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Moleskin Blues

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  • Paul Auster: Bloodbath NationPaul Aus­ter: Blood­bath Nati­on12. Mai 2024Paul Aus­ters Ver­mächt­nis Ein nahe­zu klas­si­scher Essay über Waf­fen­ge­walt von Jörg Auberg Im Juli 1945, als der Zwei­te Welt­krieg noch im vol­len Gan­ge war, kon­sta­tier­te der ita­lie­ni­sche Emi­grant Nic­coló Tuc­ci in der New Yor­ker pazi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics: »Das Pro­blem ist nicht, wie man den Feind los­wird, son­dern eher, wie man den letz­ten Sie­ger los­wird. Denn was ist der Sie­ger etwas ande­res als einer, der gelernt hat, dass Gewalt funk­tio­niert? Wer wird ihm eine Lek­ti­on ertei­len?«1 In sei­nem schma­len Essay­band Blood­bath Nati­on, das nach sei­nem Tod sein poli­ti­sches Ver­mächt­nis dar­stellt, hat Paul Aus­ter die his­to­ri­sche »Gewalt­pro­ble­ma­tik« der USA mit ihrem Waf­fen­fe­tisch the­ma­ti­siert, die sich spek­ta­ku­lär in Amok­läu­fen und Mas­sen­mor­den in kür­ze­ren Inter­val­len immer wie­der mani­fes­tiert und deren men­schen­lee­ren Orte der Foto­graf Spen­cer Ost­ran­der in kar­gen Schwarz­weiß­bil­dern fest­hielt. Aus­ter hat­te nicht den Anspruch, in sei­nem knap­pen Essay Richard Slot­kins volu­mi­nö­se Tri­lo­gie über die Gewalt und Waf­fen­kul­tur der US-ame­ri­­ka­­ni­­schen »fron­tier« vom 16. Jahr­hun­dert bis in die Rea­­gan-Ära des 20. Jahr­hun­derts in geraff­ter Form zu erzäh­len.2 Er wähl­te einen per­sön­li­chen Ansatz, indem er von sei­ner Kind­heit berich­tet, in der die Idea­li­sie­rung des waf­fen­tra­gen­den Cow­boys, der mit Waf­fen­ge­walt die ihn umge­ben­den Ver­hält­nis­se regel­te, in die Vor­stel­lungs­welt eines Jun­gen ein­wan­der­te – und zwar in ers­ter Linie mit­tels der Popu­lär­kul­tur in den 1950er Jah­ren über die Nach­mit­tags­pro­gram­me des Fern­se­hens, in denen Dar­stel­ler wie Al »Fuz­zy« St. John oder Al »Lash« LaRue die »infan­ti­le Traum­welt der Fern­seh­cow­boys«3 ins Wohn­zim­mer und in die kind­li­che Ima­gi­na­ti­on tru­gen. Neben die­ser all­ge­mei­nen kul­tu­rel­len Prä­gung kam bei Aus­ter noch die eige­ne Fami­li­en­ge­schich­te ins Spiel: Sei­ne Groß­mutter Anna Aus­ter erschoss 1919 ihren Mann Har­ry Aus­ter wegen Geld­strei­tig­kei­ten, nach­dem ihre Bezie­hung in die Brü­che gegan­gen war. Aus Rache ver­such­te ihr Schwa­ger, sie zu erschie­ßen, was jedoch miss­lang.4 Wegen zeit­wei­li­ger Unzu­rech­nungs­fä­hig­keit wur­de die Groß­mutter im Gerichts­ver­fah­ren frei­ge­spro­chen. Das fami­liä­re Trau­ma zer­stör­te auch das Leben von Paul Aus­ters Vater, der »ver­einsamt und gebro­chen« durch sein Leben schlich. In den Augen sei­nes Soh­nes war es »die Waf­fe, die das Leben mei­nes Vater runiert hat«.5 Wie Chris­ti­ne Bold im Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment unter­streicht, erzähl­te Aus­ter mehr­fach in sei­nen auto­bio­gra­fi­schen Tex­ten – von The Inven­ti­on of Soli­tu­de (1982) bis zu Win­ter Jour­nal (2012). In Blood­bath Nati­on ist es nicht ledig­lich eine fami­liä­re Epi­so­de, son­dern eine tie­fer­ge­hen­de Erfah­rung mit einer durch Waf­fen­ge­walt gepräg­te und trau­ma­ti­sier­te Fami­li­en­ge­schich­te.6 Dar­über hin­aus rich­te­te Aus­ter sei­nen Blick von der indi­vi­du­el­len Erfah­rung auf das gesell­schaft­li­che Gan­ze: »War­um ist Ame­ri­ka so anders«, frag­te er sich, »– und was macht es zum gewalt­tä­tigs­ten Land der west­li­chen Welt?«7 In nahe­zu klas­si­scher Manier ver­fuhr der immer wie­der post­mo­der­ner Trick­ser bezeich­ne­te Autor in sei­nem Essay im kon­tem­pla­ti­ven Ver­we­ben von indi­vi­du­el­ler und his­to­ri­scher Erfah­rung. »Die Bezie­hung auf Erfah­rung – und ihr ver­leiht der Essay soviel Sub­stanz wie die her­kömm­li­che Theo­rie den blo­ßen Kate­go­rien – ist die auf die gan­ze Geschich­te«, kon­sta­tier­te Theo­dor W. Ador­no; »die bloß indi­vi­du­el­le Erfah­rung, mit wel­cher das Bewußt­sein als mit dem ihr nächs­ten anhebt, ist sel­ber ver­mit­telt durch die­über­grei­fen­de der his­to­ri­schen Mensch­heit; daß statt­des­sen die­se mit­tel­bar und das je Eige­ne das Unmit­tel­ba­re sei, blo­ße Selbst­täu­schung der indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaft und Ideo­lo­gie.«8 Nach Aus­ters Anga­ben sind 393 Mil­lio­nen Schuss­waf­fen im Besitz von US-Bürger*innen, und in einer Kul­tur der Gewalt, die mit­tels Aus­rot­tung der ansäs­si­gen und noma­den­haf­ten indi­ge­nen Völ­ker, Skla­ve­rei und Ras­sis­mus, Kapi­ta­lis­mus und Impe­ria­lis­mus die Ter­ri­to­ri­en und die Roh­stof­fe (inklu­si­ve der mensch­li­chen Indi­vi­du­en und Mas­sen) sich ein­ver­leib­te. Tat­säch­lich ging es im alten Wes­ten, wie Aus­ter beton­te, »wesent­lich zivi­li­sier­ter und fried­li­cher und siche­rer« zu als im aktu­el­len Ame­ri­ka, da in den Fron­­tier-Ter­ri­­to­ri­en nicht schieß­wü­ti­ge Revol­ver­hel­den ihr Unwe­sen trie­ben, son­dern in den Gemein­den aus Selbst­schutz kla­re Waf­fen­kon­trol­len durch­ge­führt wur­den.9 Gegen­wär­tig ist Waf­fen­be­sitz nicht ein Recht, son­dern nahe­zu eine Bür­ger­pflicht.10 die Waf­fen­ge­walt der staat­li­chen Auto­ri­tä­ten im Kampf gegen Min­der­hei­ten rief eine Gegen­ge­walt her­vor, mit der Aktivist*innen von Grup­pie­run­gen wie Red Power, den Young Lords oder den Black Pan­thers in den 1970er Jah­ren in medi­en­ge­rech­ter Sym­bo­lik mit Waf­fen in der Öffent­lich­keit auf­tra­ten, ohne dass dadurch die Gewalt- und Todes­spi­ra­le durch­bro­chen wur­de. »Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind durch Gewalt zustan­de gekom­men«, schloss Aus­ter sei­nen Essay, »haben aber durch eine Vor­ge­schich­te, hun­dert­acht­zig Jah­re in unun­ter­bro­che­nem Krieg mit den Urein­woh­nern des Lan­des, das wir ihnen weg­ge­nom­men haben, sowie kon­ti­nu­ier­li­che Unter­drü­ckung unse­rer ver­sklav­ten Min­der­heit – die zwei Sün­den, die wir in die Revo­lu­ti­ons­zeit mit­ge­bracht und für die wir bis heu­te nicht gebüßt haben.« 11 Schluss­end­lich hat­te Aus­ter kein Pro­gramm zur Lösung des grund­le­gen­den Pro­blems: Weder eine restrik­ti­ve Waf­fen­kon­trol­le (die ver­mut­lich einen ille­ga­len Waf­fen­han­del beför­dern wür­de) noch ein unbe­schränk­ter Zugang zu Schuss­waf­fen wür­de dem Ver­häng­nis ein Ende berei­ten, da die Ursa­chen in der Geschich­te und in der kol­lek­ti­ven Psy­che Ame­ri­kas ver­gra­ben sind. Er las­se die Leser*innen nach der Lek­tü­re des Essays rat­los zurück, lau­te­te der wie­der­hol­te Vor­wurf der Kri­tik. »Aus­ter, einer der bes­ten Geschich­ten­er­zäh­ler der eng­li­schen Spra­che, erweist sich als sach­kun­di­ger und auf­ge­klär­ter Füh­rer, wäh­rend er durch die The­ma­tik mäan­dert«, kon­ze­dier­te Gary Younge in einer Rezen­si­on im Guar­di­an. »Aber sein Ver­säum­nis, ein Ziel zu anzu­zei­gen, geschwei­ge denn eines zu errei­chen, lässt den Leser wie zu Beginn ver­lo­ren und in einem Gefühl der Hoff­nungs­lo­sig­keit zurück.«12 Dabei ver­kennt der Rezen­sent jedoch das Wesen des Essays: Er »fängt nicht mit Adam und Eva an son­dern mit dem, wor­über er reden will«, insis­tier­te Ador­no; »er sagt, was ihm dar­an auf­geht, bricht ab, wo er sel­ber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr blie­be: so ran­giert er unter den Allo­tria.« In sei­nen Roma­nen agier­te Aus­ter, wie Chris Ward schrieb, als »Autor-Gott«, der Mann, der in sei­nem lite­ra­ri­schen Uni­ver­sum die Fäden zog und im Kos­mos des Zufalls die Figu­ren mit magi­schen Kunst­stü­cken durch die Kulis­sen schob.13 Trotz allem sind die lite­ra­ri­schen Wer­ke kei­nes­wegs post­mo­der­ne Spie­le­rei­en, son­dern – wie Adria­no A. Ted­de – in einer kri­ti­schen ame­ri­ka­ni­schen Tra­di­ti­on von Hen­ry David Tho­reau und Walt Whit­man ver­wur­zelt und hal­ten die uto­pi­sche Flam­me eines »ande­ren Ame­ri­kas« als Gegen­be­we­gung zum his­to­ri­schen Nie­der­gang von »Ronald zu Donald« seit den 1980er Jah­ren auf­recht.14 Als Essay­ist muss­te er sich an die Erkennt­nis­se des alten Meis­ters hal­ten: »All of old. Not­hing else ever. Ever tried. Ever Fai­led. No matter.Try again. Fail again. Fail bet­ter.«15 © Jörg Auberg 2024   Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Paul Aus­ter. Blood­bath Nati­on. Mit Fotos von Spen­cer Ost­ran­der. Über­setzt von Wer­ner Schmitz. Ham­burg: Rowohlt Ver­lag, 2024. 192 Sei­ten, 26 Euro. ISBN: 978–3‑498–00323‑4. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Blood­bath Nati­on © Rowohlt Ver­lag Film­pla­kat Law of the Lash © Pro­du­cers Releasing Cor­po­ra­ti­on Foto Mas­sen­grab in Woun­ded Knee © Nor­thwes­tern Pho­to Co., Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Black Pan­ther Demons­tra­ti­on © CIR Online, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Paul Aus­ter © Siri Hustvedt/Grove Atlan­tic Nach­wei­se Nic­coló Tuc­ci, »Com­mon­non­sen­se«, Poli­tics 2, Nr. 7 (Juli 1945):196 ↩ Cf. Richard Slot­kin, Rege­ne­ra­ti­on Through Vio­lence: The Mytho­lo­gy of the Ame­ri­can Fron­tier, 1600–1860  (1973; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); The Fatal Envi­ron­ment: The Myth of the Fron­tier in the Age of Indus­tria­liza­ti­on, 1800–1890 (1985; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); Gun­figh­ter Nati­on: The Myth of the Fron­tier in Twen­­tieth-Cen­­­tu­ry Ame­ri­ca  (1992; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 1998) ↩ Paul Aus­ter, Blood­bath Nati­on, übers. Wer­ner Schmitz (Ham­burg: Rowohlt, 2024), S. 10 ↩ Paul Aus­ter, The Inven­ti­on of Soli­tu­de (Lon­don: Faber & Faber, 1992), S. 35–44 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21 ↩ Chris­ti­ne Bold, »The Gunk, Gore and Hor­ror: Paul Aus­ter Con­fronts the Hard Facts of US Gun Law«, Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment, 24. März 2023, https://www.the-tls.co.uk/articles/bloodbath-nation-paul-auster-spencer-ostrander-book-review-christine-bold/ ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Der Essay als Form«, in: Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 18 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 83 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 70 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 159 ↩ Gary Younge, »US Gun Vio­lence Under the Micro­scope«, Guar­di­an, 11. Janu­ar 2023, https://www.theguardian.com/books/2023/jan/11/bloodbath-nation-by-paul-auster-review-a-response-to-the-us-gun-crisis ↩ Chris Ward, Rea­ding Paul Aus­ter (o. O.: Wis­dom Twin Books, 2023), S. 33 ↩ Adria­no A. Ted­de, Mar­gi­na­li­sa­ti­on and Uto­pia in Paul Aus­ter, Jim Jar­musch and Tom Waits: The Other Ame­ri­ca (Lon­don: Rout­ledge, 2022) ↩ Samu­el Beckett, Nohow On (Lon­don: John Cal­der, 1992), S. 101 ↩ […]
  • Aus den Archiven: Paul Auster — Travels in the ScriptoriumAus den Archi­ven: Paul Aus­ter — Tra­vels in the Scrip­to­ri­um7. Mai 2024Der Mensch und die Tex­te Über Paul Aus­ter und die Exer­zi­ti­en der Lite­ra­tur­kri­tik von Jörg Auberg Wie der Intel­lek­tu­el­le es macht, macht er es falsch«, heißt es in Ador­nos Mini­ma Mora­lia. Der Schrift­stel­ler (im Sartre’schen Sin­ne sei­nem Wesen nach ein Intel­lek­tu­el­ler, dem es um die Mit­tei­lung des Nicht-Mit­­teil­­ba­­ren »unter Aus­nut­zung des Anteils an Des­in­for­ma­ti­on, den die Gemein­spra­che ent­hält« geht) kann es kaum jeman­dem Recht machen – weder dem lesen­den Publi­kum noch den Kri­ti­kern. Gelang einem Autor einst der Gro­ße Wurf, wird er fort­hin immer dar­an gemes­sen und soll mit den Fol­ge­pro­duk­ten dem Erfolgs­re­zept für­der­hin fol­gen. Woo­dy Allen ist noch immer der »Stadt­neu­ro­ti­ker«, über den Kri­ti­ker und Publi­kum glei­cher­ma­ßen her­fal­len, wenn er den Erwar­tun­gen nicht gerecht wird. Paul Aus­ter reüs­sier­te nach Jah­ren einer lite­ra­ri­schen Schat­ten­exis­tenz vor fast zwan­zig Jah­ren mit der New York Tri­lo­gy und gilt seit­her als post­mo­der­ner Tricks­ter. Als er sich mit sei­nem letz­ten Buch, The Brook­lyn Fol­lies auf das Gebiet des eher kon­ven­tio­nel­len Geschich­ten­er­zäh­lens ohne post­mo­der­ne Taschen­spie­ler­tricks begab, zeig­te sich eine Pha­lanx pro­fes­sio­nel­ler Lite­ra­tur­kri­ti­ker ob des »fla­chen Rea­lis­mus« ent­täuscht. Mit sei­nem neu­en Buch Tra­vels in the Scrip­to­ri­um kehrt Aus­ter auf das mys­te­riö­se, tex­tu­ell inein­an­der ver­schränk­te Ter­rain frü­he­rer Jah­re zurück, und auch dies­mal fühlt sich das kri­ti­sche Gewer­be lite­ra­risch nicht befrie­digt. In Aus­ters Kurz­ro­man, der dem Andenken sei­nes im Jah­re 2004 gestor­be­nen Schwie­ger­va­ters Lloyd Hust­vedt, eines in aka­de­mi­schen Krei­sen bekann­ten Pro­fes­sors für Skan­di­na­vis­tik, gewid­met ist, sieht sich ein alter Mann – der Ein­fach­heit hal­ber »Mr. Blank« genannt – in einen Raum ohne eine Mög­lich­keit des Ent­kom­mens gesperrt und ist sich im Unkla­ren, wie er dort hin­ge­ra­ten sein könn­te. Das Zim­mer ähnelt einem Gefäng­nis mit All­tags­ge­gen­stän­den, die zur Iden­ti­fi­zie­rung Eti­ket­ten ihrer Objekt­be­schrei­bung tra­gen, wäh­rend »Mr. Blank« mit den Ver­falls­er­schei­nun­gen und tem­po­rä­ren Auf­wal­lun­gen sei­ner hin­fäl­li­gen Exis­tenz wie mit dem Ein­ge­sperrt­sein kämpft. Im Pro­zess des kul­tu­rel­len und sozia­len Alterns wird der Mensch – wie Jean Amé­ry bemerk­te — »zum Welt­fremd­ling und Kauz«, der aus sei­ner Zeit her­aus tritt, aber plötz­lich mit Anschul­di­gun­gen (die von der Ver­leum­dung bis zum Mord rei­chen) sich kon­fron­tiert sieht, die er nicht ver­steht, jedoch offen­bar ihre Ursa­che mit sei­nem Ver­hal­ten in sei­ner zurück­lie­gen­den Exis­tenz haben. Auf dem Schreib­tisch fin­det er ein frag­men­ta­ri­sches Manu­skript eines gewis­sen John Trau­se , in dem der Prot­ago­nist, Sig­mund Graf, als Spiel­fi­gur im Macht­spiel eines ima­gi­nä­ren Kon­fö­de­ra­ti­ons­staa­tes fun­giert, der sich in den »frem­den Ter­ri­to­ri­en« als Erfül­lungs­ge­hil­fe wider Wil­len miss­brau­chen lässt, erfolg­reich sei­ne »Mis­si­on« been­det und sich den fina­len Ret­tungs­schuss gibt, nach­dem er die Rän­ke­spie­le und sei­ne nai­ve Will­fäh­rig­keit durch­schaut hat. In einer klas­si­schen Aus­­­ter-Situa­­ti­on ist der Prot­ago­nist einer Viel­zahl dis­pa­ra­ter wie ambi­ger Tex­te, deren Ursprung einer­seits in der poli­ti­schen und sozia­len Rea­li­tät des aktu­el­len Ame­ri­kas und ande­rer­seits im lite­ra­ri­schen Kanon Aus­ters liegt. Natür­lich sind die Anspie­lun­gen auf Samu­el Beckett (als des­sen Her­aus­ge­ber Aus­ter bei den Gro­ve Cen­ten­ary Edi­ti­ons of Samu­el Beckett fun­giert) und Franz Kaf­ka augen­fäl­lig, doch ist »Mr. Blank« nicht ledig­lich ein post­mo­der­ner Wie­der­gän­ger des Namen­lo­sen oder der Figur K. Auch wenn man­ches an die Kon­stel­la­ti­on in Schlag­schat­ten (dem zwei­ten Teil der New York Tri­lo­gy) mit sei­nen auf denoma­li­sier­ten Figu­ren (»Blue«, »White«, »Brown« & »Black«) erin­nert, ist Mr. Blank kei­nes­wegs eine lee­re Chif­fre. Wie in The Brook­lyn Fol­lies beschäf­tigt sich Aus­ter mit dem phy­si­schen und psy­chi­schen Ver­fall im Lau­fe des fort­ge­schrit­te­nen Alters. Mit der Figur des Mr. Blank reflek­tiert Aus­ter selbst sein Älter­wer­den als Schrift­stel­ler, der vom Markt als Ver­mitt­ler zwi­schen Avant­gar­de und Enter­tain­ment in Beschlag genom­men wur­de und den Betrieb mit Pro­duk­ten belie­fer­te, die nun in der Bestands­auf­nah­me oder im exis­ten­zi­el­len Kas­sen­sturz auf den Urhe­ber zuwei­len bra­chi­al ein­wir­ken. Die Figu­ren aus frü­he­ren Roma­nen suchen den von »John Trau­se« mit sei­nem Text mal­trä­tier­ten »Mr..Blank« heim: Der Poli­zist James P. Flood, die Kran­ken­schwes­ter Anna Blu­me und Samu­el Farr ent­stie­gen dem Roman Im Land der letz­ten Din­ge, Peter Still­man und Dani­el Quinn (der Anklä­ger) tau­chen erst­mals in Stadt aus Glas auf; Mar­co Fogg und David Zim­mer gehö­ren zum Ensem­ble von Mond über Man­hat­tan und aus dem Buch der Illu­sio­nen; und schließ­lich wabert der Auster’sche Grund­ty­pus des Men­schen aus Tex­ten, Fans­ha­we (der sei­nen Ursprung in Natha­na­el Hawt­hor­nes gleich­na­mi­gem Roman hat) in die Figur des Ben­ja­min Sachs in Levia­than. Eine miss­lau­ni­ge Lite­ra­tur­kri­tik nimmt Aus­ter frei­lich die Indienst­nah­me alter Prot­ago­nis­ten übel. Für den Kri­ti­ker des Guar­di­an ist Aus­ters neu­es Buch nach dem öko­no­misch erfolg­rei­chen Roman The Brook­lyn Fol­lies aus dem letz­ten Jahr ledig­lich ein Rück­schritt in obsku­re Ter­ri­to­ri­en, wäh­rend sein Kol­le­ge von der Finan­cial Times das Buch eher als Bon­bon für die Aus­­­ter-Afi­ci­a­no­­dos sieht, die beim Lesen der eige­nen Cle­ver­ness sich ver­ge­wis­sern kön­nen. Ent­täuscht sind auch die Ama­teur­kri­ti­ker aus dem Ama­­zon-Uni­­ver­­­sum. So kann sich bei­spiels­wei­se ein Ama­zo­naut nicht des Ein­drucks erweh­ren, »dass hier nur alt­be­kann­te Ele­men­te recy­celt wer­den, um auf die Schnel­le ein paar Extra­dol­lar zu ver­die­nen«. Hier­bei schwingt ledig­lich ein altes Res­sen­ti­ment gegen die vor­geb­lich man­geln­de Ori­gi­na­li­tät der moder­nen Lite­ra­tur mit, deren Ver­we­bung mit der kapi­ta­lis­ti­schen Waren­ge­sell­schaft ihr ange­las­tet wird. Bereits den Dada­is­ten war­fen ihre kri­ti­schen Zeit­ge­nos­sen vor, an der Kunst sich zu ver­ge­hen, und spä­ter wur­de Wil­liam S. Bur­roughs, der in sei­nem volu­mi­nö­sen »work in pro­gress« eige­nes Mate­ri­al mit diver­sen ande­ren lite­ra­ri­schen Mate­ria­li­en ver­meng­te, regel­mä­ßig des Pla­gi­ie­rens gezie­hen. Der Ama­teur­kri­ti­ker kann nicht ver­ste­hen, dass ein Autor wie Aus­ter nicht vom Schrei­ben las­sen kann, jedoch kein der Welt ent­rück­ter und über den Din­gen ste­hen­der Lite­rat ist, wie ihn Hono­ré de Bal­zac mit der Figur des Dani­el d’Arthez in den Ver­lo­re­nen Illu­sio­nen ent­ge­gen den gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Rea­li­tä­ten ima­gi­nier­te. Die Fra­ge bleibt, inwie­weit der Autor – mitt­ler­wei­le selbst zur Ware im lite­ra­ri­schen Waren­um­schlag­platz der Spät- oder Post­mo­der­ne gewor­den – der »Kor­ri­si­ons­kraft der Ware« (Lothar Bai­er) sich ent­zie­hen kann. Noch mehr aber bleibt zwei­fel­haft, wo eine Kri­tik der Lite­ra­tur­kri­tik über­dau­ern kann, die über das blo­ße Kon­su­men­ten­be­wusst­sein der herr­schen­den Cha­rak­ter­mas­ken des Lite­ra­tur­be­trie­bes hin­aus­reicht, wäh­rend feis­te Ver­tre­ter des Gewer­bes über die media­len und öko­no­mi­schen Umschlag­plät­ze des Betrie­bes zie­hen und mit ihrer allent­hal­ben beschwo­re­nen »Ser­­vice-Men­­ta­­li­­tät« hau­sie­ren gehen, um noch die Res­te einer halb­wegs inte­ge­ren Lite­ra­tur­kri­tik zu ver­hö­kern. Daher sind Ärger­nis­se, wie sie Aus­ter dann und wann anbie­tet, über­aus not­wen­dig. Sie sind ein Affront gegen die geschwät­zi­ge Mit­teil­bar­keit, wie sie aus den Feuil­le­tons und Lite­ra­tur­sen­dun­gen plärrt. Zuerst erschie­nen in literaturkritik.de, Janu­ar 2007 © Jörg Auberg 2007/2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Paul Aus­ter. Tra­vels in the Scrip­to­ri­um. Lon­don: Faber & Faber, 2007. 144 Sei­ten, 9,99 UK-£. ISBN: 9780571232567. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Tra­vels in the Scrip­to­ri­um © Faber & Faber Cover New York Tri­lo­gy © Faber & Faber Cover City of Glass (Gra­phic Novel) © Faber & Faber Trai­ler City of Glass © fif­ty nine pro­duc­tions Aus­schnitt Lite­ra­ri­sches Quar­tett (Nr. 41, 22.02.1996) © ZDF […]
  • Digitalisierung von GegenmachtDigi­ta­li­sie­rung von Gegen­macht6. Mai 2024Digi­ta­li­sie­rung und Macht Intel­li­genz und Orga­ni­sa­ti­on in Zei­ten des digi­ta­len Kapi­ta­lis­mus   von Jona Lar­kin White Künst­li­che Intel­li­gen­zen, die Streiks vor­her­sa­gen (sol­len); digi­ta­le Über­wa­chung und Platt­form­ar­beit: Wie kann heut­zu­ta­ge gegen die­se Macht­in­stru­men­te vor­ge­gan­gen wer­den und wel­ches kön­nen die neu­en(?) Stra­te­gien zu einer gewerk­schaft­li­chen Orga­ni­sie­rung sein? Netz­werk­streiks, digi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­on und Sin­gu­la­ri­sie­rung Mit die­sen Fra­gen beschäf­tigt sich der Tran­­script-Sam­­mel­­band Digi­ta­li­sie­rung von Gegen­macht: Gewerk­schaft­li­che Kon­flikt­fä­hig­keit und Arbeits­kampf heu­te, in dem sie­ben wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen zu dem The­ma ver­öf­fent­licht sind. Her­aus­ge­ber des Ban­des sind der IG-Metal­­ler Fal­ko Blu­men­thal und Mar­tin Oppelt, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Lehr­stuhl für poli­ti­sche Theo­rie an der Uni­ver­si­tät Augs­burg. Der Groß­teil der elf Autor:innen des Sam­mel­ban­des wei­sen einen aka­de­mi­schen Hin­ter­grund auf und legen in ihren Tex­ten einen Schwer­punkt auf theo­re­ti­sche Begriffs­be­stim­mun­gen und Ein­ord­nun­gen in aktu­el­le For­schungs­stän­de. Es wer­den recht­li­che Fra­gen dar­über dis­ku­tiert, ob Netz­werk­streiks unter das Recht um Ver­samm­lungs­frei­heit fal­len, Chan­cen und Risi­ken der digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­on beleuch­tet und öffent­lich­keits­wirk­sa­me Arbeits­kämp­fe im Span­nungs­feld einer sin­gu­la­ri­sier­ten Gesell­schaft unter­sucht. Kri­ti­scher Exit-Punkt bei Start-up-Unter­neh­men Eine gro­ße Stär­ke des Wer­kes ist der kon­kre­te Bezug zu aktu­el­len Arbeits­kämp­fen wie den Auf­stän­den des Goril­las Workers Coll­ec­ti­ve oder die Kam­pa­gne im Jahr 2021 von der Basis­ge­werkt­schaft IWGB (Inde­pen­dent Workers’ Uni­on of Gre­at Bri­tain) gegen Deli­veroo. Auf­schluss­reich und lesens­wert für alle gewerk­schaft­lich inter­es­sier­ten Men­schen ana­ly­sie­ren Fran­zis­ka Coo­iman und Valen­tin Nie­b­ler die Struk­tu­ren von Start-up-Unter­­neh­­men, die sich vor allem durch Risi­ko­ka­pi­tal finan­zie­ren, das Poten­ti­al von Hyper­wachs­tum auf­wei­sen und das Ziel eines erfolg­rei­chen Exits ver­fol­gen (meist durch einen lukra­ti­ven Bör­sen­gang oder durch die Über­nah­me eines grö­ße­ren Unter­neh­mens). Ein Geschäfts­mo­dell, wie es nur zu häu­fig in der Platt­form­ar­beit und Lie­fer­dienst­bran­che zu fin­den ist und sich des­we­gen die Not­wen­dig­keit auf­tut, die Unter­neh­mens­struk­tu­ren zu begrei­fen und kri­ti­sche Punk­te in der Unter­neh­mens­ge­schich­te fest­zu­stel­len. So konn­te durch die öffent­lich­keits­wirk­sa­me IWGB-Kam­­pa­­g­ne 2021 genau zum Bör­sen­gang von Deli­veroo der Wert der Aktie beträcht­lich gesenkt wer­den.1 Beson­ders emp­feh­lens­wert ist wei­ter­hin der Arti­kel von Tim Lau­mann (ver.di-Mitglied und Brief­zu­stel­ler bei der Deut­schen Post), der sich mit Mög­lich­kei­ten der Streik­vor­her­sa­ge durch das Daten­sam­meln und Künst­li­che Intel­li­gen­zen (Pre­dic­ti­ve Risk Intel­li­gence) beschäf­tigt. In sei­nem 22-sei­­ti­­gen Bei­trag schil­dert er wei­ter­hin die Mecha­nis­men der Arbeits­ver­dich­tung bei der Deut­schen Post, die Durch­set­zungs­stra­te­gien durch digi­ta­le Über­wa­chung sowie einem Stab­li­ni­en­sys­tem und führt aus, wie gegen neue Metho­den auch alte Arbeits­kampf­mit­tel wie der Dienst nach Vor­schrift wir­ken kön­nen. Digi­ta­li­sie­rung von Gegen­macht ist der fünf­te Band der Rei­he Poli­tik der digi­ta­len Gesell­schaft vom Tran­script Ver­lag. Durch die Finan­zie­rung durch den Infor­ma­ti­ons­dienst Poli­tik­wis­sen­schaft (POLLUX) und zahl­rei­cher Uni­ver­si­täts­bi­blio­the­ken steht der Sam­mel­band hier in digi­ta­ler Ver­si­on kos­ten­frei zur Ver­fü­gung oder/und kann für 35 Euro in gedruck­ter Form erwor­ben wer­den. Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Mar­tin Oppelt / Fal­ko Blu­men­thal (Hg.). Digi­ta­li­sie­rung von Gegen­macht. Gewerk­schaft­li­che Kon­flikt­fä­hig­keit und Arbeits­kampf heu­te. Bie­le­feld: Tran­script Ver­lag, 2023. 180 Sei­ten, 35 Euro. ISBN: 978–3‑8376–6545‑1. Zuerst erschie­nen in Direk­te Akti­on, März 2024  Repu­bli­ka­ti­on mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der DA-Redak­­ti­on   Wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur (zusam­mee­en­ge­stellt von Jörg Auberg) Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Digi­ta­li­sie­rung von Gegen­macht © Tran­script Ver­lag Kari­ka­tu­ren The March of Intellect  © The Trus­tees of the Bri­tish Muse­um Foto Mobi­le Biblio­thek Archiv Jörg Auberg Nach­wei­se Wer an dem The­ma der Start-up-Unter­­neh­­mens­­struk­­tu­­ren in der Lie­fer­bran­che inter­es­siert ist, sei auch auf die Ver­öf­fent­li­chung „Riders unite!“ von Robin de Greef vom Buch­ma­che­rei Ver­lag hin­ge­wie­sen. ↩ […]

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Paul Austers Vermächtnis Ein nahezu klassischer Essay über Waffengewalt von Jörg Auberg Im Juli 1945, als der Zwei­te Welt­krieg noch im vol­len Gan­ge war, kon­sta­tier­te der ita­lie­ni­sche Emi­grant Nic­coló Tuc­ci in der New Yor­ker pazi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics: »Das Pro­blem ist nicht, wie man den Feind los­wird, son­dern eher, wie man den letz­ten Sie­ger los­wird. Denn was ist...

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Defining the Age — Daniel Bell, His Time and Ours

Defining the Age: Daniel Bell, His Time and Ours (Columbia University Press, 2022)

Verloren und abtrünnig   Daniel Bells Lamento einer verblassten Geschichte von Jörg Auberg Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Dani­el Bell (1919–2011) gilt als ein pro­to­ty­pi­scher Reprä­sen­tant der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len des 20. Jahr­hun­derts, der nicht nur den Weg von der »alten Lin­ken« in den 1930er Jah­ren zum Neo­kon­ser­va­tis­mus der Rea­gan-Ära beschritt, son­dern auch den...

Hommage an Cineaste

Cineaste: Ausgabe Frühjahr 2022 (47:2)

Kritik und Gegenöffentlichkeit Seit 1967 setzt die Zeitschrift Cineaste Massstäbe in der Filmpublizistik   von Jörg Auberg   »Kurz­um, der Film­kri­ti­ker von Rang ist nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denkbar.« Sieg­fried Kra­cau­er 1   Im Som­mer 1967 erschien die ers­te drei­ßig­sei­ti­ge Aus­ga­be der New Yor­ker Film­zeit­schrift Ciné­as­te (damals noch in der fran­zö­si­schen...

Joseph McBride — Billy Wilder: Dancing on the Edge

Joseph McBride: Billy Wilder: Dancing on the Edge (Columbia University Press, 2021)

Vom Zyniker zum Moralisten Joseph McBride und Noah Isenberg werfen einen neuen Blick auf das Werk Billy Wilders von Jörg Auberg In der klas­si­schen Film­ge­schichts­schrei­bung wird Bil­ly Wil­der immer wie­der als Zyni­ker eti­ket­tiert. In ihrer Geschich­te des Films (1962) sahen die bei­den Film­his­to­ri­ker Ulrich Gre­gor und Enno Pata­l­as in Fil­men wie The Seven Year Itch (1955), Some...

Karl Heinz Roth — Blinde Passagiere

Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere - Die Coronakrise und die Folgen (Verlag Antje Kunstmann, 2022)

Der Kampf geht weiter Karl Heinz Roth analysiert die Folgen der Corona-Krise   von Max Henninger Redak­tio­nel­le Vorbemerkung ach wie vor hat die Coro­na-Pan­de­mie den Pla­ne­ten fest im Griff, wobei nicht allein gesund­heits­po­li­ti­sche Fak­to­ren die mensch­li­che Exis­tenz bestim­men, son­dern zuneh­mend auch extre­mis­ti­sche Rackets und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche »Nar­ra­ti­ve«...

Helmut Böttiger — Die Jahre der wahren Empfindung

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung (Wallstein, 2021)

Das Verschwinden der Dialektik Helmut Böttigers »Jahre der wahren Empfindung«   von Jörg Auberg   »Wer nur etwas von Lite­ra­tur ver­steht, ver­steht auch davon nichts.« Lothar Bai­er 1 Die Erin­ne­rung an die lite­ra­ri­schen 1970er Jah­re in Deutsch­land ver­bin­det sich zum einen mit »Groß­schrift­stel­lern« wie Hein­rich Böll, Gün­ter Grass, Arno Schmidt oder Uwe John­son und zum...

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