Der Mensch und die Texte Über Paul Auster und die Exerzitien der Literaturkritik von Jörg Auberg Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch«, heißt es in Adornos Minima Moralia. Der Schriftsteller (im Sartre’schen Sinne seinem Wesen nach ein Intellektueller, dem es um die Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren »unter Ausnutzung des Anteils an Desinformation...
- Aus den Archiven: Paul Auster — Travels in the Scriptorium7. Mai 2024Der Mensch und die Texte Über Paul Auster und die Exerzitien der Literaturkritik von Jörg Auberg Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch«, heißt es in Adornos Minima Moralia. Der Schriftsteller (im Sartre’schen Sinne seinem Wesen nach ein Intellektueller, dem es um die Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren »unter Ausnutzung des Anteils an Desinformation, den die Gemeinsprache enthält« geht) kann es kaum jemandem Recht machen – weder dem lesenden Publikum noch den Kritikern. Gelang einem Autor einst der Große Wurf, wird er forthin immer daran gemessen und soll mit den Folgeprodukten dem Erfolgsrezept fürderhin folgen. Woody Allen ist noch immer der »Stadtneurotiker«, über den Kritiker und Publikum gleichermaßen herfallen, wenn er den Erwartungen nicht gerecht wird. Paul Auster reüssierte nach Jahren einer literarischen Schattenexistenz vor fast zwanzig Jahren mit der New York Trilogy und gilt seither als postmoderner Trickster. Als er sich mit seinem letzten Buch, The Brooklyn Follies auf das Gebiet des eher konventionellen Geschichtenerzählens ohne postmoderne Taschenspielertricks begab, zeigte sich eine Phalanx professioneller Literaturkritiker ob des »flachen Realismus« enttäuscht. Mit seinem neuen Buch Travels in the Scriptorium kehrt Auster auf das mysteriöse, textuell ineinander verschränkte Terrain früherer Jahre zurück, und auch diesmal fühlt sich das kritische Gewerbe literarisch nicht befriedigt. In Austers Kurzroman, der dem Andenken seines im Jahre 2004 gestorbenen Schwiegervaters Lloyd Hustvedt, eines in akademischen Kreisen bekannten Professors für Skandinavistik, gewidmet ist, sieht sich ein alter Mann – der Einfachheit halber »Mr. Blank« genannt – in einen Raum ohne eine Möglichkeit des Entkommens gesperrt und ist sich im Unklaren, wie er dort hingeraten sein könnte. Das Zimmer ähnelt einem Gefängnis mit Alltagsgegenständen, die zur Identifizierung Etiketten ihrer Objektbeschreibung tragen, während »Mr. Blank« mit den Verfallserscheinungen und temporären Aufwallungen seiner hinfälligen Existenz wie mit dem Eingesperrtsein kämpft. Im Prozess des kulturellen und sozialen Alterns wird der Mensch – wie Jean Améry bemerkte — »zum Weltfremdling und Kauz«, der aus seiner Zeit heraus tritt, aber plötzlich mit Anschuldigungen (die von der Verleumdung bis zum Mord reichen) sich konfrontiert sieht, die er nicht versteht, jedoch offenbar ihre Ursache mit seinem Verhalten in seiner zurückliegenden Existenz haben. Auf dem Schreibtisch findet er ein fragmentarisches Manuskript eines gewissen John Trause , in dem der Protagonist, Sigmund Graf, als Spielfigur im Machtspiel eines imaginären Konföderationsstaates fungiert, der sich in den »fremden Territorien« als Erfüllungsgehilfe wider Willen missbrauchen lässt, erfolgreich seine »Mission« beendet und sich den finalen Rettungsschuss gibt, nachdem er die Ränkespiele und seine naive Willfährigkeit durchschaut hat. In einer klassischen Auster-Situation ist der Protagonist einer Vielzahl disparater wie ambiger Texte, deren Ursprung einerseits in der politischen und sozialen Realität des aktuellen Amerikas und andererseits im literarischen Kanon Austers liegt. Natürlich sind die Anspielungen auf Samuel Beckett (als dessen Herausgeber Auster bei den Grove Centenary Editions of Samuel Beckett fungiert) und Franz Kafka augenfällig, doch ist »Mr. Blank« nicht lediglich ein postmoderner Wiedergänger des Namenlosen oder der Figur K. Auch wenn manches an die Konstellation in Schlagschatten (dem zweiten Teil der New York Trilogy) mit seinen auf denomalisierten Figuren (»Blue«, »White«, »Brown« & »Black«) erinnert, ist Mr. Blank keineswegs eine leere Chiffre. Wie in The Brooklyn Follies beschäftigt sich Auster mit dem physischen und psychischen Verfall im Laufe des fortgeschrittenen Alters. Mit der Figur des Mr. Blank reflektiert Auster selbst sein Älterwerden als Schriftsteller, der vom Markt als Vermittler zwischen Avantgarde und Entertainment in Beschlag genommen wurde und den Betrieb mit Produkten belieferte, die nun in der Bestandsaufnahme oder im existenziellen Kassensturz auf den Urheber zuweilen brachial einwirken. Die Figuren aus früheren Romanen suchen den von »John Trause« mit seinem Text malträtierten »Mr..Blank« heim: Der Polizist James P. Flood, die Krankenschwester Anna Blume und Samuel Farr entstiegen dem Roman Im Land der letzten Dinge, Peter Stillman und Daniel Quinn (der Ankläger) tauchen erstmals in Stadt aus Glas auf; Marco Fogg und David Zimmer gehören zum Ensemble von Mond über Manhattan und aus dem Buch der Illusionen; und schließlich wabert der Auster’sche Grundtypus des Menschen aus Texten, Fanshawe (der seinen Ursprung in Nathanael Hawthornes gleichnamigem Roman hat) in die Figur des Benjamin Sachs in Leviathan. Eine misslaunige Literaturkritik nimmt Auster freilich die Indienstnahme alter Protagonisten übel. Für den Kritiker des Guardian ist Austers neues Buch nach dem ökonomisch erfolgreichen Roman The Brooklyn Follies aus dem letzten Jahr lediglich ein Rückschritt in obskure Territorien, während sein Kollege von der Financial Times das Buch eher als Bonbon für die Auster-Aficianodos sieht, die beim Lesen der eigenen Cleverness sich vergewissern können. Enttäuscht sind auch die Amateurkritiker aus dem Amazon-Universum. So kann sich beispielsweise ein Amazonaut nicht des Eindrucks erwehren, »dass hier nur altbekannte Elemente recycelt werden, um auf die Schnelle ein paar Extradollar zu verdienen«. Hierbei schwingt lediglich ein altes Ressentiment gegen die vorgeblich mangelnde Originalität der modernen Literatur mit, deren Verwebung mit der kapitalistischen Warengesellschaft ihr angelastet wird. Bereits den Dadaisten warfen ihre kritischen Zeitgenossen vor, an der Kunst sich zu vergehen, und später wurde William S. Burroughs, der in seinem voluminösen »work in progress« eigenes Material mit diversen anderen literarischen Materialien vermengte, regelmäßig des Plagiierens geziehen. Der Amateurkritiker kann nicht verstehen, dass ein Autor wie Auster nicht vom Schreiben lassen kann, jedoch kein der Welt entrückter und über den Dingen stehender Literat ist, wie ihn Honoré de Balzac mit der Figur des Daniel d’Arthez in den Verlorenen Illusionen entgegen den gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten imaginierte. Die Frage bleibt, inwieweit der Autor – mittlerweile selbst zur Ware im literarischen Warenumschlagplatz der Spät- oder Postmoderne geworden – der »Korrisionskraft der Ware« (Lothar Baier) sich entziehen kann. Noch mehr aber bleibt zweifelhaft, wo eine Kritik der Literaturkritik überdauern kann, die über das bloße Konsumentenbewusstsein der herrschenden Charaktermasken des Literaturbetriebes hinausreicht, während feiste Vertreter des Gewerbes über die medialen und ökonomischen Umschlagplätze des Betriebes ziehen und mit ihrer allenthalben beschworenen »Service-Mentalität« hausieren gehen, um noch die Reste einer halbwegs integeren Literaturkritik zu verhökern. Daher sind Ärgernisse, wie sie Auster dann und wann anbietet, überaus notwendig. Sie sind ein Affront gegen die geschwätzige Mitteilbarkeit, wie sie aus den Feuilletons und Literatursendungen plärrt. Zuerst erschienen in literaturkritik.de, Januar 2007 © Jörg Auberg 2007/2024 Bibliografische Angaben: Paul Auster. Travels in the Scriptorium. London: Faber & Faber, 2007. 144 Seiten, 9,99 UK-£. ISBN: 9780571232567. Bildquellen (Copyrights) Cover Travels in the Scriptorium © Faber & Faber Cover New York Trilogy © Faber & Faber Cover City of Glass (Graphic Novel) © Faber & Faber Trailer City of Glass © fifty nine productions Ausschnitt Literarisches Quartett (Nr. 41, 22.02.1996) © ZDF […]
- Digitalisierung von Gegenmacht6. Mai 2024Digitalisierung und Macht Intelligenz und Organisation in Zeiten des digitalen Kapitalismus von Jona Larkin White Künstliche Intelligenzen, die Streiks vorhersagen (sollen); digitale Überwachung und Plattformarbeit: Wie kann heutzutage gegen diese Machtinstrumente vorgegangen werden und welches können die neuen(?) Strategien zu einer gewerkschaftlichen Organisierung sein? Netzwerkstreiks, digitale Kommunikation und Singularisierung Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Transcript-Sammelband Digitalisierung von Gegenmacht: Gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit und Arbeitskampf heute, in dem sieben wissenschaftliche Analysen zu dem Thema veröffentlicht sind. Herausgeber des Bandes sind der IG-Metaller Falko Blumenthal und Martin Oppelt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie an der Universität Augsburg. Der Großteil der elf Autor:innen des Sammelbandes weisen einen akademischen Hintergrund auf und legen in ihren Texten einen Schwerpunkt auf theoretische Begriffsbestimmungen und Einordnungen in aktuelle Forschungsstände. Es werden rechtliche Fragen darüber diskutiert, ob Netzwerkstreiks unter das Recht um Versammlungsfreiheit fallen, Chancen und Risiken der digitalen Kommunikation beleuchtet und öffentlichkeitswirksame Arbeitskämpfe im Spannungsfeld einer singularisierten Gesellschaft untersucht. Kritischer Exit-Punkt bei Start-up-Unternehmen Eine große Stärke des Werkes ist der konkrete Bezug zu aktuellen Arbeitskämpfen wie den Aufständen des Gorillas Workers Collective oder die Kampagne im Jahr 2021 von der Basisgewerktschaft IWGB (Independent Workers’ Union of Great Britain) gegen Deliveroo. Aufschlussreich und lesenswert für alle gewerkschaftlich interessierten Menschen analysieren Franziska Cooiman und Valentin Niebler die Strukturen von Start-up-Unternehmen, die sich vor allem durch Risikokapital finanzieren, das Potential von Hyperwachstum aufweisen und das Ziel eines erfolgreichen Exits verfolgen (meist durch einen lukrativen Börsengang oder durch die Übernahme eines größeren Unternehmens). Ein Geschäftsmodell, wie es nur zu häufig in der Plattformarbeit und Lieferdienstbranche zu finden ist und sich deswegen die Notwendigkeit auftut, die Unternehmensstrukturen zu begreifen und kritische Punkte in der Unternehmensgeschichte festzustellen. So konnte durch die öffentlichkeitswirksame IWGB-Kampagne 2021 genau zum Börsengang von Deliveroo der Wert der Aktie beträchtlich gesenkt werden.1 Besonders empfehlenswert ist weiterhin der Artikel von Tim Laumann (ver.di-Mitglied und Briefzusteller bei der Deutschen Post), der sich mit Möglichkeiten der Streikvorhersage durch das Datensammeln und Künstliche Intelligenzen (Predictive Risk Intelligence) beschäftigt. In seinem 22-seitigen Beitrag schildert er weiterhin die Mechanismen der Arbeitsverdichtung bei der Deutschen Post, die Durchsetzungsstrategien durch digitale Überwachung sowie einem Stabliniensystem und führt aus, wie gegen neue Methoden auch alte Arbeitskampfmittel wie der Dienst nach Vorschrift wirken können. Digitalisierung von Gegenmacht ist der fünfte Band der Reihe Politik der digitalen Gesellschaft vom Transcript Verlag. Durch die Finanzierung durch den Informationsdienst Politikwissenschaft (POLLUX) und zahlreicher Universitätsbibliotheken steht der Sammelband hier in digitaler Version kostenfrei zur Verfügung oder/und kann für 35 Euro in gedruckter Form erworben werden. Bibliografische Angaben: Martin Oppelt / Falko Blumenthal (Hg.). Digitalisierung von Gegenmacht. Gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit und Arbeitskampf heute. Bielefeld: Transcript Verlag, 2023. 180 Seiten, 35 Euro. ISBN: 978–3‑8376–6545‑1. Zuerst erschienen in Direkte Aktion, März 2024 Republikation mit freundlicher Genehmigung der DA-Redaktion Weiterführende Literatur (zusammeeengestellt von Jörg Auberg) Bildquellen (Copyrights) Cover Digitalisierung von Gegenmacht © Transcript Verlag Karikaturen The March of Intellect © The Trustees of the British Museum Foto Mobile Bibliothek Archiv Jörg Auberg Nachweise Wer an dem Thema der Start-up-Unternehmensstrukturen in der Lieferbranche interessiert ist, sei auch auf die Veröffentlichung „Riders unite!“ von Robin de Greef vom Buchmacherei Verlag hingewiesen. ↩ […]
- Guy de Maupassant: Claire de Lune27. März 2024Der Verlorene Guy de Maupassant und die Tortur der Seele von Jörg Auberg In Raymond Jeans Roman La Lectrice (1986, dt. Die Vorleserin) versucht die arbeitslose Ex-Studentin Marie-Constance1, mit der Gründung einer Ich-AG als Vorleserin in einer französischen Kleinstadt sich zu etablieren. Ihr ehemaliger Professor Roland empfiehlt ihr für ihr »Metier« die Verwendung der Novellen Guy de Maupassants. Als Beispiel nennt Roland Maupassants »Greuelmärchen« Die Hand: »Das wirkt garantiert!« Ruft er aus. »Die bekannte Masche, meinetwegen, einfache Effekte, etwas dick aufgetragen … aber das kommt an. So einen Text mußt du nehmen, wenn du dir ein Publikum schaffen willst, einen guten französischen Autor mit sicherem Stellenwert, einen, der wußte, wie man Spannung schafft und thrilling … da geht jeder mit …«2 Der erste Kunde der Vorleserin ist der jugendliche Eric, der während der ersten Maupassant-Lektüre das Bewusstsein verliert und ins Krankenhaus transportiert werden muss, wo die Vorleserin mit den Vorwürfen eines anderen Professors konfrontiert wird: »Maupassant, sagt er, Maupassant … Wissen Sie, woran der gestorben ist? Aids! Na schön, zu seiner Zeit sprach man von Gehirnentzündung – das ist genau das, was Sie fast bei dem Jungen ausgelöst hätten. Finden Sie nicht, daß er schon genug leidet?« Trotz allem hat er Verlangen nach einer Fortsetzung: »Er liebt ja die Lektüre so sehr!«3 Im Labyrinth der Empfindungen und Erschütterung uch in dem von dem renommierten Übersetzer Andreas Nohl im Rahmen der Reihe »Steidl Nocturnes« herausgegebenen Band Clair de Lune ist die Erzählung Die Hand aufgenommen, deren narrative Philosophie als Ingenium des erzählerischen Projekts Maupassants begriffen werden kann, das der Autor als Erbe seines Mentors Gustave Flaubert übernommen hatte. In seinem knappen, konzisen Nachwort führt Nohl aus: Der sachliche Blick des Schriftstellers, der sich nicht zum Innenleben seines Personals äußert, soll die emotionale Wucht des Erzählten kommentarlos und uneingeschränkt dem Text zukommen lassen und damit die Wirkung um eine ganze Dimension erhöhen . Die scheinbare ›Kälte‹ des Erzählers soll die Leser umso tiefer in das Labyrinth der Empfindungen und der Erschütterung locken.4 Der Band mit dem Untertitel »Unheimliche Novellen« versammelt neun Erzählungen Maupassant aus den Jahren von 1885 bis 1890, in der sich – im Gegensatz zur Fortschrittsbegeisterung der Belle Époque – Maupassants Wahrnehmung der Verschränkung von Industrialismus, wissenschaftlicher Rationalität und imperialer Politik zunehmend pessimistischer wurde, wobei auch familiäre Entwicklungen wie der geistige Verfall seiner Mutter und seines Bruders Hervé und eigene gesundheitliche Probleme (die unter anderem auf eine syphilitische Infektion zurückgingen) eine Rolle spielten. In der Tradition von Edgar Allan Poe und den »Erzählungen des Grauens und des Selbstverlusts«5 steht die Novelle Der Horla (zunächst 1886 in der Feuilleton-Zeitschrift Gil Blas erschienen und ein Jahr später in einer überarbeiteten Fassung in einer Buchausgabe publiziert), in der ein namenloser Erzähler aus Rouen in der französischen Provinz der Normandie in Form eines Tagebuches seine psychische Verschlechterung protokolliert. »Ich bin wirklich krank«, heißt es in einem frühen Tagebucheintrag, der an das einführende Selbstbekenntnis von Dostojewskis Untergrundmenschen erinnert, obgleich Maupassants Kranker keineswegs kein frustrierter Zyniker ist, sondern anfangs zufrieden mit sich und der Welt in einem großbürgerlichen Haus mit Garten wohnt, in dem ihn das Unheil zu überfallen scheint.6 Die physische Krankheit, die sich nach außen hin als Fieber materialisiert, dringt als fiebrige Erschöpfung ins Innere der Psyche. Zur Erholung unternimmt der Erzähler eine Reise nach Mont-Saint-Michel, wo er einen Mönch trifft, der ihm in einer Unterhaltung das Wesen des unsichtbaren »Unfassbaren« vor Augen führt: Der »Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gesehen und können Sie ihn sehen? Und trotzdem ist er doch da.« Nach seiner Rückkehr liegt der Erzähler angsterfüllt in seinem Bett und spürt, wie die Krankheit zurückkehrt, »wie jemand auf mir saß, seinen Mund auf meinen gepresst, und zwischen den Lippen das Leben aus mir heraussog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blutegel. Danach stand er gesättigt auf, und ich erwachte, so zerschunden, zerschlagen, vernichtet, dass ich mich nicht mehr rühren konnte.«7 Immer mehr verliert sich der Erzähler in der Gewalt des »Horla« (des »Hors-la«, »der da draußen«), der ihn in den Wahnsinn treibt. »Ich bin verloren«, gesteht er sich ein. »Jemand hat von meiner Seele Besitz ergriffen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich tue, alle meine Bewegungen, alle meine Gedanken, ich gehöre mir nicht mehr, ich bin nur ein gesselter Zuschauer und sehe alles alles, was ich tue, mit Entsetzen an.«8 Weder Gitter noch eiserne Jalousien können den Horla draußen halten, sodass als einzige Möglichkeit bleibt, das geliebte Haus in Flammen aufgehen zu lassen, um den Horla zu vertreiben. Doch selbst diese Maßnahme ist zum Scheitern verurteilt, da der Horla von der menschlichen Seele Besitz ergriffen hat. Der letzte Ausweg, den Horla zu besiegen, ist einzig die eigene Auslöschung – der Suizid. Vom Horla zum Terror m Nachwort zur neuen Reclam-Ausgabe der Novelle interpretiert der Übersetzer Ernst Sander (1898–1976) die Erzählung im Kontext von Maupassants familiärer und persönlicher Krankheitsgeschichte. Äußerlich erschien Maupassant als der erfolgreiche, produktive Autor, der auf eine Schreibleistung von sechs Romanen und fast dreihundert Erzählungen zurückblicken konnte, ehe (mit den Worten Julian Barnes’) »die Syphilis seinen Geist umnachtete«9. »In Wirklichkeit aber war Maupassant«, schreibt Sander, »ein Kranker, der den Gesunden spielte, und sein sinnenfreudiges Werk auf einem Grund von Körperqual, Unlust, Müdigkeit, Unglauben und Angstzuständen gediehen, zu denen sich Abnahme der Sehkraft, qualvolle Migräne und schließlich Wahnvorstellungen gesellten. Aber diese machte er seinem Werk dienstbar: So entstand eine seiner mächtigsten Novellen, Le Horla .«10. Die aufwändige Reclam-Ausgabe der Horla-Novelle ist mit Fantasy-inspirierten Illustrationen des italienischen Zwillingspaars Anna und Elena Balbusso bestückt, welche die bürgerlichen »Horrorgeschichte« mit einem farbig-grellen, sensationsheischenden Comic-Surrealismus übertünchen, unter dem das Grauen der Erzählung Maupassants verschwindet. Dem Charakter der Novelle kommen eher die Holzschnitte Frans Masereels nahe, wie die alte Ausgabe bei Rütten & Loening unter Beweis stellt.11 n der kulturindustriellen Praxis geriet der Horla schon Anfang der 1960er Jahre zum farbigen Gräuelmärchen als Vehikel für den Horrorspezialisten Vincent Price, der in Roger Cormans B‑Film-Fabrik vor allem in Edgar-Allan-Poe-Verschnitten reüssierte. Der Film Diary of a Madman (1963; dt. Tagebuch eines Mörders) verhackstückte Maupassants Novelle zu einem typischen Horrorfilm minderer Güte, wobei die gängigen Ingredienzien jener Zeit verrührt wurden. Der Horla ist ein Mabuse-ähnlicher Dämon, der sein Opfer in Besitz nimmt und zum Mord treibt. Das Unheil offenbart sich in grün leuchtenden Augen, wobei der Horla nicht mehr als eine erstarrte, von Stereotypen der Industrie gezeichnete Maske ist. Vom Horla, den Maupassants Erzähler nach seiner Selbstzerstörung als neues Wesen, als neuen Herren beschreit, bleibt in der industriellen Zurichtung nur eine Fratze des Immergleichen. © Jörg Auberg 2024 Bibliografische Angaben: Guy de Maupassant. Claire de Lune. Unheimliche Novellen (Steidl Nocturnes). Übersetzt von Charlotte Braun-Wogan u. a. Herausgegeben von Andreas Nohl. Göttingen: Steidl Verlag, 2023. 128 Seiten, 18 Euro. ISBN: 978–3‑86841–255‑0. Guy de Maupassant. Der Horla. Übersetzt mit einem Nachwort von Ernst Sander. Illustriert von Anna und Elena Balbusso. Ditzingen: Reclam, 2023. 80 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑15–011456‑8. Bildquellen (Copyrights) Cover Claire de Lune © Steidl Verlag Cover Der Horla © Reclam Verlag Szenenfoto La Lectrice Archiv des Autors Cover Gil Blas Archiv des Autors Holzstich Frans Masareel: Der Horla © Rütten & Loening/Aufbau Verlag Trailer Diary of a Madman Archiv des Autors Nachweise Der Name der Protagonistin des Romans spielt auf Marie-Constance Quesnet an, die letzte Gefährtin des Marquis de Sade, die im Testament des Marquis für ihre Treue und Hingabe belohnt werden sollte. Cf. Raymond Jean, Ein Portrait des Marquis de Sade, übers. Nicolaus Bornhorn (München: Schneekluth, 1990), S. 6–7 ↩ Jean, Die Vorleserin, S. 16 ↩ Jean, Die Vorleserin, S. 43 ↩ Andreas Nohl, Nachwort zu: Guy de Maupassant, Clair de Lune (Göttingen: Steidl, 2023), S. 117 ↩ Nohl, Nachwort zu: Guy de Maupassant, Clair de Lune, S. 120 ↩ Maupassant, Clair de Lune, S. 34; Fjodor M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, übers. Ursula Keller (München: Manesse, 2021), S. 9 ↩ Maupassant, Clair de Lune, S. 40 ↩ Maupassant, Clair de Lune, S. 54 ↩ Julian Barnes, Nachwort (übersetzt von Gertraude Krueger) zu: Guy de Maupassant, Auf See (Hamburg: mareverlag, 2012), S. 195 ↩ Ernst Sander, Nachwort zu: Der Horla (Ditzingen: Reclam, 2023), S. 76–77 ↩ Guy de Maupassant, Der Horla: Zehn Novellen, übers. Christel Gersch (Berlin/DDR: Rütten & Loening, 1989 ↩ […]