Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf

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Der biblio­phi­le Maulwurf

Uwe Son­nen­berg erzählt die Geschich­te des lin­ken Buch­han­dels in den 1970er Jahren

 

Von Jörg Auberg

Zu Pfings­ten 1983 pil­ger­te eine Schar lin­ker Buch­händ­le­rin­nen und Buch­händ­ler aus ver­schie­de­nen west­deut­schen Städ­ten über die Schwei­zer Gren­ze. Auf einem Wochen­end­se­mi­nar in einem selbst­ver­wal­te­ten Bil­dungs­zen­trum in Grau­bün­den woll­te sie sich mit der »Kri­se im lin­ken Buch­han­del« aus­ein­an­der­set­zen. Ver­blüfft muss­te sie zur Kennt­nis neh­men, dass für Theo Pin­kus (1909–1991), den legen­dä­ren Anti­quar der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung, die Epo­che des orga­ni­sier­ten lin­ken Buch­han­dels in West­deutsch­land vor­über sei. Nun gel­te es, »die mitt­ler­wei­le in rau­en Men­gen zum Ver­ram­schen frei­ge­ge­be­ne gesell­schafts­kri­ti­sche Lite­ra­tur« für die Nach­welt zu bewah­ren, pos­tu­lier­te Pin­kus.1  Das »Pin­kus-Pro­jekt« hät­te auf sei­ne Wei­se der »Aus­lö­schung der Geschich­te« vor­ge­beugt, vor der Leo Löwen­thal als Resul­tat einer Bücher­ver­nich­tung (die nicht immer eine Form der Ver­bren­nung anneh­men muss) gewarnt hat­te.2

Rosa Luxmburg: Schriften zur Theorie der Spontaneität (1970) in der von Ernesto Grassi herausgegebenen Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft
Rosa Luxm­burg: Schrif­ten zur Theo­rie der Spon­ta­nei­tät (1970) in der von Ernes­to Gras­si her­aus­ge­ge­be­nen Rei­he Rowohlts Klas­si­ker der Lite­ra­tur und Wissenschaft

Mit die­ser Anek­do­te beginnt der His­to­ri­ker Uwe Son­nen­berg sei­ne umfang­rei­che Geschich­te des lin­ken Buch­han­dels in der Bun­des­re­pu­blik der 1970er Jah­re unter dem Titel Von Marx zum Maul­wurf. Auch wenn Son­nen­berg in sei­ner Stu­die vie­le bekann­ten Geschich­ten wie die His­to­ri­en der Ver­la­ge Wagen­bach und März oder die Ent­wick­lung des Kurs­bu­ches noch ein­mal erzählt und in der Beschrei­bung der Vor­ge­schich­te der »Gegen­pu­bli­ka­ti­on« in den 1960er Jah­ren etwas weit­schwei­fig daher­kommt, lie­fert er den­noch einen ori­gi­nä­ren und über­aus lesens­wer­ten Bei­trag zur »Kul­tur­ge­schich­te der alten Bun­des­re­pu­blik« (wie es in der Ver­lags­wer­bung heißt). Neben den gän­gi­gen Geschich­ten zu den Kon­fron­ta­tio­nen auf den Frank­fur­ter Buch­mes­sen zwi­schen den Jah­ren 1967 und 1970 sowie in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Ver­le­gern und Autoren respek­ti­ve Lek­to­ren um Mit­be­stim­mung und Demo­kra­ti­sie­rung des Ver­lags­ge­wer­bes reka­pi­tu­liert Son­nen­berg auch die Ent­wick­lung von »Bewe­gungs­ver­la­gen« wie Neue Kri­tik, Tri­kont oder Ober­baum­ver­lag. Dane­ben hat er auch die Buch­pro­duk­ti­on von eta­blier­ten Ver­la­gen wie Suhr­kamp, Rowohlt, Luch­ter­hand und die Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt (EVA) im Auge, die sich an den lin­ken Zeit­geist häng­ten und zuneh­mend Bücher zur lin­ken Dis­kus­si­on publizierten. 

Dar­über hin­aus spiel­te vor allem der Wagen­bach-Ver­lag als Mitt­ler zwi­schen revol­tie­ren­den Lite­ra­tur­pro­du­zen­ten und eta­blier­ten Bran­chen­struk­tu­ren eine beson­de­re Rol­le. Anders als Sieg­fried Unseld oder Hein­rich Maria Ledig-Rowohlt war Klaus Wagen­bach bereit, auf die Rol­le des auto­ri­tär-patri­ar­cha­len Ver­le­gers zu ver­zich­ten, wobei zukünf­tig das Ver­lags­ge­schäft von einem Kol­lek­tiv bestimmt wer­den soll­te. Doch gegen sei­ne völ­li­ge Ent­mach­tung, wie sie Lek­to­ren und Autoren unter ihrem Wort­füh­rer F. C. Deli­us for­der­ten, setz­te sich der Ver­lags­grün­der zur Wehr. Die Fol­ge war die Abspal­tung und die Grün­dung des Rot­buch-Ver­la­ges, die sich mit tie­fen Ver­let­zun­gen voll­zog. Noch in sei­nen Memoi­ren mit dem pro­gram­ma­ti­schen Titel Die Frei­heit des Ver­le­gers (2010) bezeich­ne­te Wagen­bach Deli­us als »Mies­ni­ckel« und sein Ver­hal­ten als »Pfaf­fen­tum in Höchst­form«.3

 

Peter Brückner: Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse (Wagenbach, 1976)
Peter Brück­ner: Ulri­ke Marie Mein­hof und die deut­schen Ver­hält­nis­se (Wagen­bach 1976)

Im Zuge des Zer­falls­pro­zes­ses der Neu­en Lin­ken zu Beginn der 1970er Jah­re (den Son­nen­berg im sozio­lo­gi­schen News­peak als »Aus­dif­fe­ren­zie­rung« dekla­riert) bil­de­te sich 1970 der Ver­band des lin­ken Buch­han­dels (VLB). Mit der Bün­de­lung von Buch­la­den­kol­lek­ti­ven und der Kata­lo­gi­sie­rung ver­füg­ba­rer gesell­schafts­kri­ti­scher Lite­ra­tur such­te er eine Regu­lie­rung des lin­ken Publi­ka­ti­ons­we­sens außer­halb des bür­ger­li­chen Buch­han­dels zu unter­neh­men. Anfangs publi­zier­ten Raub­dru­cker aus der lin­ken Sze­ne nicht ver­füg­ba­re Klas­si­ker (das legen­dä­re Bei­spiel ist die Dia­lek­tik der Auf­klä­rung von Max Hork­hei­mer und Theo­dor W. Ador­no, die 1947 im Ams­ter­da­mer Exil­ver­lag Quer­ido erschien und danach als »Fla­schen­post« in der Geschich­te ver­schwand). Im Lau­fe der Zeit ver­lor die Raub­dru­cke­rei jedoch ihren »sub­ver­si­ven« Cha­rak­ter und war am Ende nur noch Geschäf­te­ma­che­rei, wobei Bil­lig­ex­em­pla­re exis­tie­ren­der Bücher auf den Markt gewor­fen und die Autoren um ihre Hono­ra­re und Tan­tie­men geprellt wurden.

Roter Stern Werbung
Pro­spekt des Ver­la­ges Roter Stern (Archiv des Autors)

Eine gemein­sa­me Linie im lin­ken Buch­han­del gab es nicht, da sich auch dort die »Aus­dif­fe­ren­zie­rung« fort­setz­te. Orga­ni­sa­tio­nen wie der Kom­mu­nis­ti­sche Bund West­deutsch­lands (KBW) und die Deut­sche Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei (DKP) zogen eige­ne Buch­han­dels­ket­ten auf, in denen aus­schließ­lich Publi­ka­tio­nen ihres poli­ti­schen Spek­trums ange­bo­ten wur­den. Ver­la­ge wie Roter Stern (der spä­ter – nach der Insol­venz im wei­te­ren Sin­ne – als Stroem­feld fort­exis­tier­te) impor­tier­te Schrif­ten Kim Il-Sungs aus Nord­ko­rea und trug zur Bil­dung eines pseu­do­re­vo­lu­tio­nä­ren Par­al­lel­uni­ver­sums bei, in dem es kaum Kon­takt mit der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen All­tags­rea­li­tät gab. Selbst die »undog­ma­ti­sche« Lin­ke ver­lor sich nach der anfäng­li­chen Frei­le­gung ver­ges­se­ner Tex­te in biblio­ma­ni­schen Kos­tüm­fes­ten, in denen revo­lu­tio­nä­re Erhe­bun­gen und Milieus des 19. Jahr­hun­derts und der 1920er Jah­re beschwo­ren wur­den, ohne einen intel­lek­tu­el­len Kon­takt zur Gegen­wart herzustellen.

 

In sei­ner viel­schich­ti­gen Rekon­struk­ti­on der Geschich­te, die auf zahl­rei­che Archiv­ma­te­ria­li­en, Peri­odi­ka, Inter­views, Audio- und Video­bei­trä­ge zurück­greift, gelingt Son­nen­berg eine dif­fe­ren­zier­te His­to­rio­gra­fie: Das Schei­tern des lin­ken Pro­jekts im Buch­han­del war nicht allein der staat­li­chen Repres­si­on im Zuge der Ter­ro­ris­mus-Bekämp­fung und der Rekon­sti­tu­ti­on des »star­ken Staa­tes« unter sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Ägi­de zuzu­schrei­ben, son­dern auch inter­nen Regle­men­tie­rungs­ver­su­chen, die Rei­hen geschlos­sen zu hal­ten. Sym­pto­ma­tisch war dies bei dem von Peter Brück­ner ver­fass­ten Wagen­bach-Band Ulri­ke Marie Mein­hof und die deut­schen Ver­hält­nis­se (1976), auf des­sen Publi­ka­ti­on »Sym­pa­thi­san­ten« wie Klaus Crois­sant beträcht­li­chen, gera­de­zu zen­so­ri­schen Ein­fluss zu neh­men versuchten.

 

Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf (Wallstein 2016)
Uwe Son­nen­berg: Von Marx zum Maul­wurf (Wall­stein 2016)

Die Stär­ke von Son­nen­bergs Stu­die liegt zwei­fel­los in der Aus­leuch­tung bis­lang kaum durch­drun­ge­ner Archiv­gän­ge der lin­ken Bücher­schäch­te. Mit dem Enga­ge­ment eines uner­müd­li­chen Maul­wurfs hat er zur his­to­ri­schen »Boden­auf­lo­cke­rung« bei­getra­gen und an ein Kapi­tel einer weit­ge­hend ver­schol­le­nen Geschich­te erin­nert. Wo in den 1970er Jah­ren und selbst noch ein Jahr­zehnt danach Buch­lä­den mas­siert vor­han­den waren (wie etwa am Savi­gny­platz in Ber­lin-Char­lot­ten­burg), befin­den sich heu­te Mode­bou­ti­quen, Schuh­sa­lons und Piz­ze­ri­en. Doch nicht alles haben die Flu­ten der Zeit weg­ge­spült. Relik­te wie der Buch­la­den Rote Stra­ße in Göt­tin­gen oder die Buch­hand­lung Roter Stern in Mar­burg haben trotz aller Wid­rig­kei­ten die Zeit­läuf­te überlebt.

 

»Polizeistaatsbesuch«: Szene vor dem Buchladen Rote Straße in Göttingen (© Buchladen Rote Straße, Göttingen)
»Poli­zei­staats­be­such«: Sze­ne vor dem Buch­la­den Rote Stra­ße in Göt­tin­gen (© Buch­la­den Rote Stra­ße, Göttingen) 

Für eine wei­te­re Erkun­dung des weit­ge­hend ver­schüt­te­ten Baus bedarf es (wie bei Kaf­ka) einer »lüs­ter­nen Schnau­ze«4, die über die Gän­ge ins Inne­re vor­stie­ße. Son­nen­berg bricht bei der blo­ßen Beschrei­bung ab, ohne die zuwei­len patho­lo­gi­schen Aus­for­mun­gen der deut­schen lin­ken Biblio­ma­nie zu hin­ter­fra­gen. In gewis­ser Wei­se erin­nert das Pro­jekt des lin­ken Buch­han­dels an die biblio­gra­fi­sche Ima­gi­na­ti­on der Roman­tik, wie sie Andrew Piper in sei­nem Buch Dre­a­ming in Books (2009) ana­ly­sier­te.5 In einem bei­na­he hyper­plas­ti­schen Roman­ti­zis­mus wur­de das Buch als Fetisch über alles gestellt, auch den Men­schen selbst, wobei die ver­schie­de­nen Pro­zes­se – Ver­net­zung, Kopie­ren, Ver­ar­bei­ten, Tei­len und Adap­tie­ren – letzt­lich nicht zu einer Befrei­ung vom »geis­ti­gen Bann« der Unfrei­heit und Auto­ri­tät führ­te (wie Ador­no 1949 schrieb) führ­te.6 Anstatt den Kopf für die Uto­pie einer bes­se­ren Gesell­schaft frei zu bekom­men, mani­fes­tier­te sich die »Star­re des Geis­tes« in der Fort­füh­rung auto­ri­tä­rer und ver­här­te­ter Pro­zes­se. So war die Geschich­te des lin­ken Buch­han­dels nicht nur eine Epi­so­de des Auf­be­geh­rens gegen die bür­ger­li­che Gesell­schaft, son­dern trug auch eine fata­le deut­sche Tra­di­ti­on in sich.

 

 

Biblio­gra­phi­sche Anga­ben:

Uwe Son­nen­berg. Von Marx zum Maul­wurf: Lin­ker Buch­han­del in West­deutsch­land in den 1970er Jah­ren. Göt­tin­gen: Wall­stein Ver­lag, 2016. 568 Sei­ten, 37 Abbil­dun­gen, 44,00 EUR.

 

 

Eine kür­ze­re Fas­sung erschien in literaturkritik.de, Nr. 7 (Juli 2016)

Ich dan­ke dem Buch­la­den Rote Stra­ße in Göt­tin­gen für die
Geneh­mi­gung  der Ver­wen­dung eines Fotos aus der Geschich­te des Buchladens.

© Jörg Auberg 2016

Nachweise

  1. Uwe Son­nen­berg, Von Marx zum Maul­wurf: Lin­ker Buch­han­del in West­deutsch­land in den 1970er Jah­ren (Göt­tin­gen: Wall­stein Ver­lag, 2016), S. 9
  2. Leo Löwen­thal, »Calib­ans Erbe«, in: Löwen­thal, Schrif­ten, Band 4, hg. Hel­mut Dubiel (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1990), S. 140
  3. Klaus Wagen­bach, Die Frei­heit des Ver­le­gers: Erin­ne­run­gen, Fest­re­den, Sei­ten­hie­be (Ber­lin: Wagen­bach, 2010), S. 245
  4. Franz Kaf­ka, Die Erzäh­lun­gen, hg. Roger Her­mes (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1999), S. 465
  5. Andrew Piper, Dre­a­ming in Books: The Making of the Biblio­gra­phic Ima­gi­na­ti­on in the Roman­tic Age (Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press, 2009)
  6. Theo­dor W. Ador­no, »Die auf­er­stan­de­ne Kul­tur« (1949), in: Ador­no, Gesam­mel­te Schrif­ten, Band 20, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 457

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