Fatale Kontinuitäten
Über Axel Schildts Studie der »Medien-Intellektuellen« in der Bonner Republik
von Jörg Auberg
»Der Intellektuelle ist ein paradoxes Wesen.«
Pierre Bourdieu 1
Im Sommer 1974 erstand Paul Auster nach seiner Rückkehr aus Frankreich in die USA von einem Freund eine gebrauchte Olympia-Reiseschreibmaschine, da seine vorherige Hermes-Maschine die Reise nicht überstanden hatte. Die Olympia war in Westdeutschland hergestellt worden, einem verschwundenen Land (wie Auster unterstrich). Die Bundesrepublik ist untergegangen, doch das Relikt aus einer fernen Zeit überlebte das Verschwinden. Die Alternative wäre eine elektrische Schreibmaschine gewesen, erinnerte sich Auster, doch er mochte den Lärm solcher Apparate nicht: das permanente Summen des Motors, das Brummen und Rasseln der losen Teile, den zappelnden Puls des Wechselstroms, der unter den Fingern vibrierte. »Ich zog die Stille meiner Olympia vor«.2
Für den Historiker Axel Schildt (1951–2019) war dagegen die elektrische Schreibmaschine »das technische Instrument des Strukturwandels in den 1960er Jahren«, wie er in seiner groß angelegten, aber unvollendet gebliebenen Studie Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik schrieb: »Der Übergang zur elektrischen Schreibmaschine in den 1960er Jahren beschleunigte und erleichterte […] den Herstellungsprozess von Manuskripten enorm.« In seiner Einschätzung berief sich Schildt auf einen Brief des technikbegeisterten Hans Magnus Enzensberger, der zur Anschaffung von elektrischen Schreibmaschinen aus Gründen der Arbeitserleichterung aufrief. 3 Ob jedoch der menschliche »Denkapparat« sich dem Tempo und der Effizienz angleicht und »bessere« Gedanken in reduzierten »Denktakten« unter dem Diktat der Technifizierung produziert, hatte schon Theodor W. Adorno 1945 in Abrede gestellt. »Bleistift und Radiergummi nützen dem Gedanken mehr als ein Stab von Assistenten«4, resümierte er seine amerikanische Erfahrung. Ihn ließ der Gedanke erschaudern, dass der Geist – in den Prozessen der Technifizierung und »Professionalisierung« – an vulgäre Geschäftsinteressen verschachert wurde.
Weder Adorno noch Auster repräsentieren mit ihren Vorbehalten gegenüber der Technifizierung der intellektuellen Praxis die »Medien-Intellektuellen«, die Schildt ins Zentrum seiner Studie rückt. In Abgrenzung zu Wissenschaftlern, politischen Funktionären, Künstlern und Schriftstellern, Organisatoren und Managern oder Journalisten definierte Schildt die »Medien-Intellektuellen« als einen Berufsstand, der Redaktionen besetzte, Zeitschriften gründete, Bildungsprogramme der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender gestaltete oder Buchreihen von Verlagen wie Rowohlts deutsche Enzyklopädie (rde) oder Edition Suhrkamp (es) redigierten. Ursprünglich als Intellektuellen-Geschichte der bundesrepublikanischen Medien von 1945 bis 1989 konzipiert, konnte Schildt sein langjähriges Buchprojekt aufgrund einer Krebserkrankung nicht vollenden: Das Kapitel »Die Intellektuellen in der Spätphase der alten Bundesrepublik«, das die 1970er und 1980er Jahre umfassen sollte, kam über das Exposé-Stadium nicht hinaus, da die Krankheit seine Zeit wegfraß. Die Veröffentlichung des Buches verdankt sich den beiden Herausgeber:innen, Schildts langjähriger Lebenspartnerin Gabriele Kandzora und dem Historiker Detlef Siegfried, die das Manuskript für die Veröffentlichung bearbeiteten, als auch dem Wallstein-Verlag, der trotz der sperrigen, nicht unbedingt »marktgängigen« Materie dieses Buch der kritischen Öffentlichkeit zugänglich machte.
Auf Basis vieler Archivmaterialien wie Korrespondenzen, Tagebücher, Reden, Interviews und Autobiografien sowie Publikationen in Tageszeitungen und Zeitschriften analysiert Schild die intellektuelle Praxis in den 1950er und 1960er Jahren, rekonstruiert minutiös intellektuelle Diskussionen und Verschränkungen in den Medienapparaten, legt zuweilen befremdliche Durchlässigkeiten zwischen »Linksintellektuellen« wie Alfred Andersch und rechtsnationalen und faschistischen Angestellten des bundesrepublikanischen »Geistesbetriebes« (personifiziert durch Friedrich Sieburg, Hans Egon Holthusen, Ernst Jünger und Armin Mohler) offen, die nahtlos von der NS-Publizistik in den demokratischen Markt überwechselten. Auch in Verlagen wie Rowohlt, die schon vor 1933 ihr Geschäft für »Nationalrevolutionäre« geöffnet hatten, setzte sich der »deutsche Geist« unter dem Deckmantel der Kultur fort und blieb Barbarei. »Der Gedanke«, notierte Adorno im Herbst 1944, »daß nach diesem Krieg das Leben ›normal‹ weitergehen oder gar die Kultur ›wiederaufgebaut‹ werden könnte – als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation –, ist idiotisch. Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch?«5 Aber trotz allem ging es weiter: Während sich in »Trizonesien« neue intellektuelle Zentren jenseits der alten Reichshauptstadt Berlin bildeten und die wiederaufgebauten Medienapparate in den Bereichen Print und Radio sowohl »wendefähige« NS-Publizisten als auch linke Autoren aus der präfaschistischen Zeit wie Kurt Hiller oder Axel Eggebrecht integrierten, versuchte man in der sowjetischen Besatzungszone in einer Retromanie die alte Weltbühne zu beleben, als hätte es den Zivilisationsbruch nie gegeben.
Dank einer detaillierten Beschreibung werden Widersprüche und fatale Kontinuitäten deutlich, etwa im unterschwelligen Antisemitismus der Gruppe 47 oder in den »Kollaborationen« von Linksintellektuellen wie den Produzent:innen und Autor:innen von Zeitschriften wie Frankfurter Hefte, Merkur oder Texte und Zeichen, die im Mythos des bundesrepublikanischen Wiederaufbaus als Leuchttürme der demokratischen Rekonstruktion gelten, mit Repräsentanten der rechtsnationalen oder völkischen Intellektuellenzirkel, während Schildt mit seiner akribischen Archivrecherche belegt, dass es vielen »Medien-Intellektuellen« weniger um die Etablierung von Freiheit und Demokratie denn um die Besetzung und Verteidigung von Macht- und Kommandopositionen ging. Zwar spricht Schildt auch von »intellektueller Gruppenbildung« oder von »Lobbyisten in eigener Sache«6, doch diskutiert er an keiner Stelle, inwieweit die Produktions- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Medienapparaten zu Racket-Formationen führten, in denen die Zugehörigkeit zu konkurrierenden Rackets einen höheren Stellenwert besaß als das Engagement für Demokratie und Egalität. Damit wurde der »Gegensatz zwischen innen und außen« (wie Max Horkheimer das Prinzip der Herrschaft beschrieb) historisch fortgeführt. »Bisher hat das Racket allen gesellschaftlichen Erscheinungen seinen Stempel aufgeprägt«, notierte Horkheimer in den 1940er Jahren, »es hat geherrscht als Racket des Klerus, des Hofs, der Besitzenden, der Rasse, der Männer, der Erwachsenen, der Familie, der Polizei, des Verbrechens, und innerhalb dieser Medien selbst in Einzelrackets gegen den Rest der Sphäre.«7
Da Schildt »Mediengeschichte« primär als »Intellektuellengeschichte« begriff, in der kontinuierlich Ideen und Positionen ausgetauscht, diskutiert, hinterfragt und kritisiert wurden, blieben politische, ökonomische und ökologische Komponenten einer kritischen Historiographie außen vor. Während er sich eher mit dem Gegensatz »Solitär« und »Netzwerker« beschäftigte oder (in der Nachfolge Pierre Bourdieus) das »medienintellektuelle Feld« erforschte, verzichtete er sowohl auf eine medien- und technologiekritische Auseinandersetzung als auch eine Analyse der politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Intellektuelle nicht als Individuen, sondern als »technische Intelligenz« oder »neue Klasse« (wie der Soziologe Alvin W. Gouldner sie klassifizierte) agierten.8 Symptomatisch ist schließlich auch, dass er die Ereignisse um das Jahr 1968 im Schlussteil seiner Studie auf eine »intellectual history« reduzieren möchte und mit einer kritischen Diskussion des Buches Die Transformation der Demokratie von Johannes Agnoli und Peter Brückner abbricht.
Mit dieser Verengung auf eine »Intellektuellengeschichte« als Maß aller Dinge depolitisiert Schildt historische Prozesse und blendet nicht-intellektuelle Kulturen und Erfahrungen aus (wie sie beispielsweise in der Undergroundszene oder in urbanen Subkulturen jenseits des politischen Spektrums zum Ausdruck kamen, das Schildt als relevant für die Bundesrepublik erachtete).9 Doch trotz dieser Einwände zeigt Schildts »Mikro-Geschichte« der »Medien-Intellektuellen« in der Bonner Republik eine »Struktur des historischen Universums« auf (wie Siegfried Kracauer schrieb10), die in ihrer Detailliertheit und Vielfalt vermutlich lange einzigartig sein wird.
© Jörg Auberg 2021
Bibliografische Angaben:
Axel Schildt.
Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried.
Göttingen: Wallstein Verlag, 2020.
896 Seiten, 46 Euro.
ISBN: 978–3‑8353–3774‑9.
Bildquellen (Copyrights) |
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Bild Olympia SM9 | © Wikimedia Commons |
Cover Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik |
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Collage William S. Burroughs |
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Foto William S. Burroughs |
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Nachweise
- Pierre Bourdieu, »Der Korporativismus des Universellen: Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt«, in: Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, hg. Irene Dölling (Hamburg: VSA Verlag, 1991), S. 41 ↩
- Paul Auster, »The Story of my Typewriter«, in: Auster, Collected Prose (New York: Picador, 2005), S. 291 ↩
- Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 11 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 169 ↩
- Adorno, Minima Moralia, S. 65 ↩
- Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, S. 204, 466 ↩
- Max Horkheimer, »Die Rackets und der Geist«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1985), S. 291 ↩
- Alvin W. Gouldner, The Dialectic of Ideology and Technology: The Origins, Grammar and Future of Ideology (London: Macmillan, 1976), S. 138–166; Alvin W. Gouldner, Against Fragmentation: The Origins of Marxism and the Sociology of Intellectuals (New York: Oxford University Press, 1985), S. 39–41; Jörg Auberg, »Desperado Blues: Marginalien über Intellektuelle«, Schwarzer Faden, Nr. 31 (1989):41–46 ↩
- Siehe beispielsweise Holger Jenrich, Anarchistische Presse in Deutschland 1945–1985 (Grafenau: Trotzdem-Verlag, 1988), und Roman Danyluk, Blues der Städte: Die Bewegung 2. Juni – eine sozialrevolutionäre Geschichte (Bodenburg: Edition AV, 2019) ↩
- Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. Karsten Witte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973), S. 125–126 ↩