element der Sammlung ist Hardwicks Essay 1959 erschienener Essay »The Decline of Book Reviewing«, in dem sie den Niedergang des Rezensionsgewerbes in der US-amerikanischen Kulturindustrie beklagte. In der gegenwärtigen Publizistik sei Literaturkritik zur gefälligen Dienstleistung ohne Engagement, Charakter oder Exzentrizität verkommen, bemängelte sie. Die zur unterwerfenden Anpassung fähigen und willigen Rezensenten seien für Kleinstadtgazetten das passende Personal, urteilte die aus dem amerikanischen Hinterland stammende Intellektuelle, doch für das Metropolengeschäft einer weitläufigen Literaturkritik seien andere Qualitäten gefragt.9 Mit dieser Kulturkritik, die eher auf der persönlichen denn auf der gesellschaftlichen Ebene agierte, ging sie mit der damals gängigen Schelte des »Midbrow Cults« (der Buchgemeinschaftskultur der Mittelschichten-Schmocks) konform, wie sie Dwight Macdonald in den 1950er Jahren kultiviert hatte. Kritik wurde nicht an den kapitalistischen Verhältnissen der dominanten Publizistik verortet, sondern an individuellen Defiziten der abhängig beschäftigten Journalisten.10
Ihre Vorstellung einer »leidenschaftlichen« Literaturkritik konnte sie mit der New York Review of Books realisieren, die während eines New Yorker Druckerstreiks im Jahre 1963 gegründet wurde. In den ersten Jahren der Zeitschrift wurden die Themen nicht allein literarisch, sondern vor allem politisch bestimmt: von der Bürgerrechtsbewegung über die Gewalt in den urbanen Zentren bis zu den Attentaten auf Martin Luther King und Robert Kennedy. In Texten über Selma, Watts und Chicago erweist sich die New Yorker Intellektuelle aus dem Hinterland jedoch als politische Dilettantin, die sich allein auf die Klischees der 1930er Jahre versteht. »Die Konzentration auf die Industriearbeit, weiße Kleinpächter, die Sowjetunion und die Nazis ließ den Neger als bloße Fußnote zurück«11, behauptet sie in einem Text über die Kämpfe in Selma (Alabama) mit Blick auf das intellektuelle Leben in New York während der dreißiger Jahre. Hier offenbart sich die verengte Perspektive eines »bornierten Landtiers«, das verspätet zu den »bornierten Stadttieren« stieß, ohne das Engagement der kommunistischen Linken in den 1930er Jahren für die Belange der Schwarzen wahrzunehmen.
Auch in anderen Texten – etwa in filmischen Stilisierung radikaler Politik in Robert Kramers Film Ice im Anschluss an die Ereignisse von 1968 – fehlt ihr das politische Verständnis für eine angemessene Kommentierung.12 Unterschwellig folgte Hardwick dem neokonservativen Programm der New Yorker Intellektuellen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, blieb aber an der Oberfläche dem scheinbar radikalen Zeitgeist der New York Review of Books verhaftet. Mit den »Young Radicals« in Politik und Kultur verband sie wenig, doch die Zeitschrift setzte auf die junge Kundschaft, indem sie 1967 ihre Titelseite mit der Abbildung des Aufbaus eines Molotow-Cocktails schmückte.
»Street-fighting Woman«
W ie viele New Yorker Intellektuelle blieb Hardwick nicht nur ihrem politischen Spektrum begrenzt, sondern auch ihre literarische Spannweite beschränkte sich auf die frühe oder »klassische« Moderne angelsächsischer Prägung, die Autorinnen und Autoren wie Edith Wharton, Virginia Woolf, Katherine Ann Porter, Henry James, Herman Melville, Ernest Hemingway und William Faulkner einschloss, während spätere Autoren der Beat Generation oder Postmoderne (William Burroughs, Donald Barthelme, Thomas Pynchon oder Kathy Acker) nur en passant gestreift werden oder gar keine Erwähnung finden. In seiner Charakterisierung der New Yorker Intellektuellen hatte Irving Howe hervorgehoben, dass ihre besten Texte durch eine zugespitzte Form der Polemik, der intellektuellen Pyrotechnik gekennzeichnet seien.13 Bei Hardwick funkelt dieses Feuerwerk in einem glänzenden Verriss von Carlos Bakers Hemingway-Biografie, in dem sie dem Autor alle typischen New Yorker intellektuellen Knallfrösche gegen die Sterilität des Akademismus um die Ohren haut und sein Talent in Frage stellt.14
Ihre antiakademische Idiosynkrasie lebten die New Yorker Intellektuellen in Form des Essays aus. »Elizabeth Hardwick schrieb während des Goldenen Zeitalters des amerikanischen literarischen Essays«, tönt es vom Cover des Bandes. Doch der Form des Essays wohnt eine Dialektik inne, die nicht immer zum Vorteil des Gegenstandes ist. »Losgelassen von der Disziplin akademischer Unfreiheit wird die geistige Freiheit selber unfrei«, schrieb Theodor W. Adorno in seinem Essay über den »Essay als Form«, »willfahrt dem gesellschaftlich präformierten Bedürfnis der Kundenschaft.«15 In ihren Essays und Vorworten zu Herman Melville versuchte sich Hardwick mittels der kurzen effektvollen und effektheischenden Form von »akademischen« Abhandlungen abzusetzen, ganz im Stile einer »street-fighting woman« New Yorker Provenienz. Sie verwahrte sich gegen Versuche der Melville-Scholastik, die den Autor zum Objekt »wilder Überinterpretationen«16 machte, doch in ihrer Fetischisierung der kurzen Form lief sie auch ständig Gefahr, ihre Gegenstände einer »versierten Oberflächlichkeit«17 zu opfern. In manchen ihrer Texte überlagerte der Hang zur Pointiertheit, zu Esprit und Stil die angemessene Tiefe des Gedankengangs. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn man ihre Einleitung zu Moby-Dick der des Melville-Biografen Andrew Delbanco gegenüberstellt.18 Auch ihre Einlassungen zu Melvilles früher Wallstreet-Figur Bartleby sind eher konventionell und werfen kein neues Licht auf die Figur und ihren Kontext.
Falsche Heroisierung
In der jüngeren Vergangenheit wurden die New Yorker Intellektuellen oft als Gegenbild zu den institutionalisierten Akademikern in einer kommerzialisierten Wissensbürokratie rückblickend idealisiert. In einer »melancholischen Retronormativität« (wie ein Begriff des Soziologen Oliver Nachtwey lautet) galten sie als Inbegriff der »öffentlichen Intellektuellen«, die den politischen Diskurs prägten.19 Der vorliegende Band mit Texten von Elizabeth Hardwick aus dem scheinbaren »Goldenen Zeitalter des amerikanischen literarischen Essays« enthüllt die Stärken und Schwächen einer Form des Schreibens unter den gesellschaftlichen und ökonomischen Prämissen einer Epoche, die vergangen, doch nicht zu verklären ist. Auch sie muss einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Leider ist der Herausgeber Pinckney dazu nicht in der Lage, da er kaum einen kritischen Zugang zu den Texten und der Biografie seiner einstigen Lehrerin findet und sich stattdessen in einer falschen Heroisierung ergeht. So muss sich der zeitgenössische Leser selbst eine Kritik erschließen.
Bibliografische Angaben:
Elizabeth Hardwick.
The Collected Essays of Elizabeth Hardwick.
Ausgewählt und eingeführt von Darryl Pinckney.
New York: New York Review Books, 2017.
640 Seiten, US-$ 19,95.
ISBN: 9781681371542.
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Cover The Collected Essays of Elizabeth Hardwick — © New York Review Books, 2017
Cover Partisan Review — © Howard Gotlieb Archival Research Center, Boston University
Cover New York Review of Books — © NYRB Archives
Cover Elizabeth Hardwick: Herman Melville — ©Viking Penguin, 2000
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© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 697 ↩
- In Alan Walds Gruppenbiografie The New York Intellectuals: The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s (Chapel Hill: University of Carolina Press, 1987) findet sie keine Erwähnung. Terry Cooney (The Rise of the New York Intellectuals: Partisan Review and Its Circle, 1934–1945 (Madison: University of Wisconsin Press, 1987) und Hugh Wilford (The New York Intellectuals: From Vanguard to Institution (Manchester: Manchester University Press, 1995) erwähnen sie in ihren Studien jeweils einmal. ↩
- Alexander Bloom, Prodigal Sons: The New York Intellectuals and Their World (New York: Oxford University Press, 1986) ↩
- Serge Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat: Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, übers. Ulla Biesenkamp (1983; Dresden: Verlag der Kunst, 1997) ↩
- Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 696 ↩
- Harvey Teres, Renewing the Left: Politics, Imagination, and the New York Intellectuals (New York: Oxford University Press, 1996), S. 173–203 ↩
- Irving Howe, »The New York Intellectuals« (1969), in: Howe, Selected Writings 1950–1990 (San Diego: Harcourt Brace Jovanovich, 1990), S. 240–280 ↩
- Biografische Details entstammen Mark Krupnicks Nachruf auf Elizabeth Hardwick: Mark Krupnick, »Elizabeth Hardwick«, The Guadian, 6. Dezember 2007, https://www.theguardian.com/news/2007/dec/06/guardianobituaries.usa ↩
- Elizabeth Hardwick, »The Decline of Book Reviewing«, Harper’s Magazine (1959), in: The Collected Essays of Elizabeth Hardwick, hg. Darryl Pinckney (New York: New York Review Books, 2017), S. 59–68 ↩
- Dwight Macdonald, »Masscult & Midcult«, zuerst erschienen 1960 in Partisan Review, rpt. Macdonald, Against the American Grain (New York: Random House, 1962), S. 3–74; siehe auch Jennifer Szalai, »Mac the Knife: On Dwight Macdonald«, The Nation, 22. November 2011, https://www.thenation.com/article/mac-knife-dwight-macdonald/. Es ist bezeichnend für die US-amerikanische Diskussion, dass die Autorin Macdonald vorwirft, er habe in seiner Kulturkritik eher die Bazooka verwendet, während die Pistole ausgereicht hätte. So findet auch die Kritik der Kulturkritik im Schatten der »Gunfighter Nation« statt. Siehe Richard Slotkin, Gunfighter Nation: The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America (Norman: University of Oklahoma Press, 1998) ↩
- Hardwick, »Selma (Alabama): The Charms of Goodness«, in: The Collected Essays of Elizabeth Hardwick, S. 148 ↩
- Zur Kritik des Films cf. James Roy Macbean, Film and Revolution (Bloomington: Indiana University Press, 1975), S. 196–208 ↩
- Howe, »The New York Intellectuals«, S. 262 ↩
- Hardwick, »Dead Souls: Ernest Hemingway«, in: The Collected Essays of Elizabeth Hardwick, S. 190–194 ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 13 ↩
- Elizabeth Hardwick, Herman Melville (New York: Viking Penguin, 2000), S. 157 ↩
- Adorno, Noten zur Literatur, S. 12 ↩
- Elizabeth Hardwick, »Introduction« zu Herman Melville, Moby-Dick or, The Whale (New York: The Modern Library, 2000), S. vii-xii; Andrew Delbanco, »Introduction« zu Herman Melville, Moby-Dick or, The Whale (New York: Penguin, 2003), S. xi-xxx ↩
- Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 37. Die klassische Verteidigung der »öffentlichen Intellektuellen« betrieb Russell Jacoby, der im Niedergang des urbanen Raums einen zentralen Faktor für die »Akademisierung« der Intelligenz sah: cf. Russell Jacoby, The Last Intellectuals: American Culture in the Age of Academe (New York: Basic Books, 1987) ↩