Die Bibliothek zwischen Kultur und Barbarei
Peter Burschels Geschichte der Herzog August Bibliothek
In seiner Sozialgeschichte des Wissens beschrieb Peter Burke Gottfried Wilhelm Leibniz als die Inkarnation eines Universalgelehrten, der den Philosophen mit dem Bibliothekar in sich vereinte. Als Bibliothekar der 1572 gegründeten Herzog August Bibliothek (HAB) insistierte er in einem Brief aus dem Jahre 1679, dass eine Bibliothek ein Äquivalent zu einer Enzyklopädie sein sollte. Ursprünglich hatte Herzog Julius zu Braunschweig und Lüneburg die Bibliothek begründet und den lutherischen Kantor Leonhart Schröter als »Bibliothecarius« berufen. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die bescheidene herzogliche Büchersammlung, die den Grundstock der Bibliothek bildete, zu einer Kollektion größeren Ausmaßes an. Der Erwerb von Büchern, schreibt der seit 2016 als »Administrator« der Bibliothek fungierende Peter Burschel in einer kurzen, reichhaltig illustrierten Abhandlung über die Geschichte der HAB, diente dazu, die feudale Herrschaft sowohl politisch, ökonomisch und juristisch als auch ethisch und theologisch zu festigen. Im historischen Kontext der Reformation wurden Büchersammlungen als »kulturelle Ressourcen identifiziert, taxiert, funktionalisiert und transformiert«.
Julius’ Nachfolger Herzog August verbrachte dreißig Jahre seiner Herrschaft mit seiner Bibliothek »lesend, schreibend und sammelnd«, während er als »Landesvater« (im Alltagsgeschäft) die »Hexenverfolgung« tatkräftig unterstützte. Zwischen 1610 und 1615 wurden im Rahmen dieser Exterminationen mutmaßlich siebzig Frauen und Männer öffentlich verbrannt. Die Herzog August Bibliothek gilt mit ihrer einzigartigen Sammlung von Büchern der europäischen Wissensgeschichte als »achtes Weltwunder«, doch zugleich ist dieses eindrucksvolle historische Monument der Buchkultur ein in Stein gehauenes – mit Walter Benjamin gesprochen – Dokument der Barbarei, die mit Beutezügen über den europäischen Kontinent ihre Magazine aufwändig bestückte. Im Jahre seines Todes 1666 hinterließ Herzog August hinterließ er der Nachwelt 30.000 Bände, ein »Bücherhaus«, das an die Dimensionen der Vatikanischen Bibliothek heranreichte.
In seinem Insel-Band über die Herzog August Bibliothek erzählt Peter Burschel die »Geschichte dieser einzigartigen Sammlung als Wissensgeschichte in Büchern« und illustriert sie mit vielen Abbildungen aus der bibliophilen Historie der Bibliothek. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich im zur Schau gestellten Fetisch Buch eine historisch unkritische »Kulturseligkeit« artikuliert (wie Lothar Baier in den 1980er Jahren anmerkte). In der HAB gerät das Buch zum Fetischobjekt, das von den »Dienern« entweder »konvertitenhaftes Mitmachertum« oder Verbindlichkeit »in Gestalt des Korpsgeistes« einfordert (wie Baier kritisierte). Im fetischisierten Objekt erstarrt das Buch zum stummen Exerzierreglement, das die Grundlage für das militärische Zeremoniell in den prolongierten Kriegszeiten Europas bildet.
© Jörg Auberg 2022 (2022–05-15)