Das Scheitern des neuen Menschen
Andrej Platonows Romanfragment Die glückliche Moskwa liegt in einer bearbeiteten Übersetzung vor
Von Jörg Auberg
Als Andrej Platonow 1951 im Alter von 51 Jahren verarmt und vergessen in Moskau starb, schien er – ähnlich wie Sigismund Krzyanowski und andere Autoren, die im »Sowjetland« zur »Stalin-Zeit« unter die Räder kamen – ein gescheiterter Künstler zu sein, dem nur wenige Veröffentlichungen zu Lebzeiten vergönnt waren. Zwar hatte Maxim Gorki Platonows Talent anerkannt, was ihm jedoch nicht gegen die Widerstände der Bürokratie im bolschewistischen oder stalinistischen Literaturbetrieb zu Anerkennung verhalf. Erst im Zuge der Perestroika wurde Platonows außerordentliche literarische Bedeutung Schicht für Schicht offenkundig. Für viele Schriftsteller wurde er zum »writer’s writer«. Joseph Brodsky stellte ihn in eine Reihe mit den großen Autoren der Moderne wie James Joyce, Robert Musil und Franz Kafka. Tatjana Tolstaja bezeichnete ihn als den »vielleicht brillantesten russischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts«. Für seinen englischen Übersetzer Robert Chandler ist Platonow gar der größte russische Prosaautor. Ungeachtet dieser überschwänglichen Lobeshymnen ist Platonow – wie Andy McSmith in seiner Studie über Literatur im Stalinismus Fear and the Muse Kept Watch schrieb – »einer der großen russischen Autoren seiner Zeit«, auch wenn seine Bedeutung erst lange Zeit nach dem Ende des Stalinismus und seiner staatlichen Funktionsweise zum Vorschein kommen konnte. 1
Zu seinen Lebzeiten stand Platonow stets unter Verdacht. Seine Erzählung »Zum Nutz und Frommen: Eine Armeleutechronik« in der Zeitschrift Die rote Neuheit 1931 echauffierte den lesenden Tyrannen Stalin derart, dass er die veröffentlichte Erzählung mit Randbemerkungen wie »Dummkopf! Possenreißer! Trottel! Kanaille! Schuft! Idiot! Konterrevolutionäres Pack! Widerling!« kommentierte. Damit war Platonows Karriere im sowjetischen Literaturbetrieb beendet. Doch trotz allem blieb Platonow dem Projekt des sowjetischen »Aufbaus« weiterhin verpflichtet. Symptomatisch für diese »revolutionäre Rekonstruktion« der sozialistischen Metropole Moskau war der Bau der Untergrundbahn, die den Triumph der sozialistischen Überlegenheit über die kapitalistischen Gegebenheiten demonstrieren sollte. Diese »Aufbauleistung« rühmten auch Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, welche die »Inbesitznahme der Metro« durch das sowjetische Proletariat rühmten, obwohl Stalin sich als Potentat des Moskauer Untergrunds inszenierte.2
Platonows Romanfragment Die glückliche Moskwa (Šastlivaja Moskva) rekurriert auf die literarische Aktion »Das proletarische Moskau wartet auf seinen Künstler« des Jahres 1933 und beschreibt Elemente des sozialistischen Aufbaus wie die Errichtung des »Medizinischen Instituts«, den Metrobau, Fallschirmsprünge und genossenschaftliche Lebens- und Wohnverhältnisse in der »neuen Urbanität« der sozialistischen Metropole Moskau.3 Indem Platonow jedoch die realen Moskauer Verhältnisse durch die Augen einer Revolutionärin namens Moskwa Tschetnowa, die sich dem Anspruch, »Tochter der Revolution« zu sein, verweigert und stattdessen selbstbewusst als »Waise« der Revolution begreift, parodiert er die offizielle Sichtweise. Moskwa bewegt sich von einem Liebhaber zum nächsten, ohne zu einer völligen Bindung fähig zu sein. »Liebe kann unmöglich Kommunismus sein«, resümiert der Erzähler an einer Stelle, und führt seine Figuren des sozialistischen Aufbaus – einen Ingenieur und einen Arzt – als Gescheiterte vor. Der eine sagt von sich, er sei »ein Nichts von einem Menschen«, und der andere fühlt sich von der Geschichte verstümmelt: »Öde ist im Herzen«. Trotz aller Rekonstruktion der menschlichen Verhältnisse im »Sowjetland« ist die urbane Landschaft von »Schwermut und Unerträglichkeit« durchsetzt, »der lächelnde, bescheidende Stalin bewachte auf Plätzen und Straßen alle offenen Wege der frischen, unbekannten Welt, das Leben erstreckte sich in der Ferne, aus der es keine Rückkehr gab.«4
Trotz der stalinistischen Lobhudelei wurde Platonows Roman als »dekadent« gebrandmarkt und konnte erst 1999 veröffentlicht werden – als die kommunistische Zukunft sich in eine dunkle Vergangenheit verabschiedet hatte. »Platonow persifliert das Streben seiner Zeit«, schreibt die Übersetzerin Lola Debüser, »sich von allen Werten der Vergangenheit loszusagen, auf dem Weg zu einem ausgedachten, oktroyierten Idol des ›neuen Menschen‹, das zu einer weiteren gefährlichen Kategorie der Zerrissenheiten der Menschen in ›neue‹ und ›alte‹ führte.«5 Am Ende waren alle zerstört.
Bibliografische Angaben:
Andrej Platonow.
Die glückliche Moskwa.
Übersetzt von Renate Reschke und Lola Debüser.
Mit einem Nachwort von Lola Debüser und einem Kommentar von Natalja Kornienko.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019.
221 Seiten, 24 Euro.
ISBN 978–3‑518–42896‑2.
Bildquellen (Copyrights) |
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Foto Andrej Platonow | Quelle: The Guardian |
Cover Die glückliche Moskwa | © Suhrkamp Verlag |
Zuerst in kürzerer Form erschienen in literaturkritik.de, Februar 2020
© Jörg Auberg 2020
Nachweise
- Orlando Figes, »A Great Russian Writer in the Communist Cauldron«, New York Review of Books, 57:7 (29. April 2010), https://www.nybooks.com/articles/2010/04/29/a‑great-russian-writer-in-the-communist-cauldron/ ; Tatyana Tolstoya, »Out of this World«, New York Review of Books, 47:6 (13. April 2000), https://www.nybooks.com/articles/2000/04/13/out-of-this-world/; Daniel Kalder, »Andrei Platonov: Russia’s greatest 20th-century prose stylist?«, Guardian, 18. Februar 2010, https://www.theguardian.com/books/2010/feb/18/andrei-platonov-robert-chandler; Andy McSmith, Fear and the Muse Kept Watch: The Russian Masters – from Akhmatova and Pasternak to Shostakovich and Eisenstein – Under Stalin (New York: The New Press, 2015), S. 220 ↩
- Konstantin Kaminskij, »Störungssignale im sozrealistischen Normensystem: Der Fall Andrej Platonov«, in: Konstruierte Normalitäten — normale Abweichungen, hg. Gesine Drews-Sylla (Wiesbaden: VS, 2010), S. 70 ↩
- Hans Günther, Andrej Platonow: Leben – Werk – Wirkung (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 93–95 ↩
- Andrej Platonow, Die glückliche Moskwa, übers.Renate Reschke und Lola Debüser (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019), S. 9, 63, 82, 93, 97 ↩
- Lola Debüser, »Ein Liebesroman mit der Epoche«, in: Platonow, Die glückliche Moskwa, S. 210 ↩